Heimat-Initiative: Die Rückkehrer nach Brandenburg
Aus Langeweile floh sie nach Berlin – nun ist sie zurück in Müncheberg. Von Brandenburgern, die in die alte Heimat ziehen. Um etwas Neues anzufangen.
Seit sie sechzehn war, wollte sie immer bloß weg. Lea Nitz fasst ihre Erinnerung an das Städtchen Müncheberg in ihrer Jugend in einem Satz zusammen: „Es läuft gar nichts.“ Jedes Wochenende habe sie im Zug verbracht, auf dem Weg in die nächstgrößere Stadt Strausberg oder nach Berlin, immer auf der Suche nach einem Schlafplatz dort. Einmal, erzählt sie, habe sie im Vorraum der Sparkasse geschlafen, um den ersten Zug am Morgen nehmen zu können.
Lea Nitz gehörte zum letzten Jahrgang, der das Gymnasium in Müncheberg absolviert hat – danach wurde es geschlossen. Über ihren Jahrgang sagt sie: „Der größte Teil ist definitiv weggezogen. Ich schätze, zirka ein Viertel von meinem Abschlussjahrgang am Gymnasium ist hier geblieben, eher weniger.“
Lea Nitz ging auch, studierte Literatur in Berlin, lebte in einem Hausprojekt, verbrachte lange Nächte im „about blank“, einem Club am Ostkreuz. Jetzt ist Lea Nitz – lange dunkle Haare, Pony, dunkelgrüner Rollkragenpullover – 30 Jahre alt. Und zurück in Müncheberg. Sie hat sich für die Rückehr in ihre Heimat entschieden, um dort mit ihrem Freund ihren Sohn großzuziehen.
Gerade 40 Kilometer sind es von der östlichen Berliner Stadtgrenze bis zum „Tor zur Märkischen Schweiz“, wie Müncheberg sich selber nennt. Aber was sind schon Kilometer, wenn es um den Gegensatz zwischen Berlin und Brandenburg geht?
Es begann mit Plakaten in Zügen
Müncheberg, 6800 Einwohner. Die zentrale Ernst-Thälmann-Straße ist kein Ort, an dem man lange verweilt. Leere Läden, leere Fenster, kaum ein Mensch zu Fuß unterwegs, ein Auto nach dem anderen.
Bis man zum „Thälmanns“ kommt. Durch die Fenster sind Tische und Stühle zu sehen, stilistisch frei kombiniert, an den Wänden Poster: ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen. Carolin Schönwald hat ihn organisiert, eine Freundin von Lea Nitz und eine Kämpferin gegen die Müncheberger Tristesse. Es ist ein Treffpunkt für Menschen, die nach Jahren in Berlin oder weiter im Westen in ihrer Heimat etwas Neues anfangen wollen.
2013 hat das Land Brandenburg begonnen, um Rückkehrer zu werben. Es begann mit Plakaten in den Zügen der Bahn, in denen Menschen saßen, die zum Wochenendbesuch nach Hause fuhren. Ergänzt wurde die Kampagne durch ein Internetportal, das freie Stellen in Brandenburg aufführt: für die, die im fremden Westen nicht mehr bleiben wollen.
Andere ostdeutsche Bundesländer machten es ähnlich, um der Abwanderung und dem sich abzeichnenden demografischen Desaster etwas entgegenzusetzen.
Brandenburgische Kleinstädte? "Wirklich unsexy"
Auch Carolin Schönwald, 32 Jahre alt, groß, Zopf, Strickpullover und Jeans, hielt es in Müncheberg irgendwann nicht mehr aus. Mit zwölf habe sie hier den „Club der Langeweile“ gegründet, erzählt sie mit einem Lachen. Es habe kein Kino gegeben, kein Kulturhaus und bloß ein Saison-Café. Auch sie zog zum Studieren nach Berlin, soziale Arbeit und Theaterpädagogik, wohnte am Ostkreuz und später in Kreuzberg. Vier Jahre blieb sie, dann ging sie für neun Monate nach Leipzig. „Zwischen zwanzig und dreißig“, sagt Carolin Schönwald, „waren alle weg!“ Brandenburgische Kleinstädte seien „wirklich unsexy“.
Inzwischen gibt es in Brandenburg außer in Müncheberg noch dreizehn weitere Rückkehr-Initiativen, in der Uckermark, in der Lausitz, in Märkisch-Oderland. In letzter Zeit schössen sie nur so aus dem Boden, sagt Martin Gorholt, Chef der Staatskanzlei in Potsdam, der in der Landesregierung dafür zuständig ist. Offenbar gebe es da ein Bedürfnis.
Die Politik fördert die Arbeit dieser Gruppen und Einzelkämpfer, insgesamt 218.000 Euro gibt es in diesem Jahr für Treffpunkte wie das „Thälmanns“ und Menschen wie Carolin Schönwald, die als Sozialarbeiterin bei einem Jugendförderverein im zehn Kilometer entfernten Buckow angestellt ist. Das ist nicht viel, mehr eine Anerkennung. Aber die Stärken der Initiativen sind ohnehin kaum in Geld zu messen. Kommunikation und Offenheit – Leute mit Ideen.
Im „Thälmanns“ gibt es einmal in der Woche ein Elterncafé, ab und zu einen Filmabend oder ein kleines Konzert, vor kurzem war es eine „Irish Folk Session“. Zu solchen Veranstaltungen kämen vor allem Zugezogene und Rückkehrer, sagt Carolin Schönwald. Rückkehrer, das heißt zur Zeit: fünf. „Zur Thermomix-Party kommen vorzugsweise Müncheberger.“
Je weiter man sich in Brandenburg von Berlin entfernt, desto problematischer ist die demografische Entwicklung: immer weniger Frauen, die Kinder bekommen, immer mehr Alte. In den zurückliegenden Jahren hat sich einiges zum Besseren gewendet, bis zum Jahr 2030 rechnen die Demografen sogar mit einem Plus von 170 000 Einwohnern. Aber der Zugewinn betrifft vor allem das Berliner Umland.
Die Rückkehrerinitiativen sollen die unterstützen, die mit dem Gedanken an einen Umzug in die Heimat spielen, aber noch zögern – weil man selbst einen Arbeitsplatz in Aussicht hat zum Beispiel, die Partnerin oder der Partner aber nicht. Dabei gehe es vor allem um Service, sagt Martin Gorholt in Potsdam: Hilfe bei der Jobsuche zum Beispiel, Fachkräfte fehlen überall in Brandenburg – von der Pflegekraft bis zum Lehrer. Oder Kitaplatz-Vermittlung, Informationen über Schulen in der neuen alten Heimat.
Rückkehrer verändern die ländliche Gesellschaft
Doch das ist nicht alles. Die Rückkehrer bringen etwas mit: Eine andere Perspektive. Die Politik in Brandenburg ist geprägt vom Erstarken der AfD, der die Wahlforscher 20 Prozent der Stimmen bei der Landtagswahl im September zutrauen – so viel wie der SPD, die seit der Neugründung des Landes die Ministerpräsidenten stellt. Mit Blick auf die Wahl haben jetzt auch Bundes-CDU und SPD mit Strategiepapieren, Forderungskatalogen und frischen Versprechungen reagiert.
Rückkehrer verändern eine ländliche Gesellschaft, die geprägt ist von dem Eindruck, dass der Staat sich immer weiter entfernt, alles immer weniger wird: weniger Busse, weniger Schulen, weniger Ärzte. Rückkehrer können, wenn sie sich engagieren, zu Modernisierern werden.
Carolin Schönwald hat eine „Bürgerbühne“ gegründet: Rederecht für jeden, zwei Minuten, ob Politiker oder nicht. Für „Bürgerbeteiligung auf Augenhöhe“, sagt Carolin Schönwald, Menschen, die partizipieren wollen.
Sie möchte Leute zusammenbringen, die so sind wie sie: lebensfroh, kommunikativ. „Ich steh’ total auf den ländlichen Raum“, sagt Carolin Schönwald, „und ich hab’ Lust, was zu bewegen!“ Sie kennt Initiativen gegen Windräder, gegen Schweinemastanlagen und Straßenbau. „Wir wollen nicht mehr leben wie unsere Eltern“, sagt sie, „wir wollen keine Multivans fahren.“
Obwohl sie aus Müncheberg stammen, gelten sie als "Zugezogene"
Auch wenn die Rückkehrer nicht bloß freundlich begrüßt werden. Carolin Schönwald und Lea Nitz erzählen von Nachbarn, die sie aufgefordert hätten, von einem großen Hof endlich das Bobby Car zu entfernen. Oder wie sie einer Nachbarin einen „schönen Tag“ wünschten und die antwortete: „Den hätte ich, wenn Sie endlich mal den Schnee aus Ihrer Zufahrt räumen würden.“ Obwohl sie aus Müncheberg stammen, werden sie als „Zugezogene“ angesehen, „das bleibt man bis in die dritte Generation“, sagt Lea Nitz lächelnd.
Aber es ist eben die Heimat. „Es war immer ein gutes, vertrautes Gefühl“, sagt Carolin Schönwald, zurückzukommen in die „fabelhafte Landschaft“ und die Ruhe, die sie in erster Linie wegen ihrer Kinder schätze. Drei hat sie, geboren im Abstand von zwei Jahren. Und in der Heimat ist eben auch das Netzwerk aus Großeltern, Eltern und Freunden, das ihr mal die Betreuung abnimmt und Freiheit gibt.
Lea Nitz denkt in dieselbe Richtung. Mit 19 organisierte sie gegen die Ödnis mit anderen Mottoparties im Jugendclub. „Bereits nach der zweiten Party wollte die Stadt die aufgrund von Beschwerden untersagen. Wir haben von allen Nachbarn Unterschriften gesammelt – und weitergemacht.“
Berlin, das war für sie eine Offenbarung, neben Studium und Nachtleben auch ehrenamtliches Engagement beim sozialistischen Jugendverband „Die Falken“, elf Jahre lang.
Bis ihr die Stadt zu viel wurde. Man bewege sich wie in einer Blase, sagt sie. Hier in Müncheberg habe sie es mit Jungen und Alten zu tun. Mit ihrem Kind und ihrem Freund wollte sie „ein ruhigeres Leben, bei dem ich nicht täglich fast drei Stunden Lebenszeit in der U-Bahn verbringen muss“. Gemeinsamkeit, Zeit für Projekte und die Kinder seien ihr wichtiger. Lea Nitz arbeitet in der Pressestelle des Leibniz-Zentrums für Agrarlandschaftsforschung in Müncheberg und hat außerdem einen Job im Buckower Brecht-Haus.
Sie hat jetzt einen Garten, in dem ihr Sohn spielen kann
Die Rückkehr in die Heimat war für sie außerdem Abschied von Autolärm und Luftverschmutzung, sie hat jetzt einen Garten, in dem ihr Sohn spielen kann. „Insgesamt ist die Lebensqualität in Müncheberg viel höher als in Berlin, wenn durch Arbeit und Kind eh kaum Zeit bleibt für Politik, Netzwerke, Veranstaltungen und alles, für das es mich nach Berlin zog.“
So sei das bei vielen, sagt Staatskanzleichef Martin Gorholt: Man gehe weg, um woanders zu studieren und zu arbeiten. Man halte den Kontakt zu den Eltern und der Heimat. Man denke an Rückkehr, wenn man eine Familie gründe oder kleine Kinder habe. Heimatbewusstsein und familiäre Gründe seien die stärksten Motive, zurückzugehen.
So war es letztlich auch bei Juliane Grützmacher, 32 Jahre alt. Zwei Minuten entfernt vom „Thälmanns“ befindet sich die Müncheberger Marienkirche. Das massive Bauwerk aus Feld- und Backsteinen ist nicht mehr allein ein Gotteshaus. Es enthält mittlerweile auch die Stadtbücherei und, hinter gläsernen Wänden, das Büro der Kulturmanagerin – ihr Büro. Juliane Grützmacher, blond, schlank, organisiert Kulturveranstaltungen in der Kirche. Hinter ihr liegen acht Jahre Berlin. Es sei toll gewesen, ein „familienfreies Leben zu führen“, sagt sie. Sie wohnte in Friedrichshain, kaufte Lebensmittel auf dem Markt auf dem Boxhagener Platz oder ging dort auf den Trödelmarkt, schätzte die Cafés und Bars rundherum. Dann bekam sie eine Tochter und konnte sich nicht mehr vorstellen, Kinder in dieser Stadt großzuziehen.
Jetzt lebt sie mit ihrem Mann und drei Kindern in einem Dorf in der Nähe von Müncheberg. Sie hat ihre Eltern und die Eltern ihres Mannes in der Nähe. Sie hat bemerkt, dass es mit Kita- und Schulplätzen schwieriger geworden ist. Die Wege für die Kinder würden länger, sagt sie, eine Busfahrt zur weiterführenden Schule dauere 45 Minuten. Arztpraxen hätten geschlossen. Alles sei „noch ein bisschen weiter auseinander gerückt“.
Jeder habe einen großen Fernseher und zwei Autos
Bildung ist nach einer Umfrage der „Märkischen Allgemeinen“ das wichtigste Thema vor der Landtagswahl im September. Carolin Schönwald hat einen Abend am Stammtisch der örtlichen AfD verbracht und zugehört. Bei der Bundestagswahl 2017 gewann die AfD in Müncheberg 22,1 Prozent der Stimmen und lag damit sehr knapp hinter der CDU mit 22,5. Beim Stammtisch habe sie auch Linke-Wähler getroffen, sagt Carolin Schönwald. Die Leute hätten „kein Problem mit Flüchtlingen, aber mit fehlendem Breitband“, mangelhafter Internet-Versorgung. „Es geht um den eigenen Wohlstand“, sagt sie. Jeder habe einen großen Fernseher und zwei Autos. Die Leute regten sich über leere Innenstädte auf und kauften ihre Kleidung bei Discountern am Stadtrand. Es gebe in Müncheberg keine rechte Szene, aber rassistisch seien viele.
In Müncheberg sei es kein Tabu mehr, sich zur AfD zu bekennen. Lea Nitz hat den gleichen Eindruck. „Ich nehme keine aggressive rechte Szene wahr, sondern Rassismus und rechte Meinungen als Normalität in vielen Familien, die nun die AfD wählen.“ Juliane Grützmacher sagt, die Leute sprächen heute eher aus, was sie denken. Sie höre Bemerkungen wie „ich wähl’ die eben, ich lass’ mir das nicht ausreden, die zu wählen.“
In den Augen der Rückkehrer ist Müncheberg noch immer Heimat. Doch das Klima hat sich verändert. Politisch ist es rauer geworden. Juliane Grützmacher sagt, das zwinge einen dazu, sich über den eigenen Standpunkt klar zu werden und über die eigenen Argumente nachzudenken. Und über das, was einem wichtig ist, nach diesem anderen Leben, das sie fern von Müncheberg hatten.
Gegenüber vom „Thälmanns“, in einem anderen leeren Ladenlokal, haben sie eine „temporäre Galerie“ eröffnet. Dort werden auf allen Wänden die Ergebnisse eines Kunstworkshops für Kinder gezeigt. Für Lea Nitz noch so ein Unterschied zu ihrem Berliner Leben: In Berlin versinke man „komplett in der Anonymität. Hier macht man irgendetwas – und hat alle Aufmerksamkeit.“