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Splitter aus einsamen Lebenswelten: Die Eröffnungsseite von „Tekkon Kinkreet“.
© Cross Cult

„Tekkon Kinkreet“ von Taiyō Matsumoto: Hoffentlich ist es Beton

Im Manga „Tekkon Kinkreet“ verteidigen über Stadtdächern thronende Könige der Straße ihren Lebensraum – und vermitteln Wissenswertes über niederen Adel sowie die Belastbarkeit von Luftschlössern.

Der allgegenwärtige Begriff „Gentrifizierung“ beinhaltet das englische Wort „Gentry“, welches für den Landadel steht, den es im achtzehnten Jahrhundert von den Stadträndern zurück in die Metropolen trieb. Der Titel von Taiyō Matsumotos Buch „Tekkon Kinkreet“ stellt die verballhornte Aussprache für Stahlbeton (Tekkin Konkurīto) wortspielerisch als grammatikalische Gentrifizierung dar und fasst so kulturprägende Einflüsse bildungsferner und an den Rand gedrängter Existenzen auf den alltäglichen Sprachgebrauch pointiert zusammen.

Stahlbeton, welcher zum Einsatz kommt, wenn die Gesamttragfähigkeit eines Gebäudes gesichert werden muss, ist zudem eine hübsche Allegorie auf die Funktion von Kuro und Shiro, den beiden auf der Straße lebenden und von der Polizei unbehelligten elternlosen Minderjährigen und Kleinkriminellen, die durch diese vom Gesetz verliehene Immunität als ungekrönte Oberhäupter von Takara Town fungieren.

Immunität bedeutet aber ebenso Distanz. Und so erfahren die beiden Hauptfiguren Identitätsstiftung statt durch Bezugspersonen fast ausschließlich seitens eines Molochs aus Stahl und Beton. Den verteidigen sie denn auch folgerichtig und den sie umgebenden Umweltbedingungen gerecht werdend unerbittlich und äußerst brutal gegen expandierende Gangstersyndikate. Die erträumen sich Takara Town als einen zukünftigen Vergnügungspark für Wohlsituierte und somit einträgliche Geldquelle.

 Nimm zwei oder gemeinsam einsam

Visuell passend umgesetzt werden diese Inbesitznahmen zu eigenen Bedingungen von Taiyō Matsumoto – der bei einem längeren Aufenthalt in Europa Gefallen an den Arbeiten von unter anderem Moebius und Bilal findet und diese später in einem Interview als prägende Einflüsse benennt – mittels Anleihen beim europäischen Comic in sprunghafter japanischer Seitendynamik.

Das kann ebenso als Metapher auf den hier dargestellten Zusammenprall zweier einander wesensfremder Gewalt-Kulturen verstanden werden: Zum einen symbolisiert durch das in sich schon gegensätzliche Gespann Kuro und Shiro und deren spontane Aggressionsausbrüche, zum anderen anhand einer sich kalkulierter Machtdemonstrationen bedienender Verbrecherorganisation, deren nach außen zur Schau gestellte Homogenität jedoch Fassadencharakter besitzt, was an internen Differenzen und Machtkämpfen ablesbar ist.

Die vielschichtige Zweipoligkeit der sich aufeinander beziehenden und doch gegensätzlichen Wesenheiten, ähnlich dem Yin-und-Yang-Prinzip, zieht sich durch den gesamten Comic und wird später noch um eine mörderische Dreieinigkeit ergänzt. Ein Killer-Trio soll im Auftrag der mafiösen Architekten des Stadtumbaus die widerborstigen und den Geschäftsinteressen im Wege stehenden Kids aus dem Weg räumen.

Bedeutungsvolle Aufladung erfährt das an sich simple Konstrukt der Handlung also durch die unterschiedlichen Gleichnisse und entfaltet so innerhalb der Versuchsanordnung eines Zusammenpralls visueller und kultureller Traditionen aus Europa und Asien zusätzliche dramaturgische Wirkung – ein Verfahren, dessen sich Atsushi Kaneko im eurozentrischen „Wet Moon“ in ähnlicher, wenngleich wesentlich kühler inszenierter Weise bediente.

Und um noch eine labelfreudige Empfehlung abzugeben: Die Wut heimatloser und zu Profitzwecken an den Rand gedrängter junger Menschen, die sich in „Tekkon Kinkreet“ Bahn bricht, ist ungezügelt und erbarmungslos, daher wäre dieser Manga-Dessinée-Hybrid eher als Coming of Rage denn als Coming of Age zu klassifizieren.

Taiyō Matsumoto: Tekkon Kinkreet, Cross Cult, 580 Seiten, 32,00 €

Oliver Ristau

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