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Wiedersehen: Vater und Sohn in einer Szene zu Beginn von „Vatermilch“.
© Carlsen

Gezeichnetes Familiendrama: Der fremde Vater

Uli Oesterle erweist sich mit seiner autobiografisch inspirierten Erzählung „Vatermilch“ ein weiteres Mal als einer der herausragenden deutschen Comiczeichner.

In hohem Bogen fliegt Big Jim vom Balkon und landet auf dem Steinboden. Von da an hat die Action-Figur, die eben noch den kleinen Victor begeistert hat, ein Loch im Kopf und wird für Victors Vater zum Menetekel.

Eigentlich wollte der verantwortungslose Lebemann Rufus Himmelstoss mit dem Geschenk die Zuneigung seines Sohnes erkaufen. Doch seine Frau wirft an diesem Sommerabend des Jahres 1975 erst den Mann und dann auch Big Jim aus der Wohnung. Als das Leben des Vaters kurz darauf vollends aus der Bahn gerät, wird die Plastikfigur zum Indiz einer Schuld, von der er sich nicht wieder erholen wird.

Der Münchener Comicautor Uli Oesterle hat für seine auf vier Bücher angelegte Comicerzählung „Vatermilch“, deren erster Teil soeben erschienen ist, die eigene Familiengeschichte als Ausgangspunkt genommen. Oesterles Vater verließ die Familie, als der Sohn sieben war, landete auf der Straße. 2010 bekam Oesterle eine amtliche Mitteilung, dass der Vater gestorben war.

Mit dem Tod des Vaters und dem Besuch des Ich-Erzählers an dessen offenem Sarg beginnt auch „Vatermilch – Buch 1: Die Irrfahrten des Rufus Himmelstoss“ (Carlsen, 128 S., 20 €). In Rück- und Vorblenden lässt der Autor seine Leser am Leben des Vaters im Sommer 1975 und dem des erwachsenen Sohnes im Sommer 2005 teilhaben.

Die beiden Männer verbindet mehr, als dem Sohn lieb ist. Beide haben Schwierigkeiten, Verantwortung für ihre Familie zu übernehmen, der Alltag engt sie ein, der Alkohol und das Nachtleben sind ein willkommener Ausweg – und beide nennen ihre Partnerin „Zuckerwürfel“.

Die Pflichten des Alltags engen sie ein

Das ist lebendig und immer wieder auch humorvoll erzählt, die Dramaturgie ist spannend aufgebaut. Die größte Stärke von Oesterle sind aber seine Zeichnungen und sein Gespür für grafische Kompositionen, die schon seine letzte längere Erzählung „Hector Umbra“ vor gut zehn Jahren zu einem der damals herausragenden Comics machten.

Sound der Zeit: Eine Szene aus „Vatermilch“.
Sound der Zeit: Eine Szene aus „Vatermilch“.
© Carlsen

In „Vatermilch“ beeindrucken besonders die ausdrucksstarken Charakterköpfe, die Oesterle mit leicht karikierender Überzeichnung zu Papier bringt. Deren Gesichtsausdrücke sind mit feinem Strich nuanciert, sodass es oft keiner weiteren Worte mehr bedarf, um zu verstehen, was in den Figuren vorgeht.

Und wie Oesterle das Zeitkolorit vor allem der 70er Jahre einfängt, ist spektakulär. Da stimmt von der zeittypischen Kleidung über die Autos und Häuser bis zur Musik, die in den Nachtleben-Szenen durchs Bild wabert, einfach alles.

Der Autor taucht als gespensterhafte Erscheinung auf

Eine zeichnerische Besonderheit ist zudem, wie der Künstler mit Schwarzflächen und wenigen akzentuierenden Zusatzfarben arbeitet. Statt durch sichtbare Linien werden Figuren und Räume hier oft durch Lichteffekte, Schatten und die Kolorierung definiert, was den Bildern eine fast plastische Anmutung gibt. Und sein dynamischer Zeichenstrich verleiht auch eigentlich leblosen Objekten und Kulissen bemerkenswerte Vitalität.

So wir die eigentlich tragische Geschichte, die hier erzählt wird, zu einem Lesegenuss, der durch gut ausgearbeitete Nebenfiguren noch verstärkt wird.

Das Titelbild des besprochenen Buches.
Das Titelbild des besprochenen Buches.
© Carlsen

Nur ein Auftritt provoziere beim Lesen Irritation: An einigen, wenigen Stellen hat sich Autor Oesterle als gespensterhaft grüne Erscheinung selbst in die Handlung gezeichnet. Wie ein kleines Teufelchen provoziert er seinen Erzähler Victor Himmelstoss zu egozentrischen Gedanken oder Handlungen. Dessen innere Konflikte sind aber auch so schon deutlich genug zu erkennen – darauf muss der Leser durch eine zusätzliche Figur nicht noch einmal hingewiesen werden.

Dennoch ist „Vatermilch“ schon jetzt einer der stärksten deutschen Comics des Jahres, der kürzlich auch auf Platz 5 der Bestenliste von 30 Comic-Kritiker*innen landete.

Der Band entstand auch mit Förderung der Berthold-Leibinger-Stiftung, die Oesterle 2015 für das „Vatermilch“-Exposé den mit 15.000 Euro dotierten Comicbuchpreis verlieh - der Autor dieses Textes war damals Mitglied der Jury.

Wer sich auf die Geschichte einlässt, braucht allerdings Geduld, da es ja erst der Auftaktband einer Tetralogie ist. Bis die Leser erfahren, wie die Geschichte weitergeht, dürfte es angesichts des hohen Arbeitsaufwands beim Comiczeichnen noch Jahre dauern.

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