Von der Preußenresidenz zur Kanzlerstadt: Die Potsdamer Republik
Olaf Scholz (SPD) hat am Mittwoch seinen Amtseid geleistet - Potsdam ist Kanzlerstadt. Warum das nicht nur mit barocker Schönheit zu tun hat – und was es für die Zukunft bedeutet.
Potsdam - Kurz nach 12 Uhr mittags war es soweit. Im Bundestag in Berlin hat Parlamentspräsidentin Bärbel Bas am Mittwoch dem neuen Bundeskanzler Olaf Scholz (beide SPD) den Amtseid abgenommen. Am frühen Nachmittag wurden die 16 Ministerinnen und Minister der neuen Bundesregierung vereidigt. Zuvor waren sie von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ernannt worden. Nicht nur in die Geschichte der Bundesrepublik wird dieser Tag eingehen – auch in Potsdams Stadtgeschichte.
Denn Potsdam ist nun Kanzlerstadt, und zwar eine durchaus einmalige. Denn nicht nur Scholz hat seinen Hauptwohnsitz hier, er lebt weitgehend unauffällig in einer Wohnung in der Humboldtstraße direkt am Alten Markt im Zentrum der Stadt, sondern auch gleich zwei Mitglieder seines Kabinetts: Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Bauministerin Klara Geywitz (SPD).
Ob sich „Spiegel“-Autor Alexander Osang die Potsdamer Zukunft so oder ähnlich vorgestellt hatte, als er einst im Jahr 2007 die Stadt in einer Reportage über die „Reichen, Schönen und Mächtigen“ insbesondere am Heiligen See als „heimliche Hauptstadt der Republik“ betitelte? 14 Jahre später jedenfalls kann von „heimlich“ keine Rede mehr sein.
Warum wurde Potsdam zum Machtzentrum?
Auf dem Weg zur Potsdamer Republik? Es sieht so aus. Ab heute wird ein gewichtiger Teil Bundespolitik aus und in Potsdam gemacht. Doch warum ist ausgerechnet Potsdam dieses neue Machtzentrum? Welche Impulse sind aus der Stadtgesellschaft für die Bundespolitiker:innen zu erwarten? Und was bedeutet die neue Rolle für die Potsdamerinnen und Potsdamer und das Leben in der Stadt?
Einer, der sich mit den Mächtigen auskennt und genauso mit Potsdam, sagt es so: „Die Anziehungskraft der Stadt wird sich verstärken, Potsdam wird sichtbarer werden und mit Sicherheit des Öfteren Bühne für die große Politik sein.“ Kai Diekmann, einstiger Chefredakteur der Bild-Zeitung und heute Medienunternehmer, lebt selbst seit 2008 in Potsdam. An seiner schon Jahre alten Feststellung habe sich nichts geändert: „Potsdam hat alle Vorteile von Berlin und keinen einzigen der Nachteile.“
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Der Attraktivität der Stadt könne kaum jemand lange widerstehen, sagt Diekmann: „Es gibt immer wieder Momente, da zerspringt einem das Herz ob der Schönheit Potsdams – und diese Momente nutzen sich auch nicht ab.“ Wie einst die preußischen Könige dem Moloch Berlins entkommen wollten und nach Potsdam fuhren, gelte das auch für die Spitzenpolitiker: Potsdam habe eine „intellektuelle, sinnliche Entfernung“ zu Berlin, „schon die Luft ist ja anders“, sagt der Medienunternehmer.
Mehr als nur ein geschichtsträchtiger Ort
Potsdam ist längst weit mehr als ein überdurchschnittlich schöner und überdurchschnittlich geschichtsträchtiger Ort. Trotz barocker Fassaden, die auch die Wohnung des neuen Bundeskanzlers umgeben, und des wiederaufgebauten Stadtschlosses könnte Brandenburgs Landeshauptstadt als Modellstadt für viele Fragen funktionieren, auf die die Ampel-Koalition Antworten für Deutschland geben will. Potsdam ist in den Jahrzehnten seit dem Mauerfall längst zum wichtigen Ort für das Nachdenken über die Herausforderungen der Zukunft geworden.
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Beim Zukunftsthema Nummer eins, dem Klimawandel und seinen Folgen, kommt ohnehin niemand um die Stadt herum: Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) ist eine der international renommiertesten Einrichtungen auf dem Gebiet. Gründungsdirektor Hans-Joachim Schellnhuber, einst Klimaberater von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), wirkt im Ruhestand noch weiter: Im September stellte er die Initiative „Bauhaus der Erde“ vor, die von Potsdam aus den globalen Wandel in der Bauwelt beschleunigen will, mit Holz statt Beton. Dass Bundesbauministerin Geywitz eine alt eingesessene Potsdamerin ist, macht den Draht denkbar kurz. Und ein Baerbock-Fan ist „Klimapapst“ Schellnhuber schon lange. Keine Frage, dass sich Baerbock und Geywitz verstehen.
Der Potsdamer Polarexperte Markus Rex vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung leitete die bislang größte internationale Arktisexpedition – in der Folge wurde auf dem Potsdamer Telegrafenberg 2020 das Deutsche Arktisbüro eingerichtet. Die Wissenschaftler:innen am benachbarten Deutschen GeoForschungsZentrum (GFZ) erforschen unter anderem klimawandelbedingte Risiken wie die Flutkatastrophe in der Eifel im Sommer oder die Frage nach Energie und Rohstoffen für die Gesellschaft der Zukunft.
Und am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung IASS in der Berliner Straße wird seit 2009 erforscht, wie der gesellschaftliche Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit befördert und gestaltet werden kann. Auch die Politökonomin und Nachhaltigkeitsforscherin Maja Göpel ist vor den Toren Potsdams zuhause, 2020 erschien ihr Buch „Unsere Welt neu denken“ und wurde zum Bestseller.
Bundespolitisch relevante Themen im Blick
Im Einstein Forum am Neuen Markt wird seit 21 Jahren unter der Ägide der US-amerikanischen Philosophin Susan Neiman der interdisziplinäre und internationale Austausch gepflegt, das Moses-Mendelsohn-Zentrum der Universität Potsdam befasst sich mit europäisch-jüdischer Geschichte sowie mit Antisemitismus und Rechtsextremismus.
Auch am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) wird zu bundespolitisch relevanten Themen gearbeitet, unter anderem zum Systemwechsel in Ostdeutschland vor und nach der Wende – übrigens ist auch der neue Ostbeauftragte der Bundesregierung Scholz, der SPD-Mann Carsten Schneider aus Thüringen, mittlerweile nach Potsdam gezogen – oder zur Hohenzollern-Debatte.
In Golm sind wichtige Forschungsinstitute aus Biotechnologie, Medizintechnik, Geowissenschaften, Astro- und Gravitationsphysik zuhause, am Griebnitzsee das Hasso-Plattner-Institut (HPI) mit maßgeblicher Expertise in Sachen Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz, was schon Merkel zu schätzen wusste und dort auch Kabinettssitzungen abhielt.
Die Intellektuellen mischen sich ein
Dem geballten Wissen steht in Potsdam zunehmend auch eine intellektuelle Wirkmacht zur Seite. Antje Rávik Strubel, diesjährige Trägerin des Deutschen Buchpreises und Potsdamerin, hat ausdrücklich vor, das Licht der Öffentlichkeit zu nutzen: Ihre Dankesrede war dezidiert politisch – und im PNN-Interview sprach sie sich scharf dagegen aus, durch Allianzen mit radikalen Kritiker:innen des Genderns „den Feinden der demokratischen Gesellschaft das Wort zu reden“.
2011 hatte Eugen Ruge den Buchpreis erhalten für „In Zeiten abnehmenden Lichts“. Aufgewachsen in Babelsberg sagt er über sich: „Wenn überhaupt, dann fühle ich mich als Potsdamer.“ Ruge mischt sich immer wieder ein, wo es um die Erinnerungskultur der Stadt geht – und damit auch um die des ganzen Landes. Ob gegen den Wiederaufbau der Garnisonkirche oder gegen die Aussage Marianne Birthlers, in der DDR habe es keinen echten Antifaschismus gegeben.
Auch Lutz Seiler, der den Buchpreis 2014 für „Kruso“ erhielt, setzt sich schreibend mit der DDR-Vergangenheit auseinander. Seiler lebt halb in Schweden, halb in Wilhelmshorst bei Potsdam, wo er als Leiter des Peter-Huchel-Hauses literarische Debatten befördert, die weit über Potsdam hinauswirken. Ob Julia Schoch, die als „Chronistin ostdeutscher Lebensrealität“ jüngst den Schillerpreis erhielt, Helga Schütz oder Grit Poppe: Es fällt auf, dass Potsdamer Literat:innen alle einen kritischen Blick auf die Vergangenheit suchen, der heutiger Prüfung standhält.
Potsdam sortiert sich neu
In der Gegenwart sortiert sich Potsdam, das nach dem Mauerfall lange vergeblich den Geist des Ortes suchte, gerade neu. Lange waren es nicht nur die Zuneigung zur Stadt und ihre Schönheit, die Prominente und Mächtige wie TV-Journalist Günther Jauch, Springer-Vorstand Mathias Döpfner und SAP-Mitgründer und Mäzen Hasso Plattner anzogen. Es war auch der Wunsch mitzuwirken, Potsdam in alter Schönheit erstrahlen zu lassen – und eigene Akzente zu setzen.
Döpfner drückte es vor knapp zehn Jahren so aus: „Potsdam ist Neuanfang, hier kann jeder ein bisschen Pionier sein.“ Seitdem hat sich einiges geändert. Das Stadtbild ist fast vollendet, die Auseinandersetzungen um die Gestaltung der Stadtmitte und den Umgang mit dem architektonischen DDR-Erbe sind entschieden. Das hat auch den Blick auf die Stadt von außen verändert. Wer in jüngerer Vergangenheit nach Potsdam zieht, der träumt nicht unbedingt mehr davon, noch mitzutun. Der schätzt die Schönheit, die Lage am Wasser, die Nähe zu Berlin – und vielleicht das Gefühl, „unter seinesgleichen“ sein zu können.
Schubert: „Aller guten Dinge sind Drei“
Nicht erst jetzt flammen Debatten über die Identität der Stadt auf. Der Medienunternehmer Peter Effenberg erhielt schon 2018 heftigen Zu- und Widerspruch auf sein in den PNN publiziertes Essay, in dem er voll Verzweiflung schilderte, wie seine Heimatstadt Potsdam ihn verlasse. Auch andere beklagen, dass sie ihre Stadt, die immer mehr Zuzügler anzieht, mittlerweile kaum wiedererkennen.
Und nun Potsdam, die Kanzlerstadt. Jubel wird darüber nicht ausbrechen. Weil die frühere Obrigkeitsstadt ein faszinierend gelassenes Verhältnis zu Mächtigen entwickelte. „Aller guten Dinge sind Drei“, twitterte nüchtern Potsdams Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD), er freue sich, „dass drei Mitglieder der neuen Bundesregierung aus Potsdam kommen“. Wird die neue Rolle samt mehr Aufmerksamkeit für Potsdam die Entfremdung mancher mit ihrer Stadt noch befördern? Die Sorge treibt einige um.
Ex-Chefredakteur Kai Diekmann sieht diese Gefahr nicht. „Schon Scholz und Baerbock sind Garanten dafür, dass das nicht passiert“, sagt er. Sie hätten sich „hervorragend in diese Stadt integriert“, Scholz sei immer „unauffällig aufgetreten“. Außerdem: „Potsdam lässt sich nicht hin- und herschubsen“, meint Diekmann. „Dieser Ort hat schon so viel gesehen und erlebt, er hat eine große integrative Kraft.“ Potsdam verbindet.
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