Genforschung: Der Mensch denkt in Kringeln
In den Nervenzellen unseres Gehirns schwimmen rätselhafte, kreisrunde Moleküle, ohne die das Lernen nicht funktioniert.
Es war im 16. Jahrhundert, als der Anatom Andreas Vesalius den menschlichen Körper sezierte, seine Bestandteile Organ für Organ in seinem Atlas „De humani corporis fabrica“ katalogisierte und der modernen Medizin damit den Weg ebnete. Heute sind Molekularbiologen diejenigen, die obduzieren und in der Zelle die „Organe“ suchen, die das Leben ermöglichen. Nun ist ein Forscherteam um Nikolaus Rajewsky vom Berliner Max-Delbrück-Centrum (MDC) auf ein Zahnrad in dieser Maschinerie gestoßen, das zu Vesalius Zeiten wohl der Entdeckung eines so wichtigen Organs wie des Gehirns entsprochen hätte: rätselhafte, kreisrunde Moleküle, die zu Hunderten in Nervenzellen sitzen und offenbar unerlässlich für bestimmte Lernvorgänge sind. Und vielleicht sogar entscheidend für die menschliche Intelligenz.
Ein lange ignoriertes "Universum"
Eigentlich wähnten sich Biologen dem Ziel, die Funktionsweise der Zelle zu verstehen, mit der Entzifferung des Genoms bereits greifbar nahe. In der Tat hatte man schon in den 1970ern mit dem Erbgutmolekül DNS, dessen Abschriften aus Boten-RNS-Molekülen und Proteinen die drei wesentlichen Bestandteile der Zellmaschinerie identifiziert: Die Geninformationen der DNS werden in RNS umgeschrieben, die als Bauanleitung für Proteine dient. Alles in allem eine lineare, spaghettiartige Welt aus mal längeren, mal kürzeren Fäden. Doch offenbar schwimmen in den Zellen zusätzlich Unmengen an kreisrunden RNS-Molekülen herum, zirkuläre RNS (circRNS). Rajewsky nennt sie „Zirkel“. (Siehe auch: "Cooler als DNS" - Hintergrund zu RNS)
Auch die Forscher in den Siebzigern hatten die Kringel vereinzelt entdeckt. Doch sie galten als „exotisch“, sagt Rajewsky, oder gar als Fehlkonstrukte. Einige Pflanzenbiologen nahmen die Sache ernster und untersuchen das Phänomen schon länger, weil circRNS in die Entstehung von Pflanzenkrankheiten involviert ist. Doch erst als Rajewskys Arbeitsgruppe 2013 Tausende der Ringe in Zellen von Spulwürmern, Mäusen und Menschen nachwies und postulierte, dass sie eine wichtige Funktion in der Zellmaschinerie haben könnten, wurde die Forschergemeinde hellhörig. „Seitdem wurden hunderte Forschungsarbeiten über circRNS veröffentlicht“, sagt Rajewsky. Die Ringe seien womöglich Teil eines „parallelen Universums“, das noch niemand ergründet habe. „Das Feld ist explodiert.“
Menschen haben besonders viel Ring-RNS im Gehirn
Aufmerksamkeit erregte vor allem, dass viele der Kringel im Gehirn vorkommen. „Dort finden wir ein paar Hundert verschiedene Zirkel pro Zelle“, sagt Rajewsky. Und offenbar übernimmt zumindest einer dort eine wichtige Funktion, wie Rajewskys Forschungsteam in einer der jüngsten Ausgaben des Fachmagazins „Science“ beschreibt: Schalteten die Forscher den Ring „Cdr1as“ bei Mäusen aus, verloren die Tiere eine wichtige Fähigkeit – die Präimpulskontrolle. Sie hilft Mäusen wie Menschen beispielsweise laute Geräusche richtig einzuschätzen und angemessen zu reagieren. So ist eine Schreckreaktion im stillen Lesesaal der Bibliothek angemessen, wenn plötzlich jemand losbrüllt. Inmitten der krakeelenden Masse eines Heavy-Metal-Festivals wird beim gleichen Geräusch aber niemand mit der Wimper zucken. Man hat gelernt, selbst derartigen Lärm als „normal“ einzustufen. Bei vielen psychischen Erkrankungen ist diese Fähigkeit gestört – und auch, wenn der Cdr1as-Zirkel fehlt. Was darauf hindeutet, dass der Ring für die Präimpulskontrolle eine entscheidende Rolle spielt. Das zeigen auch Untersuchungen der Hirnzellen, in denen die Kringel vorkommen.
Rajewskys Kollege Christian Rosenmund von der Charité entdeckte, dass die Reizübertragung an den Verbindungsstellen von Nervenzelle zu Nervenzelle, den Synapsen, nicht mehr korrekt funktioniert. Sie spucken doppelt so häufig wie normal Botenstoffe in den Spalt zwischen den Zellen aus. Das bedeutet, dass die Weiterleitung von Reizen gestört ist. Lernvorgänge, wie sie für die Präimpulskontrolle nötig sind, können nicht mehr wie gewohnt ablaufen.
Ohne Kringel keine Nervenimpulse
Wie genau die Kringel in die Synapse eingreifen, wissen die Forscher noch nicht. Aber sie haben herausgefunden, dass die Zirkel vor allem in den Ausläufern der Nervenzellen vorkommen, eben dort, wo die Kontrollzentren für die Reizweiterleitung liegen, die Synaptosome. Offenbar funktionieren sie dabei wie ein Transporter für bestimmte Moleküle, die diese Synaptosome kontrollieren – vor allem ein Molekül namens miR-7. Dieses kurze Stück Ribonukleinsäure (Mikro-RNS) kann die Herstellung wichtiger Proteine behindern oder fördern. In diesem Fall sind es Proteine, die über die Weiterleitung eines Reizes mitentscheiden. MiR-7 wird von dem Cdr1as-Zirkel wie von einem Magneten angezogen. An mehr als 70 Stellen kann die Mikro-RNS andocken. Fehlen die Zirkel, fehlt auch miR-7 in den Nervenzellen. Reize werden nicht mehr korrekt übertragen und die Präimpulskontrolle der Mäuse versagt.
Schon der Ausfall eines RNS-Kringels hat also massive Folgen. Einer von Hunderten, die in Nervenzellen ihren Dienst tun. „Im Gehirn kommen ausgesprochen viele unterschiedliche ringförmige RNAs vor, die dort offenbar eine ganze Palette bislang unbekannter biologischer Funktionen übernehmen“, sagt Rajewsky. „Aber wir finden die Zirkel auch in anderen, praktisch allen Geweben des Körpers.“ Welche Funktionen sie dort übernehmen, darüber wissen die Forscher noch wenig. Muskelzellen brauchen sie offenbar, um heranzureifen. Womöglich dienen sie auch zur Übertragung von Informationen zwischen Zellen. Oder zur Abwehr von Viren, meint Howard Chang.
Der Forscher von der Stanford Universität in Kalifornien hat zufällig entdeckt, dass Zellen eine Abwehrreaktion starten, wenn man ihnen nackte zirkuläre RNS injiziert. Sie warnen umliegende Zellen mit Botenstoffen und begehen Selbstmord. Diese Reaktion richtet sich gegen Viren, denn deren Erbgut besteht mitunter auch aus zirkulärer RNS, meint Chang. Aber wenn Zellen so allergisch auf zirkuläre RNS reagieren, wie kann die Zelle sie dann selbst produzieren? Offenbar werden die zelleigenen RNS-Zirkel gekennzeichnet, sobald sie gebildet werden – durch daran bindende RNS- oder Proteinmoleküle. So kann die Zelle eigene von fremden Zirkeln unterscheiden und Alarm schlagen, sobald virale circRNS in die Zelle gelangt, sagt Chang.
In der Primatenevolution hat sich die Ring-RNS vervielfacht
Womöglich war das in der Evolution eine der ersten Funktionen der circRNS. Denn die Zirkel gibt es vermutlich schon sehr lange, lange bevor sich mehrzellige Tiere entwickelten und sich pflanzliches und tierisches Leben trennten. Andererseits könnte circRNS auch in der jüngsten Evolutionsgeschichte eine wichtige Rolle gespielt haben – in der des Menschen. Zwar findet man fast alle Zirkel, die im Gehirn der Maus vorkommen, auch beim Menschen. „Aber umgekehrt ist das nicht der Fall, denn der Mensch hat sehr viel mehr verschiedene circRNS in seinen Hirnzellen.“ Offenbar sind in der Evolution der Primaten viele Zirkel hinzugekommen, die im Hirn aktiv sind. Ist circRNS womöglich eine der Ursachen für die menschliche Intelligenz? So weit will sich Rajewsky noch nicht aus dem Fenster lehnen. Aber er kann schwer verbergen, dass seine Entdeckerneugier entfacht ist. „Dass in der Primatenevolution eine massive Zahl von circRNS hinzugekommen ist, die ausgerechnet an den Synapsen im Gehirn aktiv sind, finde ich superspannend“, sagt der Forscher. Auch Chang ist sicher, dass man einem wichtigen Mechanismus auf der Spur ist. „Wir wissen, dass die Zelle zirkuläre RNS braucht, um überleben zu können“, sagt Chang. Und die Menge der zirkulären RNS einer Zelle betrage etwa ein Prozent aller Boten-RNS. „Das sind sehr viele Moleküle pro Zelle, vor allem wenn man die Langlebigkeit der Moleküle bedenkt.“ Das spreche für eine wichtige Funktion. Wie bedeutend jeder einzelne Typ von circRNS ist, werde sich erst zeigen müssen. Zumal die Ringe aufgrund ihrer Bausteinabfolge unterschiedliche Moleküle binden und transportieren, sowohl RNS als auch Proteine. Eine Art Treffpunkt für wichtige Stoffe in der Zelle. CircRNS haben „großes Potenzial“, meint Chang. Was bislang entdeckt wurde, sei vermutlich nur die Spitze des Eisbergs.
Jahrzehntelang im Trüben gefischt
Aber wie konnte den Forschern eine womöglich so wichtige Komponente der Zellmaschinerie bislang durch die Lappen gehen? „Der Grund, warum man das übersehen hat, ist technischer Natur“, sagt Rajewsky. Da man die diversen Moleküle in der Zelle auch mit besten Mikroskopen nicht ohne Weiteres sehen kann, müssen Forscher gewissermaßen Angeln auswerfen. Und wenn der Köder nur auf lineare Moleküle zielt, lassen sich keine kreisrunden fischen.
„Mit den herkömmlichen Methoden bemerkt man überhaupt nicht, dass es zirkuläre RNS gibt“, sagt Rajewsky. Erst mit den neuen Sequenzierverfahren erkannten Forscher, dass es eine ganze Reihe von zirkulären RNS-Molekülen in der Zelle gibt. Sie entstehen zunächst wie normale RNS als Kopie der DNS. Doch dann wird das lineare RNS-Molekül an seinen Enden miteinander verbunden, so dass ein Kreis entsteht. Diese Kreisform macht die Moleküle besonders langlebig. Während lineare Moleküle in der Zelle oft schon nach Minuten, mitunter Sekunden wieder entsorgt werden, können die Kringel stunden- und tagelang in den Zellen herumdümpeln.
RNS-Kringel wären ein robuster Wirkstoff
Diese Langlebigkeit hat noch einen weiteren Vorteil: Die Kringel wären ideale Wirkstoffe für neuartige Therapien, anders als lineare RNS, die im Körper von Enzymen relativ schnell abgebaut wird. „CircRNS ist so stabil, dass sie durchaus als therapeutischer Wirkstoff infrage kommt“, sagt Rajewsky. Die Zirkel könnten in ein krankes Gewebe gespritzt werden und dort in das Krankheitsgeschehen eingreifen. So wäre der Cdr1as-Zirkel womöglich in der Krebstherapie einsetzbar, weil er die Mikro-RNS miR-7 bindet, die in diverse Krebsarten involviert ist. Ein eigenes Start-up zu gründen, das solche Therapieansätze verfolgt, ist Rajewsky allerdings noch nicht in den Sinn gekommen. „Ich kann mich ja nicht vierteilen.“