Interview | Annalena Baerbock: "Diese Unsicherheit können Westdeutsche kaum nachempfinden"
Grünen-Chefin Annalena Baerbock über Ost und West, das Duell mit Olaf Scholz in Potsdam – und ihre Visionen für Brandenburgs Landeshauptstadt.
Frau Baerbock, Sie sind in Niedersachsen aufgewachsen, in Brandenburg bei den Grünen politisch aktiv geworden, wohnen seit Jahren mit Mann und Töchtern in Potsdam. Fühlen Sie sich eher als West- oder Ostdeutsche?
Beides. Mich hat meine Kindheit auf dem Land in Niedersachsen geprägt, zwischen Zuckerrüben und Fußballplätzen, unter Menschen, die bodenständig und direkt sind. Ich glaube, diese Direktheit passt ganz gut nach Brandenburg. Und hier in Potsdam lebe ich ja seit Jahren mit meiner Familie. Meine Kinder gehen hier zur Schule und zur Kita. Hier bin ich zu Hause.
Was an Ihnen ist Ost, was West?
Mit plakativen Ost-West Zuschreibungen kann ich ehrlich gesagt nicht so viel anfangen. Deutsche Einheit heißt für mich vor allem Vielfalt.
Sie sind Jahrgang 1980. Spüren Sie in Ihrer Generation noch große Unterschiede?
Kaum. Das liegt auch daran, dass Biographien heute anders sind als früher. Viele gehen zur Ausbildung weg. Etliche kehren mittlerweile zurück. Ich bin in Hannover geboren, habe als Kleinkind in Nürnberg gewohnt, meine Kindheit wieder in Niedersachsen verbracht, dann im Ausland studiert und gearbeitet und jetzt lebe ich seit langem in Potsdam. Heimat verändert sich.
Aber gibt es nicht prägende Erfahrungen, die sich in Ost und West doch unterscheiden?
Doch, natürlich. Diese Unsicherheit in den 90ern, als der Job der Eltern, die Existenz, plötzlich weg waren - das können Westdeutsche kaum nachempfinden. Oder wenn Freunde mir erzählen, dass sie erst im Nachhinein begriffen haben, warum ihre Eltern in der Wendezeit nicht gemeinsam demonstrieren gingen. Mutti ging auf die Straße, Vati blieb zu Hause. Damit wenigstens einer bei den Kindern bleibt, falls der andere von der Stasi mitgenommen wird. Ich war mit meinen Eltern in Gorleben. Ja, da gab's auch Wasserwerfer. Aber nach der Demo haben wir zu Hause in Ruhe Kuchen gegessen.
Wenn Sie in Ostdeutschland unterwegs sind, werden Sie dann noch als Wessi wahrgenommen?
Kaum. Manchmal kommt: Sie sind ja gar nicht im Osten geboren, können Sie unsere Probleme überhaupt nachvollziehen?
Was sagen Sie dann?
Ich höre zu. Und frage. Ob in der Prignitz oder in der Altmark, oft geht es um das Gefühl, abgehängt zu sein. Wenn ich dann von meinem Heimatdorf erzähle und wie es war, im Nirgendwo Ewigkeiten an der Bushaltestelle zu sitzen, um auf den Umsteigebus zu warten oder was es mit einem Ort macht, wenn der Dorfladen schließt, dann gibt es viele Schnittmengen.
In Teilen Westdeutschlands sind die Grünen Volkspartei, im Osten ist das klassische Grünen-Wählermilieu recht schwach. Warum fällt es Ihnen so schwer, im Osten größere Teile der Gesellschaft anzusprechen?
Die Beschreibung stimmt so nicht mehr. In Potsdam, Dresden und Leipzig haben wir 2019 bei den Landtagswahlen die ersten Direktmandate errungen, in Brandenburg sind wir in vielen ländlichen Regionen zweistellig geworden. Aber ja: Noch erreichen wir nicht überall die Menschen im gleichen Maß, wie andere demokratische Parteien auch. Für mich ist entscheidend, dass wir den Auftrag aus der Verfassung ernst nehmen, gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Ärztliche Versorgung, um Schwimmbäder, Kitas und Schulen, die Anbindung mit Bus und Bahn, um Glasfasernetze - wenn wir hier nicht mehr investieren, droht die nächste Spaltung.
Wie weit sind wir 30 Jahre nach der Wiedervereinigung mit der Einheit gekommen?
Das ist ein lebenslanger Prozess. Vieles wurde erreicht, Menschen im Osten haben Unglaubliches geschaffen. Aber einfach abhaken, geht nicht. Es war ein großer Fehler, die Bestrebungen von Bürgerrechtlern, eine neue Verfassung zu schreiben, im Keim zu ersticken. Dahinter steckte doch die Hoffnung, dass wir gemeinsam als neues Land Dinge besser machen können – auch im Westen. Das Recht auf Wohnen war eine Idee, die es in die europäische Sozialcharta geschafft hat, aber nicht ins Grundgesetz. Wenn wir jetzt 30 Jahre Einheit feiern, sollten wir das nachholen und in der Verfassung ein Recht auf Wohnen verankern. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Wie denn?
Die Unterschiede beim Einkommen, Rente, Vermögen und Erbschaft sind nach wie vor groß. Bund und Länder haben bei den Verhandlungen im öffentlichen Dienst jetzt die Chance, nach Jahrzehnten endlich die Angleichung zwischen Ost und West vorzunehmen. Das ist wirklich nötig.
Im Osten sind demokratieferne Milieus ausgeprägter, in denen die Grünen es schwer haben, gerade mit ihrer Haltung zur Migration und Flüchtlingspolitik. Wie gehen Sie damit um?
Indem man Probleme nicht zukleistert. Nachdem die AfD in den Bundestag eingezogen ist, hat die Bundesregierung versprochen, sich um strukturschwache Regionen zu kümmern. Herausgekommen ist der Titel Heimatminister für Horst Seehofer. Dabei ist doch eine Erkenntnis, dass da, wo die Daseinsvorsorge bröckelt, das Vertrauen in Demokratie bröckelt. Zudem müssen wir als Gesellschaft selbstkritisch aufarbeiten, was in den 90er Jahren im Osten schief gelaufen ist.
Was meinen Sie konkret?
Die Jahre, in denen in etlichen Orten der Staat nicht präsent war und sich den 90er rechtsextreme Strukturen breit machen konnten. „Baseballschlägerjahre“, nennen das einige, das sagt schon viel. Viele aus meiner Generation haben damals erlebt, dass sich im Zweifel Gewalt durchsetzt und Polizisten nicht eingreifen, wenn auf Menschen mit Migrationshintergrund, Punks oder Obdachlose eingedroschen wird. In Brandenburg ist immerhin das "Tolerante Brandenburg" als staatliches Bündnis entstanden. In anderen Bundesländern hieß es, Rechtsextremismus sei ein Einzelfall.
Was müsste denn passieren?
Rechtsextremismus betrifft Ost und West. Mittlerweile gibt es fast wöchentlich neue Hiobsbotschaften von staatlichen Institutionen, die eigentlich unsere Sicherheit gewährleisten sollen. Jüngst bei der Berliner Polizei oder beim NRW-Verfassungsschutz. Es muss in Gesamtdeutschland systematisch aufgearbeitet werden, welche rechtsextremen Netzwerke und Strukturen es gibt. Das muss mit einer entschlossenen Bekämpfung einhergehen.
Was heißt das konkret?
Besonders dringend ist als erstes, endlich anzuerkennen, dass es in den Sicherheitsbehörden ein fettes Problem gibt. Studien sollten die Strukturen differenziert analysieren – bei der Polizei, aber auch etwa beim Verfassungsschutz. Das ist nicht nur für die von Rassismus Betroffenen wichtig, sondern gerade auch für die vielen Polizistinnen, Verfassungsschützer, die jeden Tag mit voller Überzeugung für unseren Rechtsstaat einstehen. Zweitens: Wir brauchen wirklich unabhängige Polizeibeauftragte, die bei polizeilichem Fehlverhalten ansprechbar sind – für die Bürgerinnen und Bürger genauso wie für die Polizistinnen und Polizisten, die rechtsextreme Umtriebe in den eigenen Reihen nicht dulden wollen. Drittens: Wir müssen die Opferberatung deutlich ausweiten und diejenigen unterstützen, denen Angriffe von Rechtsextremen drohen. Ein Demokratiefördergesetz, das die äußerst wichtige Arbeit der Zivilgesellschaft in diesem Bereich finanziell und strukturell absichert, tut Not.
Bei der Bundestagswahl treten Sie im Wahlkreis in Potsdam voraussichtlich gegen SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz an. Rechnen Sie sich mehr als eine Außenseiterchance aus?
Bei der Bundestagswahl sind wir die Angreifer, egal ob im Bund oder im Wahlkreis. Aber ich komme aus dem Sport: Wenn ich als Zweitplatzierte nicht den Anspruch habe, den Favoriten zu schlagen, brauche ich gar nicht erst anzutreten.
Bei der Wahl 2017 waren Sie bundesweit noch unbekannt, als Direktkandidatin erreichten Sie damals acht Prozent. Jetzt kann es sein, dass in Potsdam sogar zwei aufeinander treffen, die ums Kanzleramt kämpfen.
Diesmal ist alles anders, ja. Beim letzten Mal standen wir bundesweit bei unter 10 Prozent, sind mit einem reinen Zweitstimmenwahlkampf angetreten. Jetzt aber ist alles möglich.
Sie werden also in Potsdam Wahlkampf machen und gleichzeitig als Kanzlerkandidatin durch Deutschland touren?
Die Frage der Kanzlerkandidatur entscheiden wir im nächsten Jahr. Zu Potsdam: Die Brandenburger Grünen haben mich politisch geprägt. Daher habe ich mich bewusst entschieden, jetzt als erstes die Direktkandidatur in Potsdam zu starten. Im November bewerbe ich mich erneut um Listenplatz eins der Brandenburger Bündnisgrünen.
Potsdam könnte der spannendste Wahlkreis in Deutschland werden, mit bundesweit bekannten Gesichtern wie Ihnen, Olaf Scholz und Linda Teuteberg, mit einer sehr konservativen CDU-Kandidatin Saskia Ludwig und einem auch in der Linken sehr weit links stehenden Norbert Müller. Ist Potsdam so etwas wie das politische Versuchslabor der Republik?
Warum nicht? Der Wahlkreis steht spiegelbildlich dafür, was im Bund an Veränderung möglich ist. Die Bundestagswahl kann einen Epochenwechsel einleiten. Die antretenden Personen und Parteien haben sehr unterschiedliche Vorstellungen, wie wir die nächsten Jahrzehnte gestalten. Ich bin überzeugt: Nur Veränderung schafft Halt. Wir müssen Grundlegendes ändern, um zu bewahren, was uns lieb und teuer ist. Andere setzen eher auf „weiter so“.
Welche Probleme sehen Sie in Potsdam im Kleinen, die es in Deutschland auch im Großen gibt?
Potsdam ist eine verhältnismäßig wohlhabende Stadt – und doch gibt es hier nicht wenige Kinder, die in Armut leben. Es ist ein strukturelles Problem. Corona hat gezeigt, dass die Politik stärker Prioritäten setzen muss. Kinder und Familien brauchen mehr politische Aufmerksamkeit. In Potsdam hatten wir das Glück, dass die Stadtgesellschaft einiges abgefedert hat. Als Schulen und Kitas schlossen und vielen Kinder das Mittagessen fehlte, waren Sozialarbeitende sofort bereit, zu unterstützen. Aber es gibt nicht überall in Deutschland solche Strukturen.
Wenn Sie Potsdam aus der Ferne betrachten: Was sehen Sie dann an guten, was an schlechten Entwicklungen?
Wir sind eine Boom-Region, in der sich viele innovative Firmen ansiedeln, neue Arbeitsplätze entstehen, Menschen herziehen. Das führt aber auch zu neuen Problemen: Man steht im Stau, der öffentliche Nahverkehr ist überfüllt, Miet- und Grundstückspreise explodieren.
Wo steht Potsdam heute?
Beim Stadtumbau sehen wir, dass viele Debatten noch nicht abgeschlossen sind: Wie viel Barock muss es in der Stadt sein und wie viel DDR-Architektur? Wo treten Sportplätze mit dem Unesco-Weltkulturerbe in Konflikt? Als Mutter sage ich: Natürlich brauchen wir Sportstätten. Wenn ich dann durch den Park spaziere, sehe ich aber auch, wie wichtig Sichtachsen für die Lebensqualität sein können. Diese Konflikte zwingen uns, Probleme aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Das ist eine Bereicherung.
Und was ist Ihre Vision für 2030?
Ein sozial-ökologisches Potsdam. In den 90er-Jahren wurden die Weichen dafür gestellt, dass die Innenstadt heute lebendig ist, weil über den Geschäften weiter Menschen wohnen. Jetzt geht es darum, die Vielfalt in den Stadtteilen, auch in der Innenstadt zu stärken. Dafür sind bezahlbare Wohnungen zentral. Gutes Leben in der Stadt bedeutet aber auch frei von Lärm und Abgasen zu leben: also autofreie Innenstadt und Solaranlagen auf jedem neuen Dach.
Exemplarisch für die Konflikte in der Stadt steht auch der Streit um das DDR-Rechenzentrum und die Garnisonkirche. Was ist aus Ihrer Sicht der richtige Umgang mit dieser Frage?
Potsdam ist reich an Kirchen, und wenn ich mir anschaue, wie jeder Euro umgedreht wird, um Dorfkirchen zu erhalten, wäre es ein verkehrtes Signal gerade den Wiederaufbau der Garnisonkirche mit öffentlichen Geldern zu stemmen. Ab jetzt muss der Bau so wie versprochen mit Spenden finanziert werden; es geht auch darum, sich kritisch der eigenen Geschichte zu stellen.
Was soll mit dem ehemaligen DDR-Rechenzentrum geschehen, das direkt neben dem in die Höhe wachsenden Garnisonkirchturm steht?
Gerade weil diese Kirche und der Ort so umstritten sind, sollte man architektonisch neue Wege suchen. Warum kann man nicht Teile des Rechenzentrums erhalten und mit dem neu gebauten Turm verbinden? Es ist zentral, die Brüche in unserer Geschichte nicht zu verdrängen. Auch die dunkle Seite der Geschichte sollte sich widerspiegeln, gleichzeitig schauen wir auf das, was man in Zukunft gemeinsam schaffen kann.
Ein weiteres Thema, das polarisiert, ist der Streit mit den Hohenzollern, die von der öffentlichen Hand eine Millionenentschädigung für frühere Schlösser, ein Wohnrecht im Schloss Cecilienhof und tausende Kunstwerke und Exponate aus Schlossmuseen der Hauptstadtregion fordern. Was tun?
Ich finde es absolut unverständlich, dass das brandenburgische Finanzministerium hier jüngst zurückgerudert ist. Es wäre ein fatales Signal, wenn es nun doch zur Rückgabe und Millionenentschädigung käme, trotz der Rolle des damaligen Kronprinzen. Dass die Hohenzollern in diesem Rechtsstreit nun auch noch Wissenschaftler angreifen und kritische Journalisten verklagen, unterstreicht dass der Staat weiter mit geradem Rücken in dieser juristischen Auseinandersetzung stehen sollte.
Potsdam hat vor einem Jahr den Klimanotstand erklärt. Viele sagen, das habe nichts gebracht. War dieser Schritt kontraproduktiv?
Nein. Den Klimanotstand zu erklären, macht die Dringlichkeit des Problems bewusst. Vor einem Jahr gab es in Brandenburg große Waldbrände, die man bis nach Potsdam gerochen hat. Aber natürlich müssen konkrete Schritte folgen. Es passiert ja auch etwas. In der Innenstadt gibt es mit der Gutenbergstraße eine erste Straße, die für Autos teilgesperrt ist. Für uns ist das nur der allererste Schritt. Auch die Wärmeversorgung muss klimaneutral werden. Ja, manches geht zu langsam. Aber so ist das mit Kompromissen in der Rathauskooperation mit SPD und Linken.
Sollten Kommunen beim Klimaschutz vorangehen?
Ja, und das tun viele schon. Kommunaler Klimaschutz bringt insgesamt mehr Lebensqualität. Von autofreien Innenstädten profitieren auch Kinder, die nicht mehr auf zugeparkten Straßen mit dem Rad fahren müssen. Aber Kommunen, die Veränderung wollen, werden auf Bundesebene ausgebremst. Dass die Feuerwehren oder Schulen auf ihren Dächern oftmals keine Solaranlage haben, liegt auch daran, dass es sich für sie nicht mehr wirklich rechnet. Damit es einen Durchbruch gibt, muss sich im Bund der Wind drehen.
Potsdam ist Staustadt, viele hängen aber am Auto. Wie soll es da weiter gehen?
Mit einer echten Verkehrswende. Das ist mehr als fossile Verbrenner durch E-Autos zu ersetzen. Es geht auch um weniger Autos auf den Straßen. Natürlich brauchen viele Menschen gerade in ländlichen Regionen den Wagen. Aber in Städten wie Potsdam können wir viel mehr Möglichkeiten zum Umstieg auf den öffentlichen Nahverkehr schaffen. Die erhöhte Taktung des RE 1 ist wichtig, ebenso Fahrradschnellwege.
Die Grünen sind in Brandenburg und in Potsdam in Regierungsverantwortung. Wie hat das Ihre Partei verändert?
Verantwortung zu übernehmen hat uns stärker gemacht. Als Regierung bekommt man dann auch mal was auf die Nase. Aber ohne die Bereitschaft zum Kompromiss geht es in einer Demokratie nicht voran. Und für mich ist der Sinn von Politik, nicht nur zu versprechen, sondern zu machen.
Sie freuen sich also schon auf die schwierigen Kompromisse, die Sie nach der Bundestagswahl in Koalitionsverhandlungen eingehen müssen?
Ich bin überzeugt, in diesem Jahrzehnt können wir mit Mut zur Veränderung viel Gutes für unser Land schaffen. Aber der Leistungssport hat mich eines gelehrt: Wenn man sich über Medaillen freut, die man noch gar nicht errungen hat, scheidet man meistens in der Vorrunde aus. Ich freue mich daher erstmal auf einen intensiven Wahlkampf.