Neues Buch: Die Geschichte der Potsdamer Hausbesetzer
Hausbesetzer waren in Potsdam einst sehr aktiv. Jakob Warnecke erzählt deren Geschichte in einem neuen Buch.
Potsdam - Ein Land im Taumel. Im Umbruch. Ja, im Einsturz und zugleich mitten dabei, den einsetzenden Aufbruch irgendwie zu gestalten. Im Dezember ’89 scheint fast alles möglich in der DDR. Die Mauer ist gefallen. Doch wie es weitergeht, das weiß niemand so genau.
In Potsdam taucht nur wenige Wochen nach dem Mauerfall ein Flugblatt auf. Es verkündet klar und unmissverständlich: „Wohnraum in Potsdam – Dortustraße 65 besetzt!“ Seit Jahren stünden in der Stadt Häuser leer, heißt es dort weiter. Die Gebäude seien dem Verfall preisgegeben. Wertvoller Wohnraum gehe so verloren. Die Besetzer fordern „ein unabhängiges Jugendzentrum“ in Potsdam und die Zulassung von Wohnkommunen. Auch „Mietrecht für die von Jugendlichen besetzten Häuser und Wohnungen“ wird verlangt. Im Gegenzug bieten die Besetzer die Mithilfe bei der Instandsetzung von besetzten Häusern an. Bei aller denkbaren Konfrontation – man bleibt höflich: „Mit freundlichen Grüßen, die Besetzer“. So endet der Text auf dem Flugblatt.
Potsdams verfallene Innenstadt bot Nährboden für subkulturelle Bewegungen
Knapp 30 Jahre ist dies her. Die einst reichlich verfallene Innenstadt Potsdams, in der ganze Straßenzüge einem Kriegsfilm zur Ehre gereicht hätten – und tatsächlich wurden hier solche Filme gedreht –, bildete einen Nährboden für subkulturelle Bewegungen. Und eben auch für Hausbesetzungen.
Auf die Spuren dieser Szene hat sich in den vergangenen Jahren der Autor Jakob Warnecke begeben. 2017 promovierte der 1977 in Berlin geborene Warnecke an der Universität Leipzig im Fach Geschichte. Das Thema: Die Entstehung, der Wandel und der Niedergang von Hausbesetzungen in Potsdam in den 1980er- und 90er-Jahren. Jetzt ist die Dissertation in leicht veränderter Fassung im Bebra-Verlag erschienen.
Holländisches Viertel war ein Hotspot
Nicht erst seit Dezember 1989, als jenes Flugblatt von der Besetzung der Dortustraße 65 kündete, lebten Menschen in inoffiziellen Wohnungen in Potsdams Innenstadt. „Die tatsächlichen Ausmaße der illegalen Bezüge sind für Potsdam nicht verlässlich quantifizierbar, aber in vielen von Altbauten geprägten Stadtteilen nachweisbar“, schreibt Warnecke in Bezug auf die 1980er-Jahre.
Als ein Hotspot des Schwarzwohnens hatte sich das Holländische Viertel entwickelt. In den letzten Jahren der DDR war ein großer Leerstand in dem Gebiet zu verzeichnen. Warnecke schätzt, dass in dieser Zeit jedoch im Holländischen Viertel in mindestens zehn Häusern Schwarzwohner lebten, also Menschen, die ohne Genehmigung der staatlichen Wohnraumlenkung einzelne Räumlichkeiten in dem historischen Viertel in Besitz nahmen.
Legale Wohnungen waren knapp. Gerade junge Leute mussten oft lange warten, bis ihnen der Staat eine Bleibe zuwies. Wer etwa aus der elterlichen Wohnung ausziehen und im alternativen Milieu Anschluss bekommen wollte, zog bisweilen illegal in eine leerstehende Wohnung. Einige der Bewohner gehörten einer Antifagruppe an, also einer linksalternativen Protestbewegung.
"Plumpsklos auf dem Hof“
Die Schwarzwohner wechselten öfter mal die Behausung. „Die Selbstbefreiung von der staatlichen Wohnraumlenkung kam einer größeren Mobilität zugute. Es war nicht ungewöhnlich, mehrere Male umzuziehen“, schreibt Warnecke. Viele der Wohnungen waren in einem jämmerlichen Zustand, die Häuser von Schwamm und Schimmel durchzogen, die Öfen desolat. „In einigen Häusern existierten keine Toiletten, in anderen nur Plumpsklos auf dem Hof“, so der Autor.
Mit der Grenzöffnung im November 1989 und der neuen Freiheit erblickte nun die Hausbesetzerszene zunehmend das Licht der Öffentlichkeit. Mit dem Flugblatt von der Dortustraße 65 fing es an, später kündeten große Banner an immer mehr Häusern von weiteren Besetzungen. Für die Zeit ab 1989 zählt Warnecke etwa 70 besetzte Gebäude in Potsdam, wobei die Häuser nicht alle gleichzeitig besetzt waren. Im Jahre 1991 sollen es immerhin ungefähr 30 Immobilien gewesen sein. Als „Hauptstadt der Hausbesetzer“ wurde Potsdam in dieser Zeit bisweilen bezeichnet – laut Warnecke jedoch eine Bewertung, die zu hinterfragen sei. Die Zuschreibung als Hausbesetzerhauptstadt beziehe sich auf ein relativ kleines Zeitfenster und hebe auf die Anzahl der besetzten Häuser im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der Stadt ab. Dass es sich jedoch um eher kleine Häuser mit entsprechend wenigen Bewohnern gehandelt habe, sei dabei oft unberücksichtigt geblieben, so Warnecke.
Seuchengefahr und brennendes Haus
Das Kerngebiet der Hausbesetzer auch in den 1990er-Jahren war die Potsdamer Innenstadt, vor allem das Holländische Viertel und die Gutenbergstraße, aber auch in Babelsberg wurden Häuser besetzt. Die Mischung aus schlechter Bausubstanz, Mittellosigkeit der Bewohner und „mangelnden Bewältigungsstrategien“ führte bisweilen dazu, dass junge Besetzer „zur Klientel von Potsdamer Streetworkern gehörten“, analysiert Warnecke die damalige Situation. Müllablagerungen auf den Höfen zogen überdies Ratten an, im Fall der besetzten Dortustraße 5 sah das Ordnungsamt gar eine Seuchengefahr. Dies führte zur Räumung.
Für große Schlagzeilen, verbunden mit heftigen Gewaltvorwürfen gegen die Polizei, sorgte im September 1993 die Räumung der sogenannten „fabrik“ in der Gutenbergstraße 105. Während die Polizei vorrückte, warfen Vermummte Ziegelsteine, Büchsen und Müll vom Dach. Am Ende stand das Haus in Flammen, die Feuerwehr musste löschen. Auch im Falle anderer besetzter Häuser kam es in den 1990er-Jahren immer wieder zu Räumungen, andere Bewohner wichen mehr oder weniger freiwillig. Aus nur wenigen Hausbesetzungen dieser Zeit, so Warnecke, seien langfristige soziokulturelle Projekte hervorgegangen.
INFO: Jakob Warnecke: „Wir können auch anders“; Bebra-Verlag. 286 Seiten; 34 Euro.