Zum Abschied von Heinevetter bei den Füchsen: Bye Lebowski
Der Handballtorhüter verlässt nach elf Jahren Berlin. Am Sonntag hätte eigentlich sein letztes Spiel für die Füchse sein sollen. Die Geschichte eines Abschieds.
Sein absoluter Lieblingsfilm ist „The Big Lebowski“. Und das kann wohl kein Zufall sein. Die Kultkomödie von den Coen-Brüdern handelt von Jeffrey Lebowski, der sich selber nur der Dude nennt. Ein entspannter Alt-Hippie, der nachmittags White Russians trinkt und der im Bademantel das Haus verlässt. Von einer Erzählerstimme wird er in der ersten Szene des Films vorgestellt als der richtige Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Als der faulste Sack aus ganz Los Angeles und Umgebung, womit er unter den faulen Säcken weltweit einen der vordersten Plätze belegen würde. Ach verdammt, seufzt der Erzähler, jetzt habe ich den Faden verloren.
In diesem Text soll nun Silvio Heinevetter ins Bild treten, der von allen nur Heine genannt wird. Bei den Füchsen Berlin war der Handballtorwart elf Jahre lang der richtige Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Und naja, räusper, ein bisschen faul ist er ganz bestimmt auch.
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In diesem Sommer zieht der 35 Jahre alte Heinevetter von Berlin weiter nach Melsungen. Mit seinem spektakulären Spiel und seiner schillernden Persönlichkeit verliert die Stadt einen ihrer größten Sportler, den die ganze Republik mit Berlin assoziiert. Elf Spielzeiten und 497 Spiele lang war er das Gesicht der Füchse, er repräsentiert den deutschen Handball wie kaum ein anderer. Mit ihm im Kasten entwickelte sich der Bundesligist seit 2009 von einem Projekt zu einer Erfolgsmarke. Mit ihm im Kasten gelang der erste Titelgewinn der Vereinsgeschichte. Es folgte der zweite, der dritte, vierte, fünfte. In ganz Europa kennt man den Klub heute.
497 Spiele. Weitere mögliche elf Begegnungen wurden Heinevetter vom Virus genommen. Bei seinem letzten Spiel Anfang März gegen Flensburg ahnte noch niemand, dass dies sein Abschied sein würde im Berliner Trikot mit der Nummer zwölf. Sein allerletzter Auftritt war eigentlich für diesen Sonntag geplant. Die Füchse wären Gastgeber gewesen für das Finalturnier um den EHF-Cup – und der Verein galt als sicherer Teilnehmer am Final Four, das die Mannschaft in den vergangenen sechs Jahren fünfmal erreicht hatte.
Es hätte keinen passenderen Rahmen für einen Abschied des Publikumslieblings gegeben als ein Europapokalfinale vor den eigenen Fans. Romantischer wäre da höchstens noch gar kein Abschied von den Füchsen gewesen, sprich: hätte er seine große Karriere irgendwann einmal in Berlin beendet. Aber dafür ist es zu spät. Die Unterschrift bei Melsungen ist längst getrocknet.
Die Füchse suchten einen Star - und fanden Heinevetter
Verabschieden wir ihn also als Sportler mit diesem Text aus Berlin. Statt der wahren Erzählung von seinem letzten Spiel, das es nie gegeben hat, erzählen sechs Wegbegleiter aus Heinevetters Zeit bei den Füchsen, wie das all die Spiele über mit ihm war. Den Anfang aber macht Simone Thomalla. Seit mehr als zehn Jahren – beinahe seit seiner Ankunft in Berlin – steht sie nun schon an der Seite des Profisportlers. Während die Schauspielerin zu Hause die Texte für ihre Rollen lernt, bereitete sich auch Heinevetter auf seinen nächsten Auftritt vor.
„Seine Spielvorbereitung geht ja weit über das harte körperliche Training hinaus“, erzählt Thomalla. Heinevetter schaut sich vor jedem Spiel mehrere Begegnungen des nächsten Gegners an, Videosequenzen, zurück, Pause, vor, zurück. Er studiert jeden Wurf, Raffinessen, macht sich Notizen. Die Nächte wurden in der Vergangenheit dann schon mal unruhig. „Anscheinend hält Silvio auch im Traum Bälle, denn ab und an trifft mich sein Arm im Schlaf“, sagt sie.
Am Spieltagsmorgen wache er im Tunnel auf. „Für Außenstehende wirkt das abgeklärt und völlig unaufgeregt. In ihm brodelt es aber gewaltig“, sagt Thomalla. Dann packt Heinevetter seine Sporttasche. „Toi, toi, toi“ wünscht sie ihm noch, schon ist er weg.
Bereits vor seinem Wechsel nach Berlin hatte der Torhüter mit seinen außergewöhnlichen Paraden die Liga im Trikot des SC Magdeburg aufgemischt. Ein junger Nationalspieler aus einer kleinen Stadt in Thüringen, über den die Leute sprachen, verrückt, emotional, charismatisch, mit dem Zeug zum Star. Genau so jemanden hatte Bob Hanning damals gesucht. Es war das dritte Bundesligajahr, vor dem der Klub, der aus den Reinickendorfer Füchsen hervorging, nach seinem Aufstieg 2007 stand. Der Manager wollte den nächsten Schritt gehen. Neuer Name, check, neue Halle, check, neuer Star.
„Wir mussten dann auch mal Transfers hinkriegen, die man uns so nicht zutraute“, sagt Hanning heute. „Mit Silvio Heinevetter war das für uns die ideale Konstellation.“ Als neuen Trainer engagierte er für die gleiche Spielzeit Dagur Sigurdsson. Zwei Volltreffer.
Im ersten Jahr unter der Führung des späteren Bundestrainers verpassten die Füchse die Europapokalränge um ein einziges Tor. In der darauffolgenden Saison ging es auf der Überholspur in die Champions League. Die ersten sieben Spiele wurden in Folge gewonnen, ein Raketenstart mit einem Sensationssieg gegen Kiel, der vor allem Heinevetter zugeschrieben wurde. Es ist der Tag, ab dem Hanning über die Füchse nicht mehr von „einem Projekt“ spricht. Es ist die Geburtsstunde des Klubs, den man heute als die Füchse kennt. Es ist der Moment, in dem Heinevetter zu einem Gesicht von Berlin wird.
Heinevetters Stil ist in der Welt der Torhüter schlicht einzigartig
Wenn Petr Stochl die Halle erreichte, ist Heinevetter meistens schon da. „Er kommt oft eine halbe Stunde früher zu den Spielen und trinkt noch einen Kaffee“, erzählt der 44 Jahre alte Tscheche, der vor zwei Jahren seine Karriere bei den Füchsen beendete. Neun Jahre lang bildete er zusammen mit dem acht Jahre jüngeren Heinevetter das Torhüterduo. „Unsere gemeinsame Zeit war viel besser, als ich es vorher erwartet hatte“, erzählt Stochl: „Wir sind Freunde geworden.“ Das Bild, das er von Heinevetter im Füchse-Trikot niemals vergessen wird: „Wurf von Außen – und Heine schräg in der Luft: mit dem Bein über der Latte und der Hand auf dem Boden! Unglaublich!“
Sigurdsson und Velimir Petkovic, Heinevetters langjährige Trainer bei den Füchsen, schwörten auf dieses Doppel, das zu den besten in der Bundesliga zählte. „Die verstanden sich einfach blendend“, sagt Petkovic, „haben sich gegenseitig immer unterstützt.“ Zu Sigurdssons Zeiten suchte der Verein mal vergebens nach einem geeigneten Torwarttrainer – sie waren einfach zu gut. „Wir haben niemanden gefunden, der Heinevetter oder Stochl hätte besser machen können“, sagt der Isländer.
Vor allen Heinevetter könne man nicht so leicht trainieren, sagen beide Trainer, zumindest nicht mit klassischen Übungen, sein Stil sei dafür viel zu eigen. So wie die US-amerikanische Ausnahmeturnerin Simon Biles eigene Elemente am Schwebebalken kreierte, so ist auch Heinevetters Stil in der Welt der Torhüter schlicht einzigartig. Niemand sonst pariert so wie er. „Silvio ist unberechenbar“, sagt Petkovic: „Wenn ich meine Spielauswertungen gemacht habe, wunderte ich mich oft, wie er einige Bälle gehalten hatte. Das konnte nur er so.“
Als Petkovic im Dezember 2016 nach Berlin kam, eilte Heinevetter ein Ruf voraus. In der Szene gilt er als schwierig. Aber das habe sich für ihn nicht bestätigt. „Heine ist eine sehr gute Seele“, sagt er: „Nur trainieren wollte er halt nicht.“ Diese Erfahrung hatte auch Sigurdsson schon gemacht, aber er hatte da ein paar Tricks. „Heine mag keine Übungen – aber wenn man ihm die als Wettkampf anbietet, dann dreht er sofort durch und möchte gewinnen.“ Und wenn er sich mal ein paar Spiele hat hängen lassen – „dann habe ich einfach Petr spielen lassen. Dann kommt Heine noch stärker zurück. Das ist einfach sein Charakter.“
Der 47-Jährige zählt Heinevetter heute zu seinen absoluten Lieblingsspielern, dem er einen Riesenanteil an der Erfolgsgeschichte der Füchse zuschreibt. Was er aus der gemeinsamen Zeit für immer in Erinnerung behalten wird: „Wie er sich beim Dauerlauf quält! Das ist für mich ein superschönes Bild für die Ewigkeit“, muss Sigurdsson lachen.
Paul Drux soll nun das neue Füchse-Gesicht werden
In der Kabine saß Heinevetter zuletzt neben Paul Drux, also über Eck, dazwischen passte höchstens Hund Arnie, den der Torwart manchmal zu den Spielen mitbrachte. Als Drux 2011 als 16-Jähriger ins Sportinternat zu den Füchsen wechselte, kannte er Heinevetter nur aus dem Fernsehen und hat „auf jeden Fall ehrfürchtig zu ihm aufgeblickt“, erinnert er sich: „Und jetzt haben wir so viele Spiele bestritten und einige Titel zusammen gewonnen! Schon krass.“
Was Heinevetter in der Vergangenheit gewesen ist, soll Drux nun in der Zukunft sein: das Gesicht, die Stimme, das Herz der Mannschaft. So ist es in Berlin schon länger von Manager Hanning vorgesehen. Drux konnte über die Jahre also viel lernen. „Heine hat immer das angesprochen, was er ansprechen wollte. Er hat sich nie versteckt“, sagt er: „Wenn es mal schlecht lief, hat er auch mal einen Mannschaftsabend initiiert. Da war er schon extrem wichtig für unseren Zusammenhalt.“
Wenn das Spiel beginnt, sagte Heinevetter vor Jahren dem Tagesspiegel, lege er einen Schalter um, dann erst wieder bei Spielschluss – was dazwischen passiert, wisse er hinterher kaum mehr. Simone Thomalla erkennt ihren Freund während der 60 Minuten nicht wieder. Das seien zwei komplett unterschiedliche Menschen: „Es gibt den Handballspieler, den Sportler Silvio – und es gibt den privaten Silvio.“ Der private Silvio ist dann ein bisschen wie der Dude aus „The Big Lebowski“. Auf jeden Fall entspannt. In der Coronazeit verließ auch Heinevetter das Haus im Bademantel, Thomalla machte davon ein Foto für Instagram. „Er sympathisiert sehr mit der Filmfigur“, lacht sie: „Der Look gefällt ihm. Und das Getränk kann er auch vertragen.“
Der Handballspieler dagegen, der Sportler Silvio, sei „ehrgeizig krank“, sagt Sigurdsson, der da ganz ähnlich tickt: „Wir hassen es beide zu verlieren! Das ist natürlich ein Supertyp für jede Mannschaft.“ Sigurdsson muss jedes Spiel gewinnen. Heinevetter muss jeden Ball halten. JEDEN BALL! „Wenn er mal 20 Minuten nirgends dran kommt“, sagt Stochl, „bleibt er trotzdem immer hochmotiviert. Und dann fängt er plötzlich wieder einen.“
Seine Besessenheit rührt die Hallen auf
Für die Zuschauer in der Halle ist Heinevetter ein Erlebnis. Der Torhüter brennt während des Spiels, er schimpft und zetert, er reckt die Faust und jubelt, haut aufs Parkett, sein Spiel bebt vor Emotionen. Die Spieler der anderen Mannschaft macht das reihenweise fertig. „Ich kenne nur wenige Spieler“, sagt Sigurdsson, „die sich so in die Köpfe der Gegner schmuggeln können.“ Heinevetter schafft es, dass auch die abgebrühtesten Rückraumspieler vor ihrem Wurf plötzlich ein Mikrogramm Unsicherheit verspüren. Das reicht bei den meisten schon und sie beginnen zu zögern, verwerfen, werfen gar nicht mehr.
Es gibt auf diesem Planeten nur einen einzigen Spieler, den das nie juckte. Behauptet Iker Romero, wer sonst. „Ich habe in der Nationalmannschaft gegen Heine gespielt und als er noch bei Magdeburg war“, erzählt der Spanier, der seine Karriere vor fünf Jahren in Berlin ausklingen ließ. Romero hält seinen früheren Mitspieler weltweit für einen der besten Torhüter seiner Generation. „Aber ich denke, für ihn war das immer ein bisschen schwierig gegen mich zu spielen, da hat er nie einen Ball gehalten.“ Frotzeleien auf höchstem Niveau.
Mit seiner Besessenheit, die das ganze Publikum in der Max-Schmeling-Halle elektrisieren konnte, bringt Heinevetter in allen anderen Hallen die Zuschauer gegen sich auf – das manchmal auch klar zum Nachteil für die eigene Mannschaft. „Heine musst du einfach hassen oder lieben“, lacht Petr Stochl: „Der geht nicht neutral.“ Genau diese explosive Stimmung, in die er beide Fanlager reißen kann, machen ihn am gefährlichsten, dann ist es nicht mehr weit zu einem weiteren Rausch, in den er sich spielen kann.
„Den Pokalsieg 2014 haben wir ganz allein ihm zu verdanken“, erinnert sich Stochl: „Das war sein Wochenende.“ „Im EHF-Cup-Finale 2015 hat er den Unterschied gemacht“, sagt Sigurdsson. „Beim EHF-Cup-Finale in Magdeburg 2018 war die ganze Halle gegen uns“, erinnert sich Petkovic: „Da war er mein größter Held.“ Das Spiel, das Simone Thomalla nie vergessen wird: „In der Champions League gegen Leon! Als sie im Rückspiel elf Tore aufgeholt haben! Diese Freude von damals werde ich meinen Lebtag nicht vergessen. Das war einfach gigantisch.“
Heinevetters Vereinswechsel sorgte für einiges Entsetzen
Elf Spielzeiten und fünf Titel in ein und demselben Verein reichen andernorts für die Ewigkeit. In Berlin konnte sich der Nationaltorhüter zuletzt nicht mehr als der richtige Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit fühlen. Vor einem Jahr unterschrieb Heinevetter dann kurzentschlossen einen Vertrag in Melsungen von diesem Sommer an. Es bleibt im Verborgenen, was ganz genau dazu führte. Fest steht, dass „wir uns als Paar natürlich gewünscht hätten, dass Silvio seine Karriere hier in Berlin hätte fortsetzen oder beenden können“, sagt Simone Thomalla.
Für ein Karriereende bei den Füchsen wollte Heinevetter aber „noch zu lange spielen“, entgegnet Manager Hanning: „Wir konnten uns vertragstechnisch nicht einigen.“ Wenige Wochen darauf präsentierte der Klub in dem damals 23 Jahre alten Dejan Milosavljev die Nummer eins der Zukunft.
Die Nachricht von Heinevetters Vereinswechsel sorgte für einiges Entsetzen. „Ich musste da erstmal schlucken“, sagt Drux. „Mich hat das sehr überrascht“, sagt Stochl. „Ich konnte mir das eigentlich nicht vorstellen, dass das einmal passiert“, sagt Sigurdsson.
Auch Petkovic war geschockt: „Aber ich war nicht lange traurig, weil ich wusste, ich gehe dann ja auch.“ Der Bosnier, dessen Vertrag im Sommer ausgelaufen wäre, und Heinevetter hatten noch ein letztes gemeinsames Ziel: das EHF-Cup-Finale in der Max-Schmeling-Halle. Daraus wurde für beide nichts: Ende Februar wurde Petkovic vorzeitig entlassen. Dann kam das Virus.
Wie auch immer dieses allerletzte Spiel für Silvio Heinevetter ausgegangen wäre, in einem waren sich alle Befragten einig. Der Party-Mann, wie ihn Velimir Petkovic nennt, wäre mit seiner Mannschaft noch losgezogen, ganz sicher auch in einer Karaokebar gelandet. Sein schönstes Lied? „Soldadito Marinero“, lacht Iker Romero. Was er aus diesen gemeinsamen Nächten nie vergessen wird? „Das erzähle ich hier bestimmt nicht“, sagt Paul Drux. Ein wirklicher Freund eben. Einer von vielen, die Heinevetter bei den Füchsen gefunden hat.
Auf seinem Telefon hätten sich in diesen Stunden wohl Abschiedswünsche all seiner ehemaligen Mitspieler aus der Berliner Zeit gesammelt. Die Mailbox-Ansage ist ein Zitat aus „The Big Lebowski“: „Manchmal frisst du den Bären, und manchmal frisst der Bär eben dich.“ Halt die Ohren steif, Dude, sagt der Erzähler ganz am Ende des Films. Halt auch Du die Ohren steif, Heine.