"Halbwegs auf Flamme halten": Olympische Hängepartie für Potsdams Spitzensport
Wegen der Coronakrise ist unklar, wann Olympia und Paralympics in Tokio stattfinden können. Ein kleiner Kreis Auserwählter darf nach einer Untersuchung weiter am Luftschiffhafen trainieren. Alle warten auf eine Entscheidung.
Potsdam - Die Welt steckt wegen der Coronapandemie in einer Extremsituation. „Da ist der Sport nicht das Wichtigste im Leben“, sagt Harry Kappell. Der Potsdamer Bereichsleiter des Olympiastützpunktes Brandenburg (OSP) fügt hinzu: „Aber im Mikrokosmos der Sportler und Trainer ist er eben doch sehr wichtig. Die Unsicherheit sorgt bei vielen für Zukunftsängste.“ Über mehrere Jahre haben Athleten mit ihren Coaches auf die Olympischen und Paralympischen Spiele in Tokio hingearbeitet, die eigentlich diesen Sommer stattfinden sollen. Inzwischen thematisieren Japans Regierung und auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) öffentlich eine Verschiebung. Das IOC kündigte eine Entscheidung binnen vier Wochen an. „Es braucht schnell Klarheit, damit alle wissen, wie es weitergeht“, fordert Kappell.
Sondergenehmigung für etwa 30 bis 40 Athleten
Solange die Olympia-Frage ungeklärt ist, wird am OSP im Luftschiffhafen der Trainingsbetrieb mit einem „Notfallplan“ aufrechterhalten. Von der generellen Schließung aller Sportanlagen bis vorerst 19. April wird in Potsdam laut Kappell für etwa 30 bis 40 Athleten, denen aktuell eine große Chance auf die Teilnahme an den Spielen attestiert wird, eine Ausnahme gemacht. Die Sondergenehmigung zum Training sei mit dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), den Spitzenverbänden, Land und Stadt abgestimmt worden, erklärt der OSP-Bereichsleiter. Am Montag und Dienstag wurden und werden zudem alle Involvierten dieses Trainingsbetriebs in der Hochschulambulanz der Universität Potsdam medizinisch gecheckt, um ihre Tauglichkeit festzustellen.
Nachdem am Sonntag nochmals schärfere Regeln für das gesellschaftliche Leben erlassen worden waren, wird auch am OSP justiert. „Es waren an sich schon kleine Trainingsgruppen. Jetzt werden sie teilweise noch verringert“, sagt Kappell. „Zum Beispiel trainieren die Kanuten zeitlich versetzt, sodass nur drei oder vier Personen gemeinsam unterwegs sind.“ Alle seien intensiv darauf bedacht, die Risiken so gering wie möglich zu halten.
Bei Verschiebung: Trainingsneustart nach Regenerationsphase
Arndt Hanisch ist der leitende Kanu-Bundestrainer und am Luftschiffhafen tätig. Die Leere am Standort bezeichnet er als „spooky“, gespenstisch. Für einen Coach wie ihn gebe es eine Maxime bei der Arbeit: „Planung, Planung, Planung. Nur wer strukturiert vorgeht, kann Erfolg haben.“ Doch sei das derzeit nicht mehr möglich. „Wir werden nur von einer Welle zur nächsten geschmissen. Viele Wettkämpfe sind abgesagt, der Qualifikationsweg ist völlig fraglich. Wir steuern gerade ohne klare Ziele herum.“ Daher werde am Potsdamer Kanu-Bundesstützpunkt, wo kurzerhand die Weltklasse-Paddler Max Rendschmidt, Max Hoff und Tobias Schultz aus Nordrhein-Westfalen aufgenommen wurden, nur „erhaltendes Training“ durchgeführt, die Aktiven „halbwegs auf Flamme gehalten“.
Auch bei anderen Sportarten wird das so gehandhabt. Etwa bei den Gehern, Modernen Fünfkämpfern und Schwimmern. „Jetzt weiter voll durchzuziehen, macht keinen Sinn“, sagt Potsdams leitender Schwimm-Bundesstützpunkttrainer Jörg Hoffmann. „Wir können die Sportler nicht dauerhaft heizen lassen, denn sonst verbrennen sie, wenn es zu einer Verschiebung der Spiele kommen sollte.“ Olympia in Tokio wenige Monate später, nächstes Jahr oder sogar erst 2022 – das sind Ideen, die kursieren. Ein klarer, periodischer Leistungsaufbau von vier Jahren zwischen den Spielen mit sukzessiver Belastungssteigerung bestimmt den Takt der olympischen und paralympischen Sportarten. Im Falle einer Verschiebung wäre der Rhythmus gebrochen. „Trainingsmethodisch ließe sich ein Neustart gut lösen“, meint Hoffmann. „Dafür bräuchte es jetzt aber schnell Klarheit über den Zielzeitpunkt. Dann könnte nach einer Regenerationsphase das Training wieder voll hochgefahren werden.“ Gerade jüngeren Sportlern könnte es helfen, etwas mehr Vorbereitungszeit zu haben, sagt der Schwimmcoach. „Für die Älteren wird es hingegen wohl problematischer sein, auf dem Level dranzuhängen. Auch weil sie in der privaten und beruflichen Entwicklung weiter sind.“
Viele Sorgen um den Sportnachwuchs
Hoffmanns Kollege Hanisch denkt da bei den Kanuten an die bereits mit Olympiagold dekorierten Ronald Rauhe, 38 Jahre alt, Sebastian Brendel (32), und Franziska John (30). Sie, sagt er, seien „nicht mehr taufrisch“ und müssten sich die Frage stellen: Kann und will ich noch weitermachen? Konkrete Gedanken dazu möchten sich die Aktiven bisher nicht machen. Zunächst abwarten, wann die Spiele stattfinden sollen, und dann die eigene persönliche Planung klären, ist ihr Credo. „Aus meiner Sicht kann Olympia jedenfalls nicht diesen Sommer ausgetragen werden“, sagt Rauhe. „Die olympische Philosophie der Chancengleichheit wäre nicht gegeben.“ Brendel ergänzt: „Ich verstehe, dass sich das IOC noch schwer tut mit einer Entscheidung. Aber unter dem Strich geht es um die Gesundheit vieler Menschen – und darauf muss Rücksicht genommen werden.“ Er sowie viele seiner Mitstreiter fänden es am sinnvollsten und fairsten, wenn ein neuer Termin festgelegt werden würden.
OSP-Chef Kappell ist überzeugt, dass in Potsdam und Brandenburg „mit den vielen starken Partnern“ die Kursänderung durch eine mögliche Olympiaverschiebung gut gestemmt werden könnte. „Wir werden Erfolgsleistungen abrufen, wann auch immer“, ist sich Hanisch ebenfalls sicher. „Aber es gibt auch ein Leben nach Tokio“, sagt er. Wegen der aktuellen Lage macht sich der Kanu-Coach zudem viele Sorgen um den Sportnachwuchs, der auf unbestimmte Zeit weder Wettkämpfe noch geregeltes Training absolvieren kann. „Es besteht die Gefahr, dass wir viele Talente verlieren, der Unterbau wegfällt.“ Wie in vielen Bereich droht auch im Sport das System aufgrund des Coronavrius zusammenzubrechen.
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