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Die Autorin Helga Schütz ist auch Gärtnerin. Die Mauer geht 1961 mitten durch ihren Garten in Groß Glienicke.
© Ottmar Winter PNN

Serie | 70 Jahre PNN - 70 Jahre Stadtgeschichte: "Es war noch nicht Beton"

Sieben Zeitzeugen schildern ihre Erlebnisse in 70 Jahren Stadtgeschichte zum Jubiläum der PNN. Helga Schütz hat in den 60ern die enger werdende DDR erlebt.

Als 1961 der Mauerbau beginnt, ist Helga Schütz Studentin an der Filmhochschule „Konrad Wolf“. Ist Mutter, später unfreiwillig freie Autorin. Man müsse das Alltägliche und „das Große“ ja erst wieder zusammenknoten, sagt sie am Tisch in ihrem Babelsberger Haus. Um die Ecke an der Filmuniversität war sie bis 2002 Professorin. Eben noch hat sie im Garten Zahnstocher in die Erde gesteckt, wo mal Orchideen wachsen sollen. Helga Schütz, seit 2018 Potsdams erste Ehrenbürgerin, ist auch Gärtnerin. Es war ihr erster Beruf. Vor dem Schreiben.


Nach Potsdam kommt Helga Schütz 1955. Mit 17. Vom Schreiben noch keine Rede. Sie kommt aus Dresden an die Arbeiter- und Bauernfakultät, um das Abitur nachzuholen. Damals entsteht ihre Bindung zum „alten“ Potsdam. Die Fakultät ist in der Hegelallee. Nebenan im Haus der Offiziere sind polierte Äpfel aufgetürmt. Auf dem Weg zum Bahnhof geht sie durch das kriegsversehrte Zentrum. „Ich hatte die Ruinen eigentlich ganz gern“, sagt sie. Sie erinnern sie an Spuren untergegangener Epochen viel älterer Zeit. „Trümmer, die von alters her da waren.“ 

"Zum Glück hat mich niemand gefragt"

Viel später, als das Stadtschloss wiederaufgebaut werden soll, denkt Helga Schütz: Muss doch nicht sein. Heute sagt sie: „Zum Glück hat mich damals niemand gefragt.“ Heute findet sie auch den Wiederaufbau der 1968 gesprengten Garnisonkirche „in Ordnung“. „Potsdam als Stadt war einfach nicht mehr da. Und jetzt kommt ein bisschen was zurück.“ Was ihr allerdings noch fehlt, um das alte Potsdam im neu aufgebauten auch wiederzuerkennen: die Kanäle.

Als im April 1960 die Sprengung des Stadtschlosses beendet wird, nimmt Helga Schütz das nur aus mittlerer Ferne wahr: Seit 1958 ist sie Dramaturgie-Studentin in Babelsberg. Sie träumt nicht vom Schreiben, sondern davon, ein Kino zu leiten. Sie wohnt im Wohnheim in der ehemaligen Villa des Kammersängers Richard Tauber. Das ganze Haus ist in Einheiten aufgeteilt, Waschmöglichkeit im Keller. Viele Studentinnen haben Kinder, auch die leben dort. „Überall hing Wäsche.“ Auch Helga Schütz bekommt 1959 einen Sohn. Den Wäschetopf, mit dem sie Windeln auskochte, hat sie noch. 

Die Filmhochschule war am Griebnitzsee, die Räume für Dramaturgie in der „Stalinvilla“. Im Garten liegen Faltboote, damit paddelt man nach Sacrow zum Baden. Der kürzeste Weg nach Potsdam führt über die Glienicker Brücke. 1961 ist damit Schluss. Auch mit den Ausflügen nach Berlin, ins Kino am Steinplatz. Helga Schütz erinnert sich an die Radiomeldung am Morgen des 13. August: Es entstehe ein antifaschistischer Schutzwall. Auf die Propaganda fallen die Studenten nicht rein. „Wir wussten genau, warum das passierte: Damit keiner mehr rüber kann.“

Zunächst steht noch keine Mauer. Stattdessen Stacheldraht. „Man sah sich das an und schimpfte, dass man nicht mehr vom Bahnhof Griebnitzsee abfahren konnte. Man dachte: Das kann nicht lange dauern. Erst einmal war es eigentlich nur lästig.“ 

Die Mauer verläuft durch den eigenen Garten

Ab 1962 wohnt sie mit ihrem Mann, dem Regisseur Egon Günther, in Groß Glienicke. Die Mauer verläuft hier durch den eigenen Garten. Ein Wulst aus Stacheldraht. Baden im See unmöglich. Eine tägliche, unmittelbare Begegnung mit der Grenze, „mit einer wirklichen Absurdität“. Ein paar Schritte zu viel, und es kann geschossen werden. Eigentlich Wahnsinn, sagt Helga Schütz heute. Damals Alltag. Eines Morgens hört sie Bulldozer. Der Stacheldraht kommt weg, eine Mauer entsteht. Erst da wird ihr klar: Das geht so schnell nicht wieder weg.

Schütz bekommt keine Stelle und beginnt zu schreiben

Nach dem Diplom 1962 bekommt Helga Schütz keine Stelle. Die Beziehung mit Egon Günther, ihr Dozent und Seminargruppenleiter, gilt als unstatthaft. Was bleibt ihr übrig? Sie schreibt. Kurzfilme zunächst. Im Nachhinein erweist sich das freie Arbeiten als Glück. Sie wird, was sie nicht vorhatte. Schöpferisch. Es entsteht der Film „Wenn du groß bist, lieber Adam“. Erst als Erzählung, die im alten Potsdam spielt. Gedreht wird 1965 in Dresden. Der Junge Adam bekommt hierin eine Taschenlampe geschenkt, die sich als Lügendetektor erweist. Wer lügt, beginnt zu schweben. Und es schweben alle. Der Film wird als eine von zwölf Defa-Produktionen 1965 vom 11. Plenum des ZK verboten. „Eine intellektuelle Spielerei“, heißt die interne Begründung. Bösartige „Tendenzen der Diskriminierung der staatlichen Organe“. Keine „Position von loyalen Staatsbürgern“.

Gedacht war das anders. Nämlich als „Klamauk“, sagt Helga Schütz. Arglos, ja. „Wir haben nicht gedacht, dass wir damit an sämtlichen Stühlen sägen.“ Dass sich damit vielleicht „etwas aufstoßen“ lassen würde, das schon. Keine Furcht vor staatlicher Gängelei? „Es war noch nicht Beton“, sagt Helga Schütz. „Es war erst unangenehmer Stacheldraht.“

Es gibt damals Versuche, „Wenn du groß bist, lieber Adam“ zu „retten“. Auch von Egon Günther. Hilflose Versuche, sagt Schütz. Aus der bissigen Erwachsenenkomödie soll ein Kinderfilm werden. „Das fand ich grausam.“ Das Resultat: eine Verstümmelung. Die Tonspur wird teilweise zerstört. Die Szenaristin Helga Schütz wird nicht gefragt, eine zusammengeflickte Fassung erst 1990 gezeigt. „Auch da hatte ich eigentlich keine Stimme mehr.“ Dennoch setzt sich bei der Restaurierung ihre Idee durch: Die aus dem Drehbuch entfernten Sätze werden eingeblendet. Die Zensur bleibt sichtbar.

Schreiben heißt, bei der Tochter zu sein

Mit dem Verbot von „Wenn du groß bist, lieber Adam“ ist erst einmal Schluss mit Spielfilmen für Helga Schütz. Sie fühlt aber auch: „Meine Filme sind es nicht.“ Sie will Eigenes schreiben. Und noch etwas ist bestimmend für den Weg, den sie ab Mitte der 1960er-Jahre nimmt. 1964 kommt die Tochter zur Welt, mit einer Infektion. Das Mädchen wird nur zwölf Jahre alt werden. Schreiben bedeutet für Helga Schütz damals: zuhause bei der Tochter sein können, so lange es geht. 

1970 erscheint das erste Buch: „Vorgeschichten oder schöne Gegend Probstein“. Die 1960er aber bleiben Jahre mit langem Schatten. Auch die Idee für „Die Schlüssel“ (1974) fällt in die Zeit: Ein weiterer Defa-Film von dem Duo Günther/Schütz, der aus dem Verkehr gezogen wird. Nach dem dritten Verbot („Ursula“, 1978) wird Egon Günther die DDR verlassen. Helga Schütz wird bleiben, und weiterarbeiten. An ihren eigenen Gärten.

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