Teil 2 Rückblick auf das Jahr des Coronavirus: Kinder im Infektionsgeschehen - und explosive Verbreitungsereignisse
Wer treibt die Pandemie? Im Frühsommer werden Superspreading-Events erkannt - und die Debatte um die Infektiosität von Kindern entbrennt.
Zwölf Monate, in denen wir das Virus kennenlernten: Nie zuvor hat die Wissenschaft so schnell so viel über einen neuartigen Erreger gelernt. Doch noch immer wissen wir viel zu wenig. In einer dreiteiligen Chronik zeichnen wir die Erkenntnisfortschritte zum Coronavirus Sars-CoV-2 und Covid-19 nach.
In diesem zweiten Teil lesen Sie über die Monate von Mai bis August, die unter anderem durch die Suche nach den Treibern der Pandemie geprägt waren. Teil Eins mit den Monaten Januar bis Mai findet sich hier. Teil Drei mit den vier letzten Monaten des Jahres hier.
MAI: Die infektiösen (oder doch nicht ganz so infektiösen?) Kinder
Als die Pandemie beginnt, fällt schnell auf: Kinder zeigen seltener Symptome als andere Altersgruppen. Doch schon im Frühjahr weist Charité-Virologe Christian Drosten darauf hin, dass sie dennoch nicht unbehelligt von Sars-CoV-2 bleiben. Ihre Virenlast unterscheide sich nicht von der Erwachsener, schreiben Drosten und Kolleg*innen in einer zunächst vor-veröffentlichten Studie.
Kinder könnten so ansteckend sein wie Erwachsene, folgern sie – und warnen vor einer unbegrenzten Wiedereröffnung der damals noch geschlossenen Schulen.
Die „Bild“-Zeitung nimmt die Studie Anfang Mai als Anlass für einen außergewöhnlichen Angriff auf Drosten und nennt die Ergebnisse „grob falsch“. Der Presserat rügt später die Berichterstattung. Wissenschaftlich behält Drosten recht: Die endgültige Version der Analyse bestätigt die Ergebnisse.
Gleichwohl zieht sich die Debatte, wie infektiös Kinder sind und was das für Folgen für die Schulen haben könnte, bis heute hin: wissenschaftlich und politisch. Es gibt durchaus sich widersprechende Studien. Die Frage lässt sich auch deswegen schwer beantworten, weil oft unklar bleibt, ob und wenn ja, wie viele Coronafälle bei Kindern unerkannt bleiben.
Erst in den vergangenen Wochen sind mehrere Studien herausgekommen, die nahelegen, dass die Rolle von Kindern bislang unterschätzt wurde. Dazu gehört besonders prominent eine Untersuchung bei Schülern und Lehrkräften in Österreich, die besagt, dass Sars-CoV-2 ähnlich viele Kinder wie Lehrer befällt – und auch ähnlich viele kleinere wie größere Kinder. „Schulen sind keine Insel der Seligen“, sagt Studienleiter Michael Wagner, Mikrobiologieprofessor an der Uni Wien. Wenn man sie nicht schließe, gehe man ein erhebliches Risiko ein.
Lesen Sie unsere weiteren Teile des Rückblicks auf das Jahr des Coronavirus:
- Teil 1: Der Anfang der Covid-19-Pandemie, ihre Verbreitung und die Suche nach Gegenmitteln
- Teil 3: Die Genetik der Krankheit, ihre Wirkungen und die Suche nach dem Ursprung
Die Kultusministerinnen und Kultusminister haben sich dagegen nach den Sommerferien festgelegt: Schulen sind keine Treiber der Pandemie. Sie wollen die Schulen offenhalten. Dass mit Unterricht vor Ort Kinder besser erreicht werden und die Schließung der Schulen sozial benachteiligte Kinder stärker betrifft, ist zwar ebenfalls belegt.
Doch es drängt sich auch der Eindruck auf, die Kultusminister würden das Recht auf Bildung vorschieben, um davon abzulenken, dass die Schulen beim Infektionsschutz alleinegelassen und Modelle für den Wechselunterricht (Stichwort: Digitalisierung) nur unzureichend vorbereitet wurden.
Zuletzt haben einige sogar die Leopoldina für ihre Empfehlungen zu Schulen beschimpft. Auch das ist ein Ereignis des Pandemiejahres: Bildungsministerinnen und -minister, die Wissenschaft ignorieren und verächtlich machen.
JUNI: Wetterfühliger Erreger
Im Jahr des Virus gehen viele Nachrichten unter. Etwa die von einem erneut ziemlich trockenen und überdurchschnittlich warmen Frühjahr und Sommer. Dass „die Kurve“ sich bereits abflacht, als der Frühjahrs-Lockdown beginnt, fällt vor allem jenen auf, die nichts von Lockdowns oder Respekt vor dem Virus an sich halten.
Was diese Bremswirkung bedingt, ist wie bei so vielem dieses Jahr komplex, und so ganz genau weiß man es nicht. Eine Rolle spielt sicher, dass in großen Teilen der Bevölkerung jener Respekt und eine damit verbundene Vorsicht längst massiv zugenommen hatte.
Dass, wie dann oft formuliert wird, über die kommenden Wochen bis in den Sommer hinein „der Lockdown Wirkung zeigt“, hat aber zumindest zum Teil auch Ursachen, die mit dem Lockdown gar nichts zu tun haben. Sondern mit dem Wetter. Wenn es wärmer wird, kann man öfter die Fenster aufmachen – und macht es noch öfter als sonst, wenn man weiß, dass es gegen Ansteckungen hilft.
Mit steigenden Temperaturen steigt auch die Luftfeuchtigkeit. Es ist bekannt, dass Viren es dann schwerer haben, sich zu verbreiten. Das liegt unter anderem daran, dass Viren enthaltende Tröpfchen schneller zu Boden fallen. Auch können die Schleimhäute bei trockener Luft anfälliger für Infektionen sein.
Ein Team vom Massachusetts Institute of Technology sammelt Daten aus 125 Ländern und stellte einen ziemlich deutlichen Zusammenhang zwischen Innenraumluftfeuchtigkeit und der Rate täglich gemeldeter neuer Covid-19-Fälle fest. Das bedeutet aber nicht, dass die Luftfeuchtigkeit der alles entscheidende Faktor ist.
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Denn saisonal verändern sich weitere Dinge: Die UV-Strahlung draußen nimmt zu. Sie deaktiviert nicht nur Viren, sondern ist auch für die Produktion von Vitamin D in der Haut verantwortlich. Niedrige Blutwerte dieses Vitamins könnten mit schweren Verläufen von Covid-19 zusammenhängen. Außerdem halten sich bei wärmeren Temperaturen mehr Menschen im Freien auf. Alle verfügbaren Daten zeigen, dass sich unter freiem Himmel außer in großen Menschenansammlungen kaum jemand ansteckt.
JULI: Der lange Schatten von Covid-19
In den Datenpräsentationen über das Infektionsgeschehen hat fast von Anfang an auch die Zahl der „Genesenen“ ihren festen Platz. Doch ob diese diese stetig wachsende Gruppe wieder so gesund ist, wie vorher, steht dort nicht. Mitte des Jahres wird klar, dass sowohl nach schweren als auch nach nicht so schweren Verläufen nicht wenige, bei denen kein Virus mehr nachweisbar ist, mit Problemen zu kämpfen haben: anhaltende Schwierigkeiten mit der Atmung, Abgeschlagenheit und Schlafstörungen bis hin zu anhaltenden Entzündungserscheinungen in Teilen des Körpers.
Dazu kommt das eher seltene, aber potenziell folgenreiche Krankheitsbild einer weite Teile des Blutgefäßsystems betreffenden schweren Entzündung. Das Deutsche Ärzteblatt nennt all dies den „langen Schatten von Covid-19“.
Wie lang er wirklich sein wird, ist derzeit nicht zu sagen. Denn selbst diejenigen, die derzeit am längsten darunter leiden, tun dies seit weniger als einem Jahr. Selbst die wichtige Frage, wie hoch der Anteil der auf diese Weise „nicht ganz Genesenen“ ist, lässt sich nicht klar beantworten. Das RKI verlautbart derzeit, etwa 40 Prozent der aus Krankenhäusern Entlassenen bräuchten „längerfristig“ Unterstützung. Nach leichteren Verläufen seien es immerhin etwa zehn Prozent.
Was „längerfristig“ bedeutet, und wie häufig und ausgeprägt welche der Symptome jeweils sind, und was man über deren effektive Behandlung weiß, dazu gibt es nur vage Angaben. Internationale Forschergruppen bemühen sich seit Mitte des Jahres, Ordnung in das inzwischen „Long-Covid“ genannte Phänomen – oder der Phänomene – zu bringen.
In einer Studie aus Großbritannien etwa, die als eine der aussagekräftigsten auf diesem Gebiet zählt, wurden Daten von 384 stationär behandelten, im Mittel 60 Jahre alten Patienten zusammengetragen. Ihr zufolge litten acht Wochen nach der Entlassung noch 69 Prozent unter Müdigkeit, Schlappheit, Kraftlosigkeit. 53 Prozent klagten weiterhin über Atemnot. Auch psychische Folgen klingen an: Bei fünfzehn Prozent bestand die neue Diagnose einer Depression.
Viel schlechter untersucht sind die Langzeitfolgen bei jenen, die nicht ins Krankenhaus müssen. Ihre Daten werden schlicht kaum gesammelt. Da ihr Anteil aber insgesamt deutlich höher ist, könnten unter ihnen insgesamt deutlich mehr Menschen zu leiden haben, selbst wenn nur zehn Prozent betroffen sind.
AUGUST: Plötzlich und explosiv - Superspreading-Events
Jedes Jahr Mitte August schwingen sich in den USA Tausende Biker auf ihre Motorräder. Ihr Ziel ist die „Sturgis Motorcycle Rally“ in South Dakota. Auch 2020 nehmen über 460 000 Biker teil, in Restaurants, Bars, Vergnügungslokalen, in Lebensmittel- und Alkoholshops. Trotz hoher Zahlen von Corona-Fällen in den USA. Man trifft zumeist ohne Mundschutz, Abstand und Kontaktbeschränkungen aufeinander. Die republikanische Gouverneurin Kristi Noem hält Infektionsschutzregeln nicht für nötig.
Das Ergebnis ist verheerend, die Biker verteilten das Virus nach der Rally im ganzen Land. Sie wird zu einem der größten „Superspreader-Events“ weltweit. Eine Gruppe amerikanischer Wissenschaftler untersucht die Auswirkungen mit großem datentechnischen Aufwand. Es zeigt sich, dass in Landkreisen, aus denen viele Biker stammen, in den Wochen nach der Rally die Infektionszahlen zwischen 10,1 und 13,5 Prozent ansteigen. Hochgerechnet auf die USA führt das Event demnach zu rund 266 000 Neuinfektionen, 19 Prozent aller in dem Zeitraum im ganzen Land gemeldeten Fälle.
Superspreading (deutsch „Superverbreitung“) bedeutet, dass ein Teil der infektiösen Personen eine übermäßig hohe, vom Durchschnitt abweichende Zahl von Menschen infiziert. Ein weiteres Beispiel für so ein plötzliches, explosives Übertragungsereignis ist eine internationale Biotech-Konferenz in Boston, die im Februar ohne Infektionsschutzmaßnahmen stattfand, die damals noch nicht die Norm waren.
Mehr als 90 der insgesamt rund 200 Teilnehmer hatten sich infiziert. Wissenschaftler gehen davon aus, dass rund 20 000 folgende Infektionen auf die Konferenz zurückzuführen sind.
Superspreading-Events können eine ganze Epidemie treiben. Für den Virologen Christian Drosten sind sie ein wichtiges Argument für strikte Kontaktbeschränkungen. Dass ein Patient zehn andere infiziert, liege nicht unbedingt nur daran, dass er mehr Virus als andere verbreite. Ein Grund dafür sei auch die sozialen Situation, die Gelegenheit, bei der viele Menschen auf engem Raum länger zusammenkommen.
„Wenn man diese sozialen Situationen abschafft, dann schafft man ebenfalls die Superspreading-Events ab. Dann sitzt der Hochinfektiöse zu Hause“, so Drosten.
Hier geht es weiter mit Teil 3: Die Genetik der Krankheit, ihre Wirkungen und die Suche nach dem Ursprung. Teil Eins mit den Monaten Januar bis April findet sich hier.
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