Serie | 70 Jahre PNN - 70 Jahre Stadtgeschichte: „Es kam ganz viel Freiheit ins Leben“
Sieben Zeitzeugen schildern ihre Erlebnisse in 70 Jahren Stadtgeschichte zum Jubiläum der PNN. Fotograf Göran Gnaudschun war in den 90er-Jahren Teil der alternativen Szene in Potsdam.
Potsdam - Mauerfall, Hausbesetzungen, Sanierung der Innenstadt – die 1990er-Jahre waren für Potsdam ein aufregendes Jahrzehnt voll tiefgreifender Veränderungen. Einer, der es hautnah miterlebt hat, ist der gebürtige Potsdamer Göran Gnaudschun. Nach der Wende gehörte er selbst zur Hausbesetzer:innen-Szene, die er unter anderem in seinem Buch „Vorher müsst ihr uns erschießen“ dokumentiert hat.
In den verfallenen Häusern entstand ein alternatives Paralleluniversum
Gnaudschun war gerade 18 Jahre alt, als die Mauer fiel: „Ich wurde erwachsen, als die Welt offen wurde. Es kam ganz viel Freiheit ins Leben, das war grandios.“ Wohnraum war knapp und vor allem junge Menschen mussten oft lange warten, bis ihnen vom Staat eine Wohnung zugewiesen wurde. Gleichzeitig standen viele marode Häuser in der Innenstadt leer. Als die SED sichtlich auf ihr Ende zusteuerte, nahmen sich junge DDR-Bürger:innen einfach das, was sie brauchten. „Ende November 1989 haben wir angefangen, erste Häuser im Holländischen Viertel zu besetzen“, sagt Gnaudschun. „Es hat sich niemand darum gekümmert. Die meisten Ostbürger hatten andere Probleme.“
Die SED hatte viele Häuser verfallen lassen, in einigen Straßenzügen sah es aus wie kurz nach dem Krieg. „Es war total heruntergewirtschaftet, in der Gutenbergstraße gab es kaum Pflaster“, erinnert sich Gnaudschun. „Doch genau dieses Verrottete hatte seinen ganz eigenen Charme.“ Er und seine Freund:innen – „vom Hardcore-Punker bis zum Akademiker“ – richteten sich voller Aufbruchstimmung in dieser Endzeitkulisse ein. Nach und nach entstand ein „alternatives Paralleluniversum“ mit eigenen Treffpunkten, Kneipen und Konzertbühnen. „Hier war unser Freiraum, wir konnten machen, was wir wollten. Geld hat überhaupt keine Rolle gespielt“, sagt Gnaudschun. „Wenn man Bock hatte, eine Kneipe aufzumachen, dann hat man sich ein paar Paletten geholt, einen Tresen gebaut und Bierkästen dahinter gestellt.“ Oder man gründete eine Band: Eine Zeitlang war Gnaudschun Gitarrist der Folk-Punk-Band 44 Leningrad, die sich kurz nach der Wende in Potsdam formiert hatte.
Potsdam wurde Hochburg der Hausbesetzer-Szene
Einen ersten Dämpfer bekam die Euphorie mit der Volkskammerwahl 1990, bei der die CDU gewann: „Damit war das utopische Potenzial für die DDR obsolet“, sagt Gnaudschun. Die Hausbesetzer:innen versuchten, nun wenigstens in den eigenen vier Wänden selbstbestimmt und herrschaftsfrei die Utopie zu leben. Vor allem in den ersten drei Jahren nach der Wende blühte das alternative Leben bunt und wild in Potsdam, ab 1989 gab es rund 70 besetzte Häuser in der Stadt. Als Hochburg der Hausbesetzer:innen lockte Potsdam auch junge Westdeutsche: „Die hatten im Westen kaum Freiräume oder Chancen, was Neues zu machen. Die Gegenkultur dort war komplett von Älteren dominiert, alle Felder waren schon abgesteckt“, sagt Gnaudschun. „Hier konnten sie mitmachen bei etwas Neuem.“
Es kamen jedoch nicht nur westdeutsche Jugendliche in die Stadt, sondern auch westdeutsche Investoren. „Mitte der 90er ging es los, auf einmal tauchten da die ersten bonbonfarbenen Fassaden zwischen den ganzen maroden Häusern auf – wie Fremdkörper“, sagt Gnaudschun. Doch die Ausnahme wurde irgendwann zur Regel und die Sanierung der Innenstadt schritt nach und nach voran. Eine ästhetische Entwicklung, mit der Gnaudschun nichts anfangen konnte: „Man soll zwar etwas Altes sehen, aber man sieht nur die Vorstellung von etwas Altem.“
Heute fühle sich die Stadt ganz anders an
Vermehrt kam es zu Einsätzen der Polizei, vor allem die gewaltsame Räumung der sogenannten Fabrik im September 1993 sorgte für Schlagzeilen: Am Ende brach in dem Haus in der Gutenbergstraße 105 sogar ein Feuer aus, das von der Feuerwehr gelöscht werden musste. „Das war ein Einschnitt in der Szene, das Polizeiaufgebot war echt eine Zäsur“, erinnert sich Gnaudschun. „In der Fabrik wohnten ein paar Freunde von uns, die sind dann bei uns eingezogen.“
Etwa ab 1996 ging die Hochzeit der Hausbesetzungen zu Ende: „Ab da wurde nur noch verteidigt, nicht mehr expandiert“, sagt Gnaudschun. Er selbst studierte damals schon in Leipzig Fotografie, blieb Potsdam aber weiterhin verbunden.
Wenn Gnaudschun heute durch die Stadt geht, gibt es nur wenig, was ihn an die 1990er-Jahre erinnert: „Die Stadt wurde total umgekrempelt. Sie heißt zwar noch so wir früher und auch die ganzen Leute von damals sind noch da, aber sie fühlt sich ganz anders an.“ Viele aus seiner Generation fühlten sich ein Stückweit entheimatet, sagt Gnaudschun: „Kaum jemand sagt: Das hier ist der Ort meiner Kindheit, das erkenne ich wieder. Vieles sieht völlig anders aus.“ Nur wenn er mit Freund:innen von früher zusammenkommt, werden die 1990er wieder präsent: „Dieses Gefühl von damals macht sich ja nicht an den Orten, sondern eher an Menschen fest.“
Mit einer gewissen Wehmut denkt Gnaudschun an die anarchische, freie Zeit Anfang der Neunziger zurück, als Potsdam noch eine ganz andere Atmosphäre ausstrahlte: „Das Grundgefühl war anders, noch nicht so stark von Geld geprägt.“ Heute hingegen komme er sich manchmal vor wie in einer Puppenstube: „Als müsste man direkt hinterm Ortsschild die Hausschuhe anziehen“, sagt Gnaudschun.
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