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Serie | 70 Jahre PNN - 70 Jahre Stadtgeschichte: „Es war Liebe auf den ersten Blick“

Sieben Zeitzeugen schildern ihre Erlebnisse in 70 Jahren Stadtgeschichte zum Jubiläum der PNN. Christian Seidel war in den 2000er-Jahren als Kommunalpolitiker dabei, als überdie Wiedergeburt der Potsdamer Mitte entschieden wurde. 

Am Anfang war die Musik. Das Klavierspiel zu Hause im erzgebirgischen Wolkenstein. Doch Christian Seidels Leidenschaft galt nicht nur dem Piano im elterlichen Haushalt. Auch die Physik hatte es dem Teenager angetan. Was sollte er da zu seinem Beruf machen? Seidel, Jahrgang 1949, entschied sich für ein Physikstudium an der Technischen Universität Dresden. Ein beruflicher Lebensweg im Dienste der Musik, schätzt der Wahlpotsdamer heute ein, das wäre nicht gutgegangen. Oft bemerke man erst später, wie bedeutungsvoll eine bestimmte Entscheidung ist. „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“, sagt Seidel – eine berühmte Sentenz, die auf den dänischen Philosophen und Theologen Sören Kierkegaard zurückgeht.

In den 2000er-Jahren werden wichtige Weichen für Potsdam gestellt 

Beruflich verschlug es Seidel 1972 ins märkische Teltow an das Institut für Polymerenchemie der Akademie der Wissenschaften. Im selben Jahr besuchte der Physiker das erste Mal Potsdam. Es war „Liebe auf den ersten Blick“, bekennt er. Die Stadt hat ihn nicht mehr losgelassen. Als SPD-Stadtverordneter und vor allem als Vorsitzender des Bauausschusses prägte der heute 72-Jährige die Geschicke Potsdams in den Jahren vor und nach der Jahrtausendwende maßgeblich mit.

Wichtige Weichen für die Entwicklung der Stadt wurden da gestellt.

Da ist der Theaterbau von Gottfried Böhm. Eingeweiht 2006, avancierte das Haus mit seinem muschelförmigen roten Dach schnell zu einem der bekanntesten Gebäude Potsdams. Seidel schätzt die Lage am Wasser, doch die Orientierung für Besucher auf dem Gelände des Kulturstandorts Schiffbauergasse sei schwierig, die dortige Beleuchtungssituation nicht optimal und noch heute diskutiere man über die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr.

Der Wiederaufbau der Garnisonkirche und ein Bad am Brauhausberg

Auf ein anderes Projekt, das im Jahre 2004 mit dem „Ruf aus Potsdam“ von sich reden machte, hat Seidel ebenfalls eine differenzierte Sicht: den Wiederaufbau der Garnisonkirche. Manche Akteure hätten lange Zeit unterschätzt, dass diese Kirche rechtsgerichtete Gruppen anziehen könnte. Mittlerweile habe man dies erkannt: „Es ist verstanden worden, dass man da vorbereitet sein muss“, sagt Seidel. Einige der Gegner des Wiederaufbaus findet er jedoch auch problematisch – zu dumm sei manche ihrer Äußerungen.


Begeisterung kommt bei Seidel indes auf, wenn man ihn auf das Bad anspricht, das der brasilianische Stararchitekt Oscar Niemeyer in den Hang des Brauhausbergs bauen wollte. Im Jahr 2005 wurden die Pläne dafür vorgestellt. „Ein brillantes Projekt“, sagt Seidel dazu. Doch es wurde nie verwirklicht.

Das Ringen um die Potsdamer Mitte 

Auf die Frage nach dem für Potsdam bis heute Prägendsten aus dem ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende verweist der Physiker auf die Wiedergewinnung der Potsdamer Mitte. Als Seidel 2010 sein Mandat in der Stadtverordnetenversammlung abgab, habe er sich gesagt, mit Verabschiedung des Leitbautenkonzepts sei die Entwicklung des historischen Zentrums „in guten Bahnen“. Kernstück der Stadtmitte: das Landtagsschloss. Der Weg dahin: steinig. 

Christian Seidel hat die Potsdamer Stadtentwicklung über Jahrzehnte begleitet.
Christian Seidel hat die Potsdamer Stadtentwicklung über Jahrzehnte begleitet.
© Andreas Klaer

„Es war eine lange, schwierige Geburt“, erinnert sich Seidel, der auch Mitglied des Beirats Potsdamer Mitte war, einem Gremium zur Beratung des Bauausschusses. Seidel sagt, noch Mitte der 1990er-Jahre sei er der Auffassung gewesen, es müsse zwar in der Kubatur des alten Stadtschlosses wieder ein Bau an diesem Ort errichtet werden. Dies könne aber in moderner Architektur geschehen.

Eine historische Fassade für das Stadtschloss

Der ehemalige Potsdamer Bürgerrechtler Rudolf Tschäpe, ebenfalls ein Physiker, habe ihn dann jedoch überzeugt, „dass an der Stelle keine architektonischen Experimente möglich sind, weil das einfach eine zu exponierte Stelle im Stadtraum ist“. Außerdem, so sagt es Seidel, sei ihm klar geworden, dass moderne Bauten der öffentlichen Hand wegen des Kostendrucks nicht nach Kriterien der Schönheit errichtet werden. Fortan warb er für die alte Fassade. Als Hasso Plattner dann 2007 seine Schatulle für die Wiedergewinnung der historischen Schlossfassade öffnete, war dies für Seidel ein sehr freudiger Tag. „Ich hab’ gedacht: Wie viel Glück hat Potsdam noch verdient?“ Schließlich hatte Plattner hier zuvor schon das nach ihm benannte Informatik-Institut gegründet.

Das von Seidel favorisierte Bad von Stararchitekt Oscar Niemeyer wurde nicht gebaut.
Das von Seidel favorisierte Bad von Stararchitekt Oscar Niemeyer wurde nicht gebaut.
© DPA/DPAWEB

Das Gesamtpaket, das die Stadtverordneten damals zur Wiedergewinnung der Potsdamer Mitte geschnürt hatten, sah auch den Erhalt der Bibliothek am Platz der Einheit vor. Doch letztlich sei mit deren Sanierung die DDR-Architektur des Hauses verloren gegangen, bedauert Seidel. „Die Bibliothek ist de facto abgerissen worden.“ Wäre dies vorher klar gewesen, dann, so sein Vorschlag, hätte man den zum Platz gerichteten Teil des Gebäudes ein Stück zurücknehmen können, um Raum für die Wiedererrichtung des Stadtkanals zu gewinnen. Eine vertane Chance.

Job des Baubeigeordneten hätte Seidel gereizt

Um die Jahrtausendwende herum war es Seidels Wunsch, sich hauptberuflich mit solchen Baufragen zu beschäftigen. Er bewarb sich auf den Posten des Potsdamer Baubeigeordneten. Gewählt wurde jedoch Elke von Kuick-Frenz, die 2001 ihr Amt antrat. „Es hätte mich schon sehr, sehr gereizt“, erinnert sich Seidel, der bis zu seinem Ruhestand 2014 am Golmer Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung als Arbeitsgruppenleiter tätig war. Im Nachhinein sei er allerdings froh, damals den Job im Rathaus nicht bekommen zu haben. Und wieder erinnert Seidel an Kierkegaard: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“ 

Dieses Leben, es hielt für ihn neben dem Beruf eine andere erfüllende Aufgabe parat: Von 2001 bis 2016 leitete er ehrenamtlich den Trägerverein des im Jahr 2000 gegründeten Neuen Kammerorchesters. Wäre Seidel Baubeigeordneter geworden, hätte ihm für die Arbeit im Dienste des von Ud Joffe geleiteten Klangkörpers die Zeit gefehlt, sagt der verheiratete Vater zweier Töchter. Heute erfreut sich Seidel an seinen drei Enkeln – „das wusste ich vorher auch nicht, dass das so schön ist“. Und sein Klavierspiel? Die Pandemie wirkt sich da sogar günstig aus: „Ich habe lange nicht so viel Klavier gespielt wie im letzten Jahr.“

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