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Vorigen Sommer paddelte Jürgen Eschert gut 180 Kilometer von Tokio entfernt über den Sagamisee, auf dem er 1964 Olympiasieger wurde.
©  privat

Olympia in Tokio: Jürgen Escherts Lohn für den Mut

Der Potsdamer Kanute Jürgen Eschert wurde vor 55 Jahren in Tokio erster Brandenburger Olympiasieger. 2020 geht es an den Ort seiner Goldsaat zurück.

Im Moment der Rückkehr wurden alle Erinnerungen wach. Als das Boot durchs Wasser glitt, Jürgen Eschert das Paddel in den Sagamisee tauchte, machte die Zeit einen Sprung. Zurück ins Jahr 1964, als Eschert bei den Olympischen Spielen in Tokio als erster deutscher Canadierfahrer und als erster Brandenburger Athlet Gold gewann. Auf einmal war alles wieder da – die Nervosität und die Anstrengung, der Rausch „als würde man auf der Autobahn 230 Stundenkilometer fahren“, die Freude, die Tränen. 55 Jahre nach seinem größten Triumph durfte der 78-Jährige im vergangenen Sommer am Ort dieser Meisterleistung noch einmal erleben, was sein Leben geprägt hat.

Im kommenden Jahr gibt es in Tokio wieder Olympische Spiele. Für die besten Sportler der Welt erfüllt sich der Traum, einmal im Glanz der fünf Ringe zu starten. „Die haben vor sich, was ich erlebt habe“, sagt Eschert über die Olympioniken 2020.

Der Olympiasieg prägte das Leben des heute 78-jährigen Jürgen Eschert.
Der Olympiasieg prägte das Leben des heute 78-jährigen Jürgen Eschert.
© Andreas Klaer

Der gebürtige Magdeburger, der mit seinem Sieg 1964 die Goldspur gelegt hat, die den KC Potsdam in den folgenden Jahrzehnten mit bisher 18 weiteren Olympiasiegen zum erfolgreichsten Kanuclub der Welt gemacht hat, weiß, was es braucht, um es nach ganz oben zu schaffen. Wer Olympiasieger werden will, muss etwas besser machen als die Konkurrenz. Emil Zatopek, der beste Langstreckenläufer seiner Zeit und vierfache Olympiasieger 1948 und 1952, trainierte in Gummistiefeln, um mehr Kraft zu bekommen.

Eine Taktikveränderung führte ihn an die Weltspitze

Die Bereitschaft, etwas auszuprobieren, nennt Jürgen Eschert „einen wichtigen Erfolgsfaktor“. Zu Beginn der 1960er-Jahre gehörte der damals noch gesamtdeutsche Kanu-Rennsport nicht zur Weltspitze. Dort paddelten Russen, Ungarn, Tschechen und Rumänen um die Medaillen. Eschert war 20 Jahre alt, als er das erste Mal bei einem internationalen Wettkampf antrat – bei den Europameisterschaften. Er wurde über die damals noch üblichen 10.000 Meter Sechster. Er begann, sich Gedanken zu machen, wie er sich verbessern konnte. Antworten fand er beim neuseeländischen Lauftrainer Arthur Lydiard, der eine Ausdauermethode entwickelte, nach der viele Weltklasseläufer trainierten und die bis heute Gültigkeit hat. Eschert trainierte für die 1000 Meter im Canadier wie ein 1500-Meter-Läufer. Statt kurzer, schneller Intervalle paddelte er lange Strecken in einem hohen Tempo. Täglich bis zu 45 Kilometer. Bei den Ruderern schaute er sich ab, wie gleichmäßig die Skulls durch Wasser zogen. „So muss mein ganzes Boot laufen“, dachte er sich, feilte an seiner Technik, bis sein Boot ohne jede unnötige Bewegung durchs Wasser glitt.

Den Trip nach Tokio unternahmen Sebastian Brendel und sein „Mentor“ Jürgen Eschert gemeinsam.
Den Trip nach Tokio unternahmen Sebastian Brendel und sein „Mentor“ Jürgen Eschert gemeinsam.
© privat

Und er änderte seine Taktik, nachdem ihm ein russischer Konkurrent vor einer Regatta in Rostock dazu geraten hatte. Er fuhr die ersten 500 Meter mit mehr Zurückhaltung, griff nach der Hälfte des Rennens an, legte nach 750 Metern nochmals zu und hatte nach 1000 Metern zum ersten Mal die gesamte Weltspitze hinter sich gelassen. Jahre später prägten Wissenschaftler den Begriff der „Pace-Strategie“: Er beschreibt die geplante Renntaktik eines Athleten, die für verschiedene Streckenabschnitte bestimmte Geschwindigkeiten und Zwischenzeiten vorsieht. In einer Studie zeigten Wissenschaftler, dass das Gehirn das Leistungsniveau vorausschauend anpasst, um einen späteren Leistungseinbruch zu verhindern. Marathonläufer Waldemar Cierpinski war bei seinem Olympiasieg 1976 in Montreal auch deshalb erfolgreich, weil er sich konsequent an seine zurechtgelegte Renntaktik hielt.

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Auch wenn es der große Wunsch war, an Olympischen Spielen teilzunehmen – Olympiasieger zu werden, konnte sich Eschert auch ein halbes Jahr vor Tokio nicht vorstellen. Zum Siegen gehört die Überzeugung in die eigenen Stärken und Fähigkeiten. Diese wuchs erst mit den Erfolgen. Im Olympiajahr gewann Eschert alle drei nationalen Qualifikationsrennen und drei internationale Regatten – immer mit der neuen Renntaktik. „Das gab mir viel Selbstsicherheit und ich ahnte, dass ich zu den Favoriten in Tokio gehörte. Damit konnte ich gut umgehen“, sagt er.

Ganz oben angekommen: Jürgen Eschert bei der Siegerehrung nach seiner Goldfahrt 1964 in Tokio.
Ganz oben angekommen: Jürgen Eschert bei der Siegerehrung nach seiner Goldfahrt 1964 in Tokio.
©  dpa

Und er überließ nichts dem Zufall, reiste bereits zwei Wochen vor den Wettkämpfen nach Tokio, um sich an die sieben Stunden Zeitverschiebung und die Bedingungen zu gewöhnen. Er kann sich noch gut an die tschechischen Kanuten erinnern, die erst kurz vor der olympischen Regatta anreisten – und hinterher paddelten, weil sie schlichtweg müde waren.

Der Olympiasieg und die sportliche Karriere haben Escherts weiteres Leben geprägt. Er hatte sich Eigenschaften antrainiert, „die fürs Leben wichtig sind“. Die Schule hatte er zunächst nach der 8. Klasse beendet. Später machte er sein Abitur an der Volkshochschule und absolvierte ein Pädagogik-Fernstudium. „Ich weiß nicht, ob ich das hätte durchziehen können ohne den Leistungssport“, meint er heute. Die Eigenschaften, die es gebraucht hat, um Olympiasieger zu werden, haben ihn auch im Leben vorangetrieben. „Und ich habe gelernt, mit Niederlagen umzugehen“, sagt er.

Jürgen Eschert verspürt große Demut

Davon gab es nicht nur sportliche. Eschert hat auch die Kehrseite des Ruhms kennengelernt – den Fall von ganz oben. Er spreche nicht mehr gern über das Kapitel, als die politische Führung der DDR ihren ersten Kanu-Olympiasieger fallen ließ, weil er in seiner Freizeit ein Sweatshirt mit aufgedruckter USA-Flagge trug – ein Geschenk seines damaligen Rivalen Dennis van Valkenburgh. Er wurde aus dem DDR-Nationalteam ausgeschlossen und musste seine Laufbahn aufgeben.

Politisches Kräftemessen, für das der Sport in Zeiten des Kalten Krieges missbraucht wurde und zwei Olympia-Generationen durch den Boykott der Spiele 1980 in Moskau und 1984 in Los Angeles den großen Traum kostete, gibt es in dieser Form nicht mehr. Eine Bühne für politische Zur-Schaustellung sind Olympische Spiele indes weiterhin. Und längst diktiert der Kommerz, wie sich das große Sportfestival unter den fünf Ringen zu präsentieren hat. Die Spiele 1964 haben 250 Millionen Euro gekostet, die Spiele 2020 an gleicher Stelle werden auf mehr als 20 Milliarden Euro kommen.

Die Welt hat sich in den vergangenen 55 Jahren geändert. Als Eschert im vergangenen Sommer nach Tokio reiste, hatte er sich gefragt, wie die Stadt jetzt aussehen wird. „Tokio war damals schon Wahnsinn“, sagt er, „jetzt haben sie um die Stadt noch einmal eine Stadt gebaut.“ Als er im vergangenen Sommer über den Sagamisee paddelte, empfand er eine tiefe Freude und Dankbarkeit, sich noch einmal so intensiv erinnern zu können. „Und ich spürte eine große Demut vor dem Schicksal anderer, denen es im Laufe der Jahre schlechter ergangen ist“ als ihm. Ihm ist Sport immer ein Anker geblieben.

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