Spielzeitbeginn am Hans Otto Theater Potsdam: Die Wunden sind noch offen
Bettina Jahnke hat ihre erste Potsdamer Spielzeit am Hans Otto Theater durchwachsen eröffnet – mit einer Doppelpremiere zu zwei epochalen Spielarten des Scheiterns.
Erster Akt. Entree unter freiem Himmel
Zuerst die sonst Unsichtbaren. Bevor es drinnen auf der Bühne um epochales Scheitern gehen wird – erst um die DDR, dann um den Klimakollaps – ist der Mitarbeiterchor des Hans Otto Theaters dran. Den hat die neue Theaterleiterin Bettina Jahnke um sich versammelt, als sie am Samstagnachmittag auf der Terrasse des Neuen Hauses steht, zur symbolischen Türöffnung ihrer Intendanz. Die Symbolik ist deutlich: Nicht Jahnke allein ist das Theater. Theater, das sind die hinter der Bühne und die darauf. Und natürlich auch die davor: das Publikum. Ohne Publikum kein Theater!, mahnt Jahnke. „Der Funke soll überspringen.“
Und Hans Otto, der 1933 von den Nazis ermordete Schauspieler und Namensgeber des Theaters, soll dabei helfen. „Hans Otto begeistert und enthemmt, berührt, lässt keinen kalt“, ruft der Mitarbeiterchor. Es sind Sätze, die gerade stadtweit auf Plakaten für das Theater werben. „Er ist laut und leise, mal albern, mal ganz Drama-Queen.“ Dann öffnet der Chor ein Spalier, die Besucher schreiten hindurch, hoch zur geöffneten Terrassentür. Unten bekommen sie Beifall, oben dann Sekt – und eine Neuigkeit: Der Förderkreis des Theaters hat einen neuen Vorsitzenden. Der ehemalige Rektor der Filmhochschule Babelsberg, Dieter Wiedemann, übernimmt den Posten, den Lea Rosh grollend verlassen hatte. (mit jä)
Zweiter Akt: Mauer Hauptgang mit Eugen Ruge
Drinnen ist dann gar nicht alles so neu. Mit Eugen Ruges „In Zeiten abnehmenden Lichts“ hat sich die regieführende Intendantin einer Strategie bedient, die auch Tobias Wellemeyer verfolgt hatte: DDR-Geschichte in Form von Romanadaptionen. Und auch in der konventionellen, nur sachte von verfremdenden Videomontagen unterbrochenen Erzählweise ist sie nicht so weit weg vom Vorgänger. Die Vorlage freilich, eine verständliche Wahl: Ruge ist gebürtiger Potsdamer, sein Familienepos spielt zu großen Teilen hier – und der 2011 erschienene Buchpreisgewinner war ein enormer Publikumserfolg.
Es ist ein erzähltechnisch ausgebuffter Roman, der über drei Generationen drei Perspektiven auf DDR-Geschichte auffächert. Da sind zunächst Charlotte und deren Mann Wilhelm, um die Jahrhundertwende geboren, vor den Nazis nach Mexiko geflüchtet. Er beinharter Stalinist, sie ähnlich unbeugsam, beide verteidigen den DDR-Staat blind. Deren Sohn Kurt hat im Gulag die Zähne des Stalinismus zu spüren bekommen, hält der DDR, wo er Karriere macht, nach außen hin als Professor für Geschichte aber die Treue. Anders Kurts Sohn Alexander, das Alter Ego des Autors: erst Zweifler, dann Verzweifelter, dann Republikflüchtling.
Angerissene Porträts, angeteaserte Fragen
Diesen Alexander haben Jahnke und ihre Dramaturgin Alexandra Engelmann zur Erzählerfigur auserkoren. Er blickt 2001 vom fernen Mexiko auf die DDR zurück, gräbt sich in teils langatmigen Monologen immer tiefer in das, was war. Seine Erinnerungen sind eine Baustelle, sind „Splitter, Scherben“, sagt er später, und so zeigt das auch die Bühne von Juan León: ein raumhohes Gerüst, in dem die Fragmente eines Schriftzuges hängen wie verlorene Puzzleteile. Hier hockt Henning Strübbe als Alexander zu Beginn. Allein, umrauscht von einem Klangflickenteppich des letzten Jahrhunderts. DDR-Radiopropaganda und -Hymne. Und Wolf Biermann: „So oder so, die Erde wird rot“.
Das Panorama, das dieser Auftakt aufmacht, ist vielversprechend. Was bedeutet es, „rot“ zu sein? Wie konnte man es in der DDR bleiben, ohne kritiklos zu sein? Wie es danach bleiben, ohne die Lektionen der DDR zu verleugnen? Darum könnte es gehen, und angeteasert werden diese Fragen auch. Worum es aber Bettina Jahnkes „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ vor allem geht: ein Familienporträt zu zeichnen. Statt politischer Positionen werden einzelne Figuren ausgeleuchtet – oder besser: gestreift. Denn, und das ist ein Problem dieses Abends, die Menschen, die bei Ruge um richtig oder falsch ringen, alle für sich betrachtet auch recht haben, werden hier bestenfalls in Umrissen erkennbar. Schlimmstenfalls als Karikaturen.
Die groben Alten und das Herz des Abends
Am gröbsten kommt dabei die älteste Generation weg, Wilhelm (Joachim Berger) und Charlotte (Bettina Riebesel). Wilhelm sehnt sich in der DDR nach Zeiten zurück, als man noch einfache Lösungen für Kritiker hatte („Die hätte man alle: Rattattattat!“), Charlotte ist Karrieristin, stramm, schnippisch. Was die beiden an dem Staat DDR tatsächlich fanden, will man gar nicht erst verstehen. Anders bei Kurt, Charlottes Sohn. René Schwittay tritt zunächst als dementer Greis auf, der im Nachwende-Deutschland seine Sprache verloren hat, später jünger, als von Gulag-Albträumen geplagter Historiker, der zweifelt, aber keinen offenen Widerspruch wagt: „Ist es nicht ein Fortschritt, wenn man die Leute – anstatt sie zu erschießen – aus der Partei ausschließt?“.
Kurts Frau Irina, feinnervig gespielt vom Neuzugang Nadine Nollau, ist so etwas wie das wunde Herz dieser Familie: eine Russin, die im Krieg gegen Nazideutschland kämpfte, glasklar sieht, was in der DDR falsch läuft und als Antwort auf die Verzweiflung darüber nur den Alkohol findet – bei nach außen bestmöglicher Haltung. Dialog mit dem Sohn, Alexander, ist da für beide längst nicht mehr möglich – wie überhaupt das Schweigen zwischen den Generationen ein Hauptthema des Abends ist.
Für die komische Note ist Irinas Mutter zuständig, die Rita Feldmeier (langer Zopf, blumige Bluse) als herzerweichendes Klischee des russischen Mütterchens spielt. Von großer Politik weiß sie nichts, noch will sie’s wissen – und freut sich einfach über die schönen Lederschuhe, die sie die paar Jährchen bis zum Ende noch tragen darf. Hier, wo es ums Urmenschlichste, um Alter, Vergessen und nahen Tod geht, kann „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ dann doch berühren. Und am Ende zeigen die tanzenden Totenmasken die Richtung an, in die es für alle geht.
Dritter Akt: Fulminantes Finale mit Thomas Köck
Thomas Köcks „paradies spielen“ ist aus anderem Stoff. Die zweite Inszenierung des Eröffnungsabends in der Reithalle beginnt mit dem verbrannten, fast toten Leib auf einer Intensivstation – eines der Bilder im Stück für die lebensgefährlich erkrankte Welt, in der wir leben. Wo Ruge den Fokus auf einzelne Biografien legt, tritt Köck drei Schritte zurück und nimmt das große Ganze in den Blick. Die Funktionsweise des globalen Kapitalismus. Den menschlichen Drang, sich selbst zu zerstören. Den selbstgemachten Irrsinn der Klimakatastrophe.
Um all das unterzubringen, muss auch die Regie drei Gänge hochschalten. „paradies spielen“ in der Regie von Moritz Peters ist hochtourig durchkomponiertes Theater, das sich, um dem Anspruch seiner Vorlage gerecht zu werden, aller verfügbaren Mittel bedient: ein hochdisziplinierter Chor, übersteuerte Beschleunigungsbeats (Sound: Marc Eisenschink), hysterisch überdrehte Dialoge, Videomaterial von Bikiniwerbung, Müllhalden und Blutgefäßen. Es wird live gesungen, gebrüllt und Kunstblut gibt es auch.
Ein unerhört dichter, geradezu schwindelerregender Abend
Dennoch: „paradies spielen“ ist ein gedanklich unerhört dichter, geradezu schwindelerregender Abend. Das liegt an dem sich vor keiner Überforderung fürchtenden Text von Thomas Köck, der keine Silbe dem Zufall überlässt. Und es liegt an dem siebenköpfigen Ensemble, das sich auf den Text stürzt wie auf gefundenes Fressen. Jonas Götzinger, Laura Maria Hänsel, Franziska Melzer, Jon-Kaare Koppe, Mascha Schneider, Philipp Mauritz und Arne Lenk, sie alle sind der „ausgebrannte Chor im ewigen ICE der Spätmoderne“, aber auch deutlich erkennbare einzelne Figuren. Am eindrücklichsten Arne Lenk, der sich vom Null-Acht-Fuffzehn-Bahnbegleiter zum Amokläufer hochschraubt, und auf dem Weg dahin Elvis-Lieder gurrt.
„die grenzen sind jetzt wieder zu die/ wunden sind noch offen“, sagt der Chor einmal. So verlässt man diesen Abend: wund, hochgradig schmerzempfindlich für das, woran diese Zeit krankt. Und man selbst vielleicht auch. Denn auch das weiß dieser kluge Text natürlich: „vom fleisch dem eigenen merken/wir nichts solange es/nicht blutet oder brennt“. Hier ist er übergesprungen, der Funke.
"In Zeiten des abnehmenden Lichts", wieder am 30.9. sowie am 7.,13. und 14.10. jeweils um 19.30 Uhr im Großen Haus des Hans Otto Theaters
"Paradies spielen", wieder am 7., 20. und 31.10. jeweils um 19:30 Uhr in der Reithalle des Hans Otto Theaters