zum Hauptinhalt
Ehrgeizig und stolz: Der saudische Thronfolger Mohammed bin Salman treibt die Reformen voran.
© Tolga Akmen/AFP

Reformen in Saudi-Arabien: Wie der Kronprinz sein Land neu erfinden will

Noch ist Saudi-Arabien vom Öl abhängig. Doch das soll sich ändern. Der saudische Thronfolger treibt seine "Vision 2030" voran. Kann ihm die Reform gelingen?

Jeans, weißes Hemd, lässiges Jackett. Sieht so ein Revolutionär aus? Als sich der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman im Frühjahr während einer Rundreise durch die USA mit Facebook-Chef Mark Zuckerberg trifft, erkennen Kommentatoren in Riad eine Botschaft im Outfit des Thronfolgers. MBS, wie der 32-Jährige allseits genannt wird, wolle seinem Land etwas mitteilen: Seht her, so modern kann das neue Saudi-Arabien aussehen.

Mit einem bloßen Verzicht auf Robe, Umhang und die Kopfbedeckung Kufiya ist es allerdings nicht getan. Der Prinz hat sich die Aufgabe gesetzt, ein in vielen Bereichen rückständiges Königtum innerhalb weniger Jahre ins 21. Jahrhundert zu führen und so die Monarchie zu retten. Weg vom Öl und dem strengen wahhabitischen Islam, hin zu High-Tech und ein wenig Toleranz.

Wenn das Experiment gelingt, wird MBS wohl als großer Erneuerer des Nahen Ostens in die Geschichte eingehen. Scheitert er – was durchaus möglich ist – könnte das zentrale Land der arabischen und islamischen Welt ins Chaos stürzen. Mit verheerenden Folgen für die Region und die Weltwirtschaft.

Vorbild für andere arabische Staaten?

„Alles schaut auf die Transformation Saudi-Arabiens“, sagt Paul Salem vom Nahost-Institut in Washington. Der Reformansatz des saudischen Prinzen ist der Versuch, mit alten Modellen zu brechen, ohne die Macht der regierenden Herrscher zu gefährden. Schließlich hatte der Arabische Frühling mit seinen Volksaufständen die saudische und andere Monarchien das Schlimmste befürchten lassen.

MBS will damit die Quadratur des Kreises: wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung ohne politische Veränderung. Ob das funktionieren kann, ist ungewiss. Die ganze Region wisse, dass sie sich ändern und „etwas anderes“ werden müsse, sagt Salem. Aber niemand wisse, wie das andere aussehe.

Ein deutscher Berater für den Prinzen

Tatsächlich will der junge Kronprinz sein Land neu erfinden. Mit den riesigen Ölvorräten Saudi-Arabiens wird es in drei bis vier Jahrzehnten vorbei sein. MBS möchte deshalb vorbauen und die Wirtschaft auf Zukunftstechnologien umstellen, bevor es zu spät ist. Experten wie der ehemalige Siemens-Chef Klaus Kleinfeld, soeben zum Berater des Königshauses ernannt, sollen dem Prinzen helfen.

Diversifizierung der Wirtschaft mit neuen Zweigen von der Rüstungsindustrie über die Unterhaltungsbranche bis zum Tourismus, Öffnung des Landes für Investitionen, Digitalisierung der schwerfälligen Bürokratie, Reform des Bildungswesens und Aufbau eines „toleranten Landes“ – das sind die Schlagworte der „Vision 2030“, wie der Prinz sein Reformprojekt nennt. Er hat nur noch zwölf Jahre Zeit, um seine Ziele zu erreichen.

Megaprojekt NEOM

Mit Mega-Projekten wie der geplanten Retorten-Stadt NEOM am Roten Meer wird die „Vision 2030“ vorangetrieben. Dort sollen ausschließlich nachhaltige Energiequellen verwendet werden. Trinkwassergewinnung und Gewächshäuser in der Wüste sollen eine Stadt ernähren, die sich neuen Technologien widmet und in der Frauen weitgehend gleichberechtigt sind. Auf rund 500 Milliarden Dollar wird das Projekt veranschlagt. Diese gigantische Summe soll in erster Linie durch saudische Haushaltsmittel und das Geld von Investoren zusammenkommen.

Ein Schlüssel zur Finanzierung der „Vision 2030“ ist der geplante Börsengang der staatlichen Ölgesellschaft Aramco, deren Wert auf zwei Billionen Dollar geschätzt wird – das wertvollste Unternehmen der Welt. MBS möchte fünf Prozent der Anteile verkaufen und damit 100 Milliarden Dollar für den Staat einnehmen. Wann und wo Aramco an die Börse gebracht wird, ist aber unklar; manche Beobachter glauben, es werde nie geschehen.

Und: Die saudischen Pläne, die auf möglichst hohen Ölpreisen basieren, laufen den Prioritäten des engen Verbündeten USA zuwider, der auf niedrige Preise dringt, um die Folgen des Ausstiegs aus dem Atomabkommen mit dem Iran zu begrenzen.

Geschrumpftes Bruttoinlandsprodukt

Nahost-Experte Salem schätzt, dass Länder wie Saudi-Arabien ein Wirtschaftswachstum von bis zu neun Prozent pro Jahr brauchen, um erfolgreich zu sein. Doch vergangenes Jahr schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt der Saudis um ein Prozent.

Auch beim Werben um westliches Know-how zur Modernisierung der saudischen Wirtschaft läuft nicht alles glatt. Aus Sicht potenzieller Investoren hakt es ebenfalls. Digitalisierung, erneuerbare Energien, E-Commerce, Verkehr, Infrastruktur – in all diesen Bereichen besitzen gerade deutsche Unternehmen viel Kompetenz.

Doch ob sie bei der Vergabe entsprechender Aufträge zum Zuge kommen, ist momentan sehr fraglich. Denn der mächtige Prinz ist auf Deutschland schlecht zu sprechen. Einige Beobachter glauben sogar, Mohammed bin Salman sei richtig sauer und verhindere deshalb, dass Siemens und Co. berücksichtigt werden. Noch will niemand die Worte Boykott oder Embargo in den Mund nehmen. Klar scheint aber: Deutsche Firmen haben im Wüstenstaat momentan einen schlechten Stand.

Eklat wegen Gabriel

Das liegt an den gestörten politischen Beziehungen. Was aus saudischer Sicht vorrangig Sigmar Gabriel geschuldet ist. Im November 2017 warnte der damalige Außenminister vor „außenpolitischem Abenteurertum“ im Nahen Osten.

Zwar hatte der Sozialdemokrat Saudi-Arabien als Adressaten nicht benannt, die Golfmonarchie allerdings bezog die Kritik auf sich. Aus nachvollziehbaren Gründen. Denn Gabriel äußerte sich im Kontext einer mysteriösen Aktion und entsprechenden Gerüchten, die Saudis hätten Libanons Premier Saad Hariri fest- und unter Druck gesetzt. Das Königshaus wertete die Bemerkungen des Außenministers als Affront. Der Botschafter wurde aus Deutschland abgezogen.

Verstimmt ist der Thronfolger auch aus anderen Gründen. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung wurde festgelegt, dass Waffenlieferungen an Konfliktparteien im Jemenkrieg ausgeschlossen sind. Riad bekämpft in dem arabischen Land seit mehr als drei Jahren mit aller Macht und vor allem heftigen Bombardements die aufständischen Huthi-Rebellen – auch weil sie als Verbündete des Erzfeinds Iran gelten.

Schlechte Karten für deutsche Unternehmen

Mit dem, so die Lesart des Königshauses, macht Deutschland ohnehin gemeinsame Sache. Schließlich setzt sich Berlin wie seine EU-Partner in London und Paris für den Erhalt des Atomabkommens ein, das US-Präsident Donald Trump aufgekündigt hat.

All das führt dazu, dass es ums Geldverdienen deutscher Großkonzerne und Mittelständler in der Golfmonarchie eher schlecht bestellt ist. 800 Firmen sind in Saudi-Arabien aktiv, das Exportvolumen lag 2017 bei fast 6,6 Milliarden Euro. Ein Jahr davor waren es 7,3 Milliarden. Viele fürchten nun, dass die gegenwärtige politische Missstimmung sich weiter negativ auf künftige Geschäfte auswirken könnte.

Noch wichtiger als die Rolle ausländischer Investoren ist für die „Vision 2030“ die Haltung der saudischen Gesellschaft selbst. Hier liegt die möglicherweise schwerste Aufgabe für den Prinzen. Generationen von Saudis haben sich an die übergroße omnipräsente Rolle des Staates in der Wirtschaft und in der Gesellschaft gewöhnt.

Groß, größer - NEOM. Am Roten Meer soll eine moderne Riesenstadt entstehen.
Groß, größer - NEOM. Am Roten Meer soll eine moderne Riesenstadt entstehen.
© Faisal al Nasser/Reuters

Doch die üppigen Wohltaten sind kaum noch zu finanzieren und werden ohne Öl vollends unerschwinglich werden. Deshalb drängt bin Salman darauf, den Arbeitsmarkt umzustrukturieren. Der öffentliche Dienst ist mit mehr als drei Millionen Angestellten längst überbesetzt. Wohin also mit den jungen Menschen – zwei von drei Saudis sind jünger als 30 Jahre –, die jährlich zu Hunderttausenden auf den Arbeitsmarkt drängen?

Wenn es nach bin Salman geht, sollen sie möglichst in der Privatwirtschaft tätig werden, die vielen ausländischen Kräfte ablösen und das Land wettbewerbsfähig machen. Nur: Die Saudisierung der heimischen Ökonomie kommt nicht so recht in die Gänge. Ein Großteil pflegt nach wie vor lieber den Müßiggang. Das führt dazu, dass viele saudischen Firmen Jobs zum Schein vergeben: Man zahlt ein Gehalt, schickt die Nichtstuer jedoch wieder nach Hause.

Das konterkariert einerseits die wichtige Reform des Arbeitsmarkts. Andererseits ist MBS auf die Unterstützung der jungen Saudis angewiesen. Auch deshalb ließ der Prinz die geschlossenen Kinos wieder eröffnen und erlaubte den Frauen das Autofahren. Konservative Kräfte unter den islamischen Geistlichen lehnen grundlegende Veränderungen dagegen ab. Hinzu kommen Widerstände in der weit verzweigten Herrscherfamilie gegen Mohammed bin Salman.

Neue Freiheit. Seit Ende Juni dürfen Frauen ohne Männer Auto fahren.
Neue Freiheit. Seit Ende Juni dürfen Frauen ohne Männer Auto fahren.
© Hamad I Mohammed/Reuiters

Das größte Hindernis für die „Vision 2030“ könnte jedoch ihr eigener innerer Widerspruch sein. MBS will das Land öffnen, den Untertanen des Herrschers aber nicht mehr Mitsprache gewähren. „Es gibt eine Spannung hier“, gab der Prinz kürzlich in einem Interview mit dem US-Magazin „The Atlantic“ zu. Eine Reform der Monarchie lehnte er jedoch ab.

Die Frage lautet, wie lange politische Reformforderungen ausgeklammert werden können. Saudi-Arabien brauche einen neuen Gesellschaftsvertrag, wenn die „Vision 2030“ erfolgreich sein solle, schrieb die Nahost-Expertin Jane Kinnimont vor Kurzem in einer Analyse für die britische Denkfabrik Chatham House. Bisher zeigt MBS keinerlei Interesse an einem solchen neuen Kontrakt zwischen Königshaus und Bevölkerung.

Für Mohammed bin Salman steht also eine Menge auf dem Spiel. Er gilt als überaus ehrgeizig, sieht sich selbst als Reformer, der sein Land umkrempeln und neue Strukturen schaffen will. Koste es, was es wolle. Widerstand wird aus dem Weg geräumt. Selbst wenn er aus dem Establishment kommt.

Im November vergangenen Jahres ließ MBS Mitglieder der Königsfamilie, wohlhabende Geschäftsleute und Minister unter dem Vorwurf der Korruption festsetzen. Die meisten konnten sich Berichten zufolge freikaufen – mit Entschädigungen in Milliardenhöhe.

Zur Startseite