30 Jahre fabrik Potsdam: „Was wir hier gemacht haben, ist einmalig“
Vor 30 Jahren gründete sich die fabrik Potsdam. Leitungsteam Sabine Chwalisz und Sven Till über die wilden Anfänge, Professionalisierung – und die Frage: Was, wenn die beiden gehen?
Sven Till, gehen wir zurück zur Geburtsstunde der fabrik: Wer kam damals auf die Idee, die Gutenbergstraße 105 zu besetzen?
SVEN TILL: Ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr. Was ich noch weiß: Wir haben gar nicht gesucht. Wir sind in zwei Höfe gelaufen, und da war ein Gebäude, das war frei. Es war etwas, das aus der Situation im Herbst 1989 heraus entstand.
Als freie Tanzgruppe um die Pädagogin Gabi Grafenhorst hatten wir im September 1989 durch die offizielle Einstufungskommission die Erlaubnis bekommen, öffentliche Auftritte zu absolvieren. Das war ein erster Schritt. Der zweite war die Gründung der fabrik als eigener Ort. Die erste Selbstbeschreibung war damals: freies Kulturzentrum.
Sabine Chwalisz, Sie stießen 1992 aus Westberlin dazu. Ihr erster Eindruck?
SABINE CHWALISZ: Sven hatte mich angesprochen, ob ich in der fabrik einen Kurs unterrichten möchte. Ich war durch Zufall bei den zweiten Tanztagen dagewesen und hatte die Premiere von „Die versteinerte Haut“ gesehen. Da war mir schon klar: Hier in Potsdam ist etwas im Gange.
In Berlin hatte ich das anders erlebt, da gab es eine größere Konfrontation zwischen Ost und West. Da zeichnete sich schon stärker der Kampf um die Pfründe ab. Das gab es hier nicht. Hier war einfach etwas Wildes los. Das war für mich auch der erste Eindruck, als ich in den Hinterhof der Gutenbergstraße kam: Es war bunt, verfallen, lebendig. Alle wollten etwas auf die Beine stellen.
TILL: Es war ein viergeschossiges Brauereigebäude im Hinterhof. Die oberen zwei Etagen waren eigentlich durchgefault, in einer Gebäudehälfte waren alle Decken eingestürzt. Unser Anspruch war: ein Kulturzentrum in der Innenstadt. Aus der Verwaltung sagte uns jemand: Das ist doch ein totgeborenes Kind.
Wir waren trotzdem entschlossen, das zog. Mit Tanztagen und „Contact Jam“ gab es sofort Formate, die überregional wahrgenommen wurden – auch wenn das nie mit einer Strategie verbunden war. Von Anfang an klar war nur: Es muss Essen geben, die Leute sollen hier schlafen können. Und es gab ein Solidarprinzip: Alle machen mit, vom Fußbodenzusammennageln bis zum Dachflicken.
Und es gab keine Hierarchien. Oder gab es so etwas wie eine Leitungsstruktur?
CHWALISZ: Als ich dazukam, hatten vier den Nukleus gebildet: Sven, Wolfgang Hoffmann, Jörg-Peter Salge und Jörg-Peter Eifler, der die Gastronomie machte. Drumherum gab es noch Unterstützer, aber für die vier war es der Lebensinhalt. Ganz zu Anfang wurde in der fabrik ja nicht nur gearbeitet, sondern auch geschlafen. Diese Aufbruchsphase war da schon vorbei. Einigen war schon die Vereinsgründung zu staatstragend gewesen.
1993 dann: der Rausschmiss aus der Gutenbergstraße.
TILL: Es war ein begleiteter Rausschmiss. Obwohl wir auf der einen Seite die großen Träumer waren, gab es schnell ein Wahrnehmen der Realitäten. Wir sahen ja die Cabriolets der Unternehmer im Hof. Uns wurde relativ schnell klar, dass man schwer gegen diese neuen Zustände bestehen kann.
Aus dem Kulturamt der Stadt gab es von Anfang an eine sehr gute Begleitung, auf inhaltlicher und finanzieller Ebene. Dort dachte man mit uns darüber nach, wie man andere Orte langfristig für die Kultur nutzbar machen kann. So kamen wir auf die Schiffbauergasse.
Nachdem geräumt wurde, stand das Gebäude in Flammen. Und Sie waren nicht da.
CHWALISZ: Damals war uns schon klar, dass wir nicht bleiben können und hatten bereits das Fischhaus hier in der Schiffbauergasse. Zur 1000-Jahr-Feier 1993 konnten wir es als Studio für uns herrichten. Die fabrik war von anderen erneut besetzt worden, aber unsere Sachen waren noch dort. Während der Räumung selbst waren wir in Hellerau. Dort erreichte uns die Nachricht: Die fabrik brennt.
TILL: Nach den großen Träumen in der Gutenbergstraße war das Fischhaus ein großer Illusionsverlust, auch für mich persönlich. Ich habe dann erstmal eine Handwerksausbildung als Steinmetz gemacht, um Boden unter die Füße zu kriegen.
CHWALISZ: Bei vielen entstand das Gefühl: Die fabrik ist abgebrannt, es gibt sie nicht mehr. Herauszufinden, dass die fabrik nicht nur der Ort, sondern auch die Summe seiner Protagonisten war, war ein Prozess. Auch für uns. Wir haben gelitten wie die Hunde. Das war traumatisch. Der Ort war Symbol für eine besondere Form des Aufbruchs, der nach der Wende möglich war. Und das ist mit dem Brand ein stückweit zu Grabe getragen worden.
Und was blieb?
CHWALISZ: Zu sehen: Es gibt eine Quintessenz von dem, was in der Gutenbergstraße ausprobiert und gelebt wurde. Zu sagen: „Wir beharren darauf: Tanz und Musik brauchen einen Ort.“ Das Zurückgeworfensein auf das Fischhaus hat uns letztlich gezeigt: Da ist etwas, das überlebt. Losgelöst vom Raum.
Nach der Odyssee durch Provisorien kamen Sie 1998 hierher. Und sind geblieben.
TILL: 1993 stand hier noch eine Betonmauer, die das Gaswerkgelände von dem ehemaligen Militär- und Fischereigelände abtrennte. Wir sind über die Mauer gesprungen und in die Halle reinmarschiert. Wir wussten sofort, dass sich der Ort mit seiner wunderbar funktionalen Aufteilung anbietet: ein zentraler Raum, die andockenden Räume für Büros, Gästezimmer, Tanzstudios drumherum.
Letztlich war der Umweg über das Fischhaus so etwas wie ein Schritt zurück, um Anlauf zu nehmen für das viel größere Projekt, das wir in der Gutenbergstraße nie hätten verwirklichen können. Erst hier haben wir den Tanz viel stärker ins Zentrum gerückt.
CHWALISZ: Lange haben wir im Prinzip alles gemacht: Werbung, Öffentlichkeitsarbeit, Technik, Stücke, Kurse. Wir haben viel über Ehrenamt gestemmt, aber irgendwann wurde das zu viel. Dann wurde eine Professionalisierung nötig, im Sinne von: Was mache ich hauptberuflich, was als Hobby?
Was waren Zäsuren der Professionalisierung?
TILL: Es gab für mich in der Wahrnehmung nach außen eine Zäsur, als wir 1999/2000 die ersten internationalen Erfolge der Eigenproduktionen hatten. Das erste nachhaltig tourende Stück war „Hopeless Games“ in Kooperation mit einer Company aus Petersburg, das in Edinburgh ausgezeichnet wurde.
Danach folgten immer andere Partnerschaften, die international erfolgreiche fabrik-Produktionen generierten. Manchmal waren wir ein halbes Jahr unterwegs. „Ach was, ihr wart in Australien?“ Das führte dazu, dass wir auch hier mehr anerkannt wurden. Und es war auch finanziell wichtig.
Und die Bundesprojekte wie Tanzplan?
TILL: Das war die zweite große Zäsur: Mit den Residenzen wurden wir anders wahrgenommen. Innerhalb der deutschen Tanzszene, aber auch international. Gleichzeitig merkten wir, dass das, was wir eigentlich gestalten wollten, hart an die Grenze dessen kam, was finanziell eigentlich möglich war.
Nach dem Umzug hierher hat es rund fünf Jahre gedauert, bis wir auch strukturell anders aufgestellt waren. Erst das Bundesprogramm Tanzplan, kofinanziert von Stadt und Land, verschaffte uns ab 2006 die Luft dafür. Es kam zum richtigen Zeitpunkt und hätte auch nicht anders kommen dürfen.
Was heißt das?
CHWALISZ: Es gab nach der Wende von Kommune und Land ja keinen Plan, inwiefern freie Kultur Teil der Landschaft sein kann. Damit wird immer noch gehadert. Es gibt nach wie vor weder kommunal noch auf Landesebene eine Verordnung oder Selbstverpflichtung, um freie Kunst und Kultur zu unterstützen. Es muss immer aus den Protagonisten heraus funktionieren.
Dabei ist das, was wir hier über dreißig Jahre gemacht haben, absolut einmalig, gerade wenn man die neuen Länder anschaut. Das gibt es in dieser Form sonst nicht. Und ohne den Tanzplan würde es uns heute vielleicht nicht mehr geben.
TILL: Die Geschichte der fabrik ist sehr spannend, wenn man darüber nachdenkt, was es braucht, um eine vielseitige Kulturszene zu erhalten. Denn nach der Wende lag der Schwerpunkt in Ostdeutschland ja darauf, die kommunalen Strukturen mit Museen, Orchestern und Theater zu erhalten. Hier gibt es kein FFT Düsseldorf, keinen Mousonturm, kein HAU. Dort greifen ganz andere, langfristige Förderungen. In Potsdam steht jetzt zumindest die Debatte darum im Raum.
Wenn Sie sich zum 30. etwas wünschen könnten: endlich längerfristige Förderung?
CHWALISZ: Eine verlässliche, langfristige Sicherung, ja. Was wir brauchen, um unsere Idee in die Zukunft tragen zu können, ist eine Verlässlichkeit im Sinne von: Jetzt habt ihr einen Vertrag auf zehn Jahre. Oder zwanzig. Oder hundert. TILL: Ich würde das erweitern zu: ein Bekenntnis zur Relevanz freien künstlerischen Arbeitens als wesentlicher Teil der Kultur. In aller Konsequenz.
Wird es die fabrik auch mit 60 noch geben?
TILL: Das ist das Ziel! CHWALISZ: Das ist auf jeden Fall der Plan. Es ist wichtig, genau darüber jetzt nachzudenken: Was passiert, wenn Sven und ich das hier irgendwann einmal sein lassen – in fünf Jahren, in zehn? Schaffen wir es, die fabrik an die nächste Generation zu übergeben?
*********
Sabine Chwalisz ist seit 1992 Mitglied der Leitung der fabrik Potsdam. Sie studierte Psychologie und Tanzausbildung in Berlin und arbeitete als freie Tänzerin, Choreografin und Pädagogin sowie in der Produktionsleitung und beim Rundfunk. Sie ist Choreografin und Tänzerin der fabrik Company und als Kuratorin für die Entwicklung von Projekten der Kulturellen Bildung sowie von Festivals wie Kunst und Klima tätig. Sie ist seit mehreren Jahren im Vorstand des Landesverbandes Freier Theater Brandenburg.
Sven Till war 1991 Mitbegründer der fabrik Potsdam, wo er heute als einer der künstlerischen Direktoren für das Programm, die Potsdamer Tanztage und Produktionsformate wie explore dance und DiR – Artists in Residence Brandenburg verantwortlich ist. Er studierte Contact Improvisation, New Dance, Modernen Tanz und Elemente von Physical Theatre in Deutschland, Belgien, Spanien und den USA.