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Das Coronajahr in Monaten.
© Gestaltung: Tagesspiegel • Fotos: Fotos: picture alliance/dpa, Imago Images, Getty Images

Teil 3 Rückblick auf das Jahr des Coronavirus: Die Genetik der Krankheit, ihre Wirkungen und die Suche nach dem Ursprung

Besonders gefährdete Gruppen werden erkannt, das Virus wandelt sich und Impfungen sollen die Pandemie beenden.

Zwölf Monate, in denen wir das Virus kennenlernten: Nie zuvor hat die Wissenschaft so schnell so viel über einen neuartigen Erreger gelernt. Doch noch immer wissen wir viel zu wenig. In einer dreiteiligen Chronik zeichnen wir die Erkenntnisfortschritte zum Coronavirus Sars-CoV-2 und Covid-19 nach.

In diesem dritten Teil lesen Sie die Monate von September bis Dezember, in denen wichtige Fortschritte im Kampf gegen die Pandemie gemacht wurden. Teil Eins mit den Monaten Januar bis April findet sich hier. Teil Zwei mit Mai bis August hier.

SEPTEMBER: Gene bestimmen mit, wer schwer an Covid-19 erkrankt

Schon früh zeichnet sich bei Covid-19 ab, dass es neben hohem Alter weitere Risikofaktoren für einen schweren Verlauf gibt: männliches Geschlecht, Übergewicht, die Vorerkrankung Diabetes und Bluthochdruck. Diese Merkmale haben Grundlagen im Erbgut der Menschen. Und es gibt weitere genetische Faktoren, die weniger deutlich in Erscheinung treten, aber den Unterschied zwischen einem milden und einem tödlichen Verlauf ausmachen können.

Ende September berichten Forschende im Wissenschaftsjournal „Science“, dass schwere Verläufe mit Schwachstellen im Immunsystem der Patienten zusammenhängen können. Eine Reihe von Genen ist an den Reaktionen beteiligt, die ablaufen, wenn Krankheitserreger den Organismus befallen.

Dazu gehören Gene, die die Bauanleitung für Interferone enthalten. Diese Substanzen sind an der Steuerung der Körperabwehr beteiligt. Wenn Erreger erkannt werden, rufen sie die Abwehrkräfte auf den Plan. Zwei Forschungsteams um Jean-Laurent Casanova von der Rockefeller University beginnen bereits im Februar weltweit junge Personen zu suchen, die schwer an Covid-19 erkrankt sind. Sie untersuchen das Erbgut von mehr als 3000 Betroffenen auf Veränderungen von Interferon-Genen.

Lesen Sie unsere weiteren Teile des Rückblicks auf das Jahr des Coronavirus:

Es zeigt sich, dass mindestens 3,5 Prozent der schwer Covid-19-Erkrankten veränderte, mutierte Varianten von Interferon-Genen haben. Genetische Merkmale können den klinischen Verlauf der Infektion bestimmen, schließen die Forschenden.

Modelle: Die Hülle von Sars-CoV-2 ist mit Stacheln bedeckt, mit denen das Virus an menschliche Zellen andockt. Das Spike- oder Stachelprotein (Vordergrund) dient als Angriffsstelle für Antikörper.
Modelle: Die Hülle von Sars-CoV-2 ist mit Stacheln bedeckt, mit denen das Virus an menschliche Zellen andockt. Das Spike- oder Stachelprotein (Vordergrund) dient als Angriffsstelle für Antikörper.
© AFP

Dass das Fehlen von Interferonen den Organismus anfälliger für Sars-CoV-2 machen kann, führt sie zur Vermutung, dass andere schwer Erkrankte ebenfalls keine Interferone haben, auch wenn die codierenden Gene funktionieren. Bei mehr als zehn Prozent der Studienpatienten findet das Team Antikörper im Blut, die gegen die körpereigenen Substanzen gerichtet sind.

Die Antikörper blockieren zwei Typen von Interferonen und sind bei Patienten mit milden Verläufen der Infektion und bei Gesunden nicht nachweisbar. Fast alle der Patienten mit den schädlichen Antikörpern sind Männer.

Ursachen könnten Veränderungen von Genen auf dem X-Chromosom sein, von dem Männer nur eine Kopie haben. Frauen haben zwei, sodass bei Defekten auf einem Chromosom das andere die Aufgaben übernehmen kann. Die Studie erklärt damit auch einen Grund dafür, dass Männer häufiger schwer erkranken als Frauen.

OKTOBER: Das stetig mutierende Virus

Seit Beginn der Pandemie verfolgen Forscher, wie sich Sars-CoV-2 allmählich verändert. Denn wie bei jedem Virus entstehen ständig neue Varianten, bei jeder Vermehrung in einem Infizierten. Sie unterscheiden sich durch Mutationen im Virus-Erbgut. Forscher nutzen diesen Umstand wie einen genetischen Fingerabdruck.

So können sie anhand der genetischen Signatur der Viren, die etwa im österreichischen Skiort Ischgl kursierten, nachverfolgen, in welche Länder sie mit den heimkehrenden Skiurlaubern verschleppt wurden. Taucht in Norwegen plötzlich die „Ischgl-Signatur“ auf, ist klar, woher das Virus kommt, auch ohne Kenntnis des Skiurlaubers.

Die meisten Mutationen verändern die Eigenschaften des Virus nicht. Die Varianten infizieren also Menschen nicht leichter oder machen sie kränker. Doch im Oktober wurden Forscher zum ersten Mal nervös, als bekannt wurde, dass Sars-CoV-2 in den Niederlanden und in Dänemark vom Menschen auf Nerze übergesprungen war. Dort werden die Tiere für die Pelzproduktion gehalten und infizierten sich wohl bei ihren Züchtern.

Im Zuge solcher Wirtswechsel häufen sich Mutationen. Tatsächlich fanden sich fünf Veränderungen im Erbgut, darunter zwei im Gen für das wichtige S-Protein – den „Stachel“, mit dem die Viren in die Zellen eindringen. Doch Experten schlossen aus, dass diese – inzwischen nicht mehr kursierende – Virusvariante infektiöser oder auf andere Weise aggressiver für den Menschen sei.

Das ist bei der in Großbritannien seit mindestens 20. September kursierenden Virusvariante B.1.1.7 offenbar anders. Binnen weniger Monate hat sie sich im Großraum London und im Süden und Südosten Großbritanniens schneller verbreitet als andere Varianten. Zwar kann das auch Folge einer Reihe von Superspreading-Events sein. Doch Analysen zufolge könnte es auch mit einer tatsächlich erhöhten Infektiosität der Variante zusammen hängen. Auch in Deutschland ist die Variante mittlerweile nachgewiesen.

Eine höhere Infektiosität kann zu mehr Erkrankungen und somit auch mehr Todesopfern führen. Aber die britische Virusvariante – und auch eine ähnliche, aber nicht verwandte in Südafrika – ist mithilfe der gleichen Hygiene- und Abstandsregeln eindämmbar wie das ursprüngliche Sars-CoV-2. Außerdem versichern die Impfstoffhersteller Biontech und Moderna, dass ihre Vakzine auch vor dieser Virusvariante schützen.

Erste Impfungen: In den USA wird eine Notärztin mit dem Präparat von Pfizer-Biontech geimpft.
Erste Impfungen: In den USA wird eine Notärztin mit dem Präparat von Pfizer-Biontech geimpft.
© Brian Snyder/Reuters POOL/dpa

NOVEMBER: Worauf die Impfstoffe zielen

Im November wird etwas immer wahrscheinlicher, das noch im April als nahezu unmöglich galt: Nach höchsten Standards – anders als etwa der früh eingesetzte russische „Sputnik V“ – geprüfte Impfstoffe könnten noch in diesem Jahr zugelassen werden

Über das Jahr hatte man immer wieder Warnungen gehört. Man dürfe trotz allen Drucks keine Abkürzungen in der klinischen Erprobung nehmen. Zudem könnten selbst in frühen Testphasen vielversprechende Vakzine in der entscheidenden Phase 3 der klinischen Erprobung enttäuschen oder inakzeptable Nebenwirkungen zeigen. Dazu mischte sich Skepsis angesichts der recht einseitigen molekularen Zielsetzung der Vakzin-Erfinder.

Fast alle konzentrieren sich auf ein einziges charakteristisches Protein in der Virenhülle. Jenes „Spike“- oder kurz „S-Protein“ ist aber nur eine von vier solcher Eiweißstrukturen, die Sars-CoV-2 ein für das Immunsystem potenziell wiedererkennbares Aussehen verleihen. Gegen ein anderes dieser vier, N-Protein genannt, werden meist sogar deutlich mehr Antikörper produziert, obwohl es eigentlich eher versteckt in der Virenhülle sitzt.

Auch dieses Mysterium ist ein Grund dafür, dass sich fast alle auf das vergleichsweise riesige S-Protein konzentrieren – trotz vereinzelter Warnungen von Fachleuten, das Virus könne genau am S-Protein mutieren. Impfstoffe, die sich nur an dessen ursprünglich bekannten Versionen orientierten, könnten so weniger oder gar nicht mehr wirksam sein.

Jetzt, gegen Ende des Jahres, stellt sich heraus, dass der Fokus auf das große, für Immunzellen und Antikörper gut sichtbare Molekül offenbar gerechtfertigt war. Die Daten der am weitesten fortgeschrittenen Studien mit den Impfstoffen der Firmen AstraZeneca, Moderna und Biontech-Pfizer zeigen hohe Schutzwirkung.

Trotzdem bestätigt sich auch die Befürchtung, dass Mutationen das Spike-Protein betreffen könnten. Denn dieses ist, auch ganz ohne Impfstoff, entscheidend für die Fähigkeit des Virus, Zellen zu infizieren. Eine virale „Innovation“, die das S-Protein effektiver, das Virus infektiöser macht, hat gute Chancen, sich durchzusetzen. Die neuen Varianten, die im Dezember aus Großbritannien und Südafrika bekannt werden, unterscheiden sich unter anderem genau hier.

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Derzeit spricht zwar viel dafür, dass die Impfstoffe auch gegen diese gut wirksam bleiben werden. Doch für weitere eventuell auftretende oder längst im Umlauf befindliche Mutationen muss das nicht unbedingt gelten. Das ist einer der Gründe, warum trotz Impfstoff weiterhin versucht werden muss, die Verbreitung der Viren so gut wie möglich zu behindern.

Denn auch ein hochgefährlich mutiertes Virus hat nur dann eine Chance, sich zu verbreiten, wenn man ihm die Chance dazu gibt. Sitzt es nur in Personen, die gut isoliert sind und die niemanden anstecken, kann es wieder komplett verschwinden. Und selbst wenn sich eine Variante verbreiten sollte, gegen die die Impfstoffe weniger gut wirken, wäre es möglich, die Vakzine anzupassen. Und auch etwa beim N-Protein gibt es mittlerweile neue Erkenntnisse, die helfen könnten, Impfstoffe zu entwickeln, die nicht alleine von jenem einen molekularen Ziel abhängig sind.

Dieser jetzt geschlossene Markt für Meeresfrüchte und Wildtiere in Wuhan gilt als Ursprungsort der Pandemie.
Dieser jetzt geschlossene Markt für Meeresfrüchte und Wildtiere in Wuhan gilt als Ursprungsort der Pandemie.
© imago images/Kyodo News

DEZEMBER: Der Ursprung der Pandemie

Die Spuren führen nach Wuhan. Die Gesundheitsbehörden der Hauptstadt der chinesischen Provinz Hubei melden am 31. Dezember 2019 eine Häufung von Lungenentzündungen. Die World Health Organization (WHO) nimmt die Nachricht auf und am 5. Januar rückt das später Sars-CoV-2 genannte Virus mit einer Veröffentlichung in der Fachzeitschrift „Disease Outbreak News“ auf die wachsende Liste neuer Erreger, die Menschen infizieren können.

Unter den ersten Erkrankten sind Menschen, die den Huanan-Großmarkt regelmäßig besuchen oder dort arbeiten. Auf dem Markt werden Meeresfrüchte, aber auch Wild- und Zuchttierarten lebend oder geschlachtet verkauft oder zum Verzehr zubereitet. Das Virus könnte auf dem Markt von einem der Tiere auf einen Menschen übergesprungen sein. Proben, die noch im Dezember auf dem Gelände genommen werden, werden positiv auf Sars-CoV-2 getestet, was ein weiterer Hinweis auf den Markt als Quelle des Ausbruchs ist.

Doch schon früh gibt es Zweifel an dieser Theorie, weil nicht alle Patienten auf dem Markt waren. Zudem werden bereits im Januar genetisch unterschiedliche Varianten des Virus beschrieben, deren gemeinsamer Vorfahr schon früher existiert haben müsste. Es erscheint plausibel, dass ein Mensch, der sich andernorts angesteckt hat, das Virus erst zum Markt brachte. Weitere Spurensuche vor Ort wäre hilfreich. Doch der Markt wird am 1. Januar 2020 geschlossen, das Gelände geräumt und desinfiziert.

Zu wissen, wo eine Pandemie ihren Ursprung nahm, ist wichtig, um weitere Ansteckungen von Menschen auf dem gleichen Weg zu verhindern. Es hilft auch zu verstehen, wie sich Ausbrüche entwickeln und wie am besten darauf reagiert werden könnte.

Genetische Untersuchungen zeigen, dass Sars-CoV-2 eng mit Coronaviren verwandt ist, die unter Hufeisennasen-Fledermäusen verbreitet sind. Mittlerweile hat sich durch Mutationen eine große Zahl von Varianten entwickelt, aber ursprünglich sind die Viren einander sehr ähnlich. Das deutet auf ein einzelnes Ereignis, bei dem es Ende 2019 auf den neuen Wirt Mensch übersprang. Überträger war dabei vermutlich nicht eine Fledermaus, sondern ein Zwischenwirt wie etwa Larvenroller oder Marderhund.

Wie es sich genau zugetragen hat soll eine Expertenkommission der WHO weiter untersuchen. Doch aufgrund politischer Spannungen zwischen China und den USA verstreicht viel Zeit ungenutzt. Das Team mit Expertise in Epidemiologie, Virologie und Veterinärmedizin soll in Wuhan beginnen und seine Suche dann ausweiten, etwa um die Wege zu verfolgen, auf denen Wildtiere zum Markt gelangen. Die erste Lehre aus dem Unterfangen dürfte die Bestätigung sein, das es hilfreich ist, früh mit der Suche anzufangen.

Eine weitere Erkenntnis: Um das Risiko von Zoonosen – also Tierkrankheiten, die auf den Menschen überspringen – zu begrenzen, müssen Menschen vorsichtiger in ihrem Umgang mit Tieren und deren natürlichen Lebensräumen sein. Je enger der Kontakt von Mensch und Wildtier, je weiter Menschen in die Lebensräume eindringen, umso wahrscheinlicher werden Übersprünge.

In den letzten Jahrzehnten verzeichnet die WHO zunehmend neue Zoonosen, zwei von drei neuen Krankheiten gehören zu dieser Gruppe. Vogelgrippe, Ebola, Influenza, Lepra, Lassa-Fieber, Mers, Tollwut, Sars, Tuberkulose, Zika-Fieber sind bekannte Vertreter. Zum Jahresende warnt WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus noch einmal eindringlich: Wenn wir weitermachen wie bisher, werde Covid-19 nur der Anfang gewesen sein.

Teil Eins mit den Monaten Januar bis April findet sich hier. Teil Zwei mit Mai bis August hier.

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