Comic-Bestenliste: Die besten Comics 2020 – Lars von Törnes Favoriten
Welches sind die besten Comics des Jahres? Das fragen wir unsere Leser und eine Fachjury. Heute: Die Top-5 von Tagesspiegel-Redakteur Lars von Törne.
Auch in diesem Jahr fragen wir unsere Leserinnen und Leser wieder, welches für sie die besten Comics der vergangenen zwölf Monate waren - hier eine erste Auswahl der Ergebnisse - unter allen Einsendenden werden wertvolle Buchpakete verlost.
Parallel dazu ist wie bereits in den vergangenen Jahren wieder eine Fachjury gefragt. Die besteht in diesem Jahr aus acht Autorinnen und Autoren der Tagesspiegel-Comicseiten: Barbara Buchholz, Birte Förster, Christian Endres, Julia Frese, Moritz Honert, Sabine Scholz, Ralph Trommer, Lars von Törne.
Die Mitglieder der Jury küren in einem ersten Durchgang ihre fünf persönlichen Top-Comics des Jahres, die in den vergangenen zwölf Monaten auf Deutsch erschienen sind. Jeder individuelle Favorit wird von den Jurymitgliedern mit Punkten von 5 (Favorit) bis 1 (fünftbester Comic) beurteilt.
Daraus ergibt sich dann die Shortlist, auf der alle Titel mit mindestens fünf Punkten oder mindestens zwei Nennungen landen. Diese Shortlist wird abschließend von allen acht Jurymitgliedern erneut mit Punkten bewertet - daraus ergab sich die Rangfolge der besten Comics des Jahres, die am 17. Dezember im Tagesspiegel veröffentlicht wird.
Die Favoriten von Tagesspiegel-Redakteur Lars von Törne
Platz 5: Martin Panchaud – Die Farbe der Dinge
Der Schweizer Martin Panchaud führt ein vor 22 Jahren von dem Kanadier Shane Simmons gestartetes Experiment fort: Wie überzeugend lässt sich eine visuelle Geschichte erzählen, deren Figuren nur als Punkte gezeichnet werden? Während Simmons sich damals radikal auf Punkte und ihnen zugeordnete Linien beschränkte, lässt Panchaud seine Figuren in „Die Farbe der Dinge“ in einer aus der Vogelperspektive gezeichneten Infografik-Welt agieren. Und in der ist die Hölle los, nachdem ein 14-jähriges, von seinen Londoner Altersgenossen gemobbtes Muttersöhnchen zum millionenschweren Wettgewinner wird. Ab dann wandelt sich die Geschichte vom traurigen Teenager-Drama zur spektakulären Krimi-Groteske voll irrwitziger Wendungen. Panchaud zeigt zwar die Orte der Handlung und wichtige Objekte mit großer Liebe zum Detail, die Figuren bleiben aber konsequent gesichts- und körperlos. Diese visuelle Reduktion zwingt den Leser zur Fokussierung auf die Dialoge und den Plot, und die haben es in sich. Als sich die Hauptfigur irgendwann von falschen Freunden und einer kaputten Familie freistrampelt, steuert die Geschichte in wildem Zickzack auf einen Showdown zu, den man so schnell nicht vergisst.
Platz 4: Taiyo Matsumoto – Sunny
Er ist Gangster-Fluchtwagen, Raumschiff oder Liebesnest – ein abgewrackter Nissan Sunny dient den Pflegekindern im Heim „Star Kids“ als Vehikel, um zumindest in Gedanken dem oft traurigen Alltag zu entfliehen. Den bringt Taiyo Matsumoto in kunstvollen Bildern zu Papier, die eine große Nähe zu den jungen Hauptfiguren vermitteln. Die mit zarten Linien gezeichneten und teilweise aquarellierten Panels beschränken sich oft auf die Gesichter der Protagonisten, in denen Trauer und Hoffnung, Freude und Schmerz zu lesen sind. Nach und nach arbeitet der selbst in einem Kinderheim aufgewachsene Autor die komplexen Charaktere der Heimbewohner, ihre Marotten und die Beziehungen zueinander heraus. Die Figuren sind bei weitem nicht so wild wie die Kids im Matsumotos grandiosem Straßenkinder-Thriller „Tekkonen Konkreet“, teilen mit denen aber grundlegende Erfahrungen wie Einsamkeit, Suche nach Zugehörigkeit und einen trotz aller Widernisse großen Lebensmut.
Platz 3: Büke Schwarz – Jein
Kluge, oft witzige Kommentare zu Kunst und Politik. Klare Charakterzeichnung und wohldosierte visuelle Experimente. Eine offensichtlich autobiografisch grundierte Geschichte, die nah am echten Leben dran ist, aber sich genug dramaturgische Freiheiten erlaubt, um spannend zu sein. „Jein“ von Büke Schwarz erzählt vom Alltag einer Berliner Künstlerin, deren türkische Wurzeln ihr Leben mehr bestimmen, als ihr lieb ist – von der Wahrnehmung in der deutschen Öffentlichkeit als Deutsch-Türkin bis hin zu dem Druck, sich 2017 anlässlich des kontroversen Verfassungsreferendums in der Türkei gegenüber ihrer Familie und dem Herkunftsland ihrer Eltern positionieren zu müssen. Aktuell, relevant und zudem sehr unterhaltsam.
Platz 2: Uli Oesterle – Vatermilch
Der Münchener Comicautor Uli Oesterle hat für seine auf vier Bücher angelegte Comicerzählung „Vatermilch“ die eigene Familiengeschichte als Ausgangspunkt genommen und leicht fiktionalisiert. Die Erzählung beginnt mit dem Tod des Vaters, eines verantwortungslosen Lebemanns. Abwechselnd lässt der Autor seine Leser am Leben des Vaters im Sommer 1975 und dem des erwachsenen Sohnes im Sommer 2005 teilhaben. Dem Vater sind der Alkohol, das Nachtleben und andere Frauen wichtiger als die eigene Familie. Und die beiden Männer verbindet mehr, als dem Sohn lieb ist. Das ist lebendig, mit gutem Gespür für menschliche Schwächen und immer wieder auch humorvoll erzählt, die Dramaturgie ist spannend aufgebaut, wozu auch überzeugend angelegte Nebenfiguren beitragen. Die größte Stärke von Oesterle sind seine Zeichnungen und sein Gespür für grafische Kompositionen. Ganz beson-ders beeindrucken hier die ausdrucksstarken Charakterköpfe, die Oesterle mit leicht karikierender Überzeichnung zu Papier bringt. Deren Gesichtsausdrücke sind mit feinem Strich nuanciert, sodass es oft keiner weiteren Worte mehr bedarf, um zu verstehen, was in den Figuren vorgeht. Das visuelle Erlebnis wird verstärkt durch den geschickten Einsatz von Schwarzflächen und Lichteffekten sowie den dynamische Zeichenstrich, der überzeugend das Zeitkolorit vor allem der 70er Jahre einfängt.
Platz 1: Max Baitinger – Happy Place
Zweidimensionale Kunstfiguren werden lebendig und bescheren ihrem Schöpfer aufregende Abenteuer, tierische Kindheitshelden und diabolische Besucher schenken Ausfluchten aus dem tristen Alltag, abstrakte Gedanken und Geräusche nehmen physische Gestalt an – so kann es aus aussehen, wenn Träume Wirklichkeit werden. Der Leipziger Zeichner Max Baitinger hat für sein jüngstes Buch „Happy Place“ ein gutes Dutzend Comic-Episoden zusammengeführt, die durch surrealistische Fantasie und einen melancholisch angehauchten Witz bestechen. Nach seinen Büchern „Röhner“ und „Birgit“ beweist der Autor hier ein weiters Mal sein feines Gespür für die Absurditäten des menschlichen Alltags. Mit wenigen Strichen und einer dezent pastellfarbenen Kolorierung lässt er hier einen eigenen Kosmos lebendig werden. Baitingers Ich-Erzähler kommentiert die Erlebnisse mit subtiler Ironie, neben zahlreichen Fantasiegestalten tummeln sich hier auch vertraute Figuren und Konzepte aus dem echten Leben, die er mit teils absurdem Humor in seine Gedankenspiele einbaut. „Happy Place“ lädt dazu ein, den eigenen Alltag zu hinterfragen, nicht alles ganz so ernst zu nehmen und zumindest in Gedanken mal aus vertrauten Bahnen auszubrechen.
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