Rauswurf als Innenminister, Rücktritt als CDU-Landeschef: Wie Stahlknecht den Gebührenstreit in Sachsen-Anhalt eskalierte
Erst schasst Ministerpräsident Haseloff seinen illoyalen Innenminister, dann tritt der vom Vorsitz der Landes-CDU zurück. Eine Rekonstruktion turbulenter Tage.
Der Angriff kommt mit Wucht, und er geht voll gegen den Ministerpräsidenten Reiner Haseloff. Seit neun Jahren regiert er Sachsen-Anhalt, hat mit Mühe seine CDU von Allianzen mit der AfD abgehalten. Aber was sein CDU-Landeschef und Innenminister Holger Stahlknecht am Freitag nach Tagen des Schweigens und Abwartens in einem Interview mit der „Magdeburger Volksstimme“ sagt, wirkt wie ein gezielter Putschversuch.
Am Ende des Tages ist Stahlknecht als Innenminister Sachsen-Anhalts entlassen. Nach seinem Rauswurf kündigt Stahlknecht am Abend an, am 8. Dezember auch als Landesparteichef zurückzutreten. Er wolle damit weiteren Schaden von seiner Partei, seiner Funktion, seiner Familie und sich selbst abwenden, teilte er mit.
Schon die vergangenen Tage waren turbulent in Magdeburg, die Elbstadt rückte in den Fokus der Republik. Aus der Staatskanzlei heraus versuchte Haseloff, mit seiner CDU-Fraktion und den beiden Koalitionspartnern, SPD und Grüne, im Streit um die Erhöhung des Rundfunkbeitrags eine Lösung zu finden. Es geht um eine Zuzahlung von monatlich 86 Cent pro Haushalt, eine Erhöhung von fast fünf Prozent. Bis 2024 sollen so 1,5 Milliarden Euro zusammenkommen.
Aber Stahlknecht schlägt die Tür zu. „Wir bleiben bei unserer Position“, sagt der 56-Jährige der „Volksstimme“. Heißt: Ablehnung.
Zusammen mit der AfD würde die CDU-Fraktion die Erhöhung im Landtag stoppen, obwohl die anderen 15 Bundesländer dafür sind. Und obwohl Haseloff – unter dem Vorbehalt der Zustimmung im Parlament – im Kreise der Ministerpräsidenten die Zustimmung signalisiert hatte.
„Der Ball liegt jetzt im Feld von SPD und Grünen. Ich gehe davon aus, dass sich beide ihrer staatspolitischen Verantwortung bewusst sind und nicht von sich aus die Koalition beenden“, sagt Stahlknecht in dem Interview. Und wenn doch? „Dann käme es zu einer CDU-Minderheitsregierung und zur regulären Landtagswahl am 6. Juni 2021.“ Ein Präzedenzfall.
Eine Alleinregierung der CDU wäre wegen der Mehrheitsverhältnisse im Land vor allem von der AfD abhängig. Für Haseloff ist das eine Bombe, die Stahlknecht da hochgehen lässt, er hat eine Minderheitsregierung genau deshalb immer ausgeschlossen. Eigentlich ist Stahlknecht an diesem Freitag für 13.30 Uhr zum Interview mit dem Tagesspiegel verabredet. Es wird per SMS abgesagt.
So lief der Tag in Magdeburg
Stahlknechts Limousine fährt stattdessen um kurz vor 14 Uhr auf dem Kopfsteinpflaster vor der Staatskanzlei in Magdeburg vor. Haseloff hat ihn einbestellt. Das „Volksstimme“-Interview wird in der Staatskanzlei als „Putschversuch“ gewertet, darüber informiert gewesen sein sollen nur der mächtige Fraktionsvize Uli Thomas, der als Rechtsaußen gilt, und ganz wenige andere.
Das Gespräch mit dem Ministerpräsidenten ist kurz, um 14.15 Uhr kommt die Eilmeldung: „Haseloff entlässt Innenminister Stahlknecht.“ Er begründet das mit einem schwer gestörten Vertrauensverhältnis. Stahlknecht habe während seiner Bemühungen, die Kenia-Koalition im Streit um den Rundfunkbeitrag zu stabilisieren, unabgestimmt und „öffentlich den Koalitionsbruch und die Möglichkeit einer allein von der CDU gebildeten Minderheitsregierung in den Raum gestellt“.
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Der Wind dreht sich gegen Stahlknecht. Acht Landräte, drei aus der CDU, stellten sich kurz nach seiner Entlassung hinter Ministerpräsident Haseloff und die Regierungskoalition. Das Land brauche in der Pandemie Stabilität, Kenia solle bis zu den Wahlen weiterregieren. Über dem Papier steht der Satz: „Erst das Land, dann die Partei!“ Zu deutlich hatte Stahlknecht sich gegen die Koalitionspartner gewandt, zu wenig nuanciert, zu wütend wirkten seine Aussagen.
Gelöst ist der Konflikt damit längst nicht: Grüne und SPD pochen auf den neuen Rundfunkstaatsvertrag, eine Mehrheit in der CDU-Fraktion dürfte auch nach Stahlknechts Absetzung dagegen sein.
Wie es jetzt weitergehen könnte
Und so wächst sich der 86-Cent-Streit von Magdeburg zu einer Krise aus, die über das Bundesland hinausweist. „Es geht der CDU offensichtlich nicht um den Rundfunkbeitrag. Die parteiinternen Machtkämpfe treten offen zutage“, sagt Grünen-Landeschef Sebastian Striegel im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Stahlknecht stelle sich frontal gegen den Ministerpräsidenten, der für die Abgrenzung zur extremen Rechten stehe.
„Bei dem Modell einer Minderheitsregierung würde sich die CDU auf die AfD stützen. Die CDU verhilft einer rechtsextremen Partei damit faktisch zur Macht.“ Striegel weiß nicht recht, was jetzt passieren wird, ob Haseloff mit dem Rauswurf Stahlknechts seine Fraktion auf eine Linie bringen kann, die die Kenia-Koalition rettet und eine Lösung im Rundfunkstreit bringt.
Die Grünen drohen ohne eine Abstimmung im Parlament, die grünes Licht für die 86-Cent-Erhöhung gibt, mit dem Verlassen der Koalition. Ein möglicher Ausweg, gesichtswahrend für alle: Die CDU zeigt durch Enthaltung ihre Ablehnung. SPD, Grüne und Linke hätten im Parlament dann eine einfache Mehrheit gegen die AfD.
Die SPD ruft ihren Koalitionspartner in Magdeburg zur deutlichen Abgrenzung von der AfD auf. "Man darf mit Rechtsextremen nicht zusammenarbeiten", sagte SPD-Fraktionschefin Katja Pähle am Samstag dem Norddeutschen Rundfunk (NDR). "Deshalb hoffe ich, dass der Ministerpräsident die Brandmauer in seiner Partei sehr hoch halten kann."
Pähle verwies zugleich auf mehrere Möglichkeiten, den Koalitionsstreit beizulegen. Im NDR verwies sie auf einen Entschließungsantrag der SPD, wonach der geänderte Rundfunkstaatsvertrag zusammen mit einem Forderungskatalog für die weiteren Verhandlungen beschlossen werden könnte. "Ich kann allerdings nicht abschätzen, inwieweit es bei der bisher sehr festgemauerten CDU Bewegung gibt. Und natürlich sitzen auch die Grünen mit am Tisch, die eigene Vorstellungen haben", sagte sie.
Die SPD-Politikerin setzt nach eigenen Worten darauf, dass die drei Parteien "irgendwie etwas Gemeinsames hinbekommen".
Was jetzt aus Holger Stahlknecht wird
Holger Stahlknecht könnte sich unterdessen verzockt haben, seine Entlassung als Innenminister und sein Rücktritt könnten der letzte in einer Reihe von Fehlschlägen sein. Er galt lange als nächster Ministerpräsident, als Nachfolger des im Land beliebten Haseloff.
Stahlknecht, ehemaliger Staatsanwalt, kantig, scharfer Redner, war schon 2014 das erste Mal als kommender Landesvater im Gespräch, arbeitete später als Innenminister und seit Ende 2018 auch als Landesvorsitzender daraufhin: immer mit Einstecktuch, sauber frisiert.
Ihn und Haseloff einte, dass sie lange Zeit versuchten, den rechtskonservativen „Stahlhelmflügel“ der CDU in das Dreierbündnis mit SPD und Grünen einzubinden, ihn nicht weiter zur AfD abdriften zu lassen. Haseloff empfing wohl auch deshalb 2017 Viktor Orbán oder forderte 2015 eine Landesobergrenze für Flüchtlinge. Stahlknecht gab den unnahbaren Macher.
Spätestens mit dem rechtsextremistischen Anschlag in Halle, im Oktober 2019, ging für den Innenminister aber fast alles daneben. Die Polizei verlor damals den Attentäter aus den Augen, vor der Synagoge stand keine Streife, mehr Tote verhinderte nur eine Holztür.
Stahlknecht ist der oberste Dienstherr, sowas bleibt hängen – auch wenn ihn persönlich keine Schuld traf. Noch immer liegt im Landtag für Besucher die AfD-Zeitung „Blauer Aufbruch“ von damals aus, darauf Stahlknecht mit einem Foto in Verbrecher-Manier und der Titelüberschrift: „Stahlknecht muss zurücktreten.“
Im November wechselte dann seine bisherige Staatssekretärin ins Bundesverkehrsministerium, Stahlknecht und Haseloff wollten den Polizeigewerkschafter Rainer Wendt, Dauerprovokateur und Aufrüstungsprediger, als Nachfolger holen. Die Entscheidung sollte wohl die Rechtsaußen in der Fraktion besänftigen.
Einer der Anführer dieses Flügels, Fraktionsvize Lars-Jörn Zimmer, hatte bereits da eine Zusammenarbeit mit der AfD ins Spiel gebracht und im Juni 2019 in einem Papier gefordert, das „Soziale mit dem Nationalen zu versöhnen“. Er hatte es zusammen mit dem wirtschaftspolitischen Sprecher Uli Thomas geschrieben. Jenem Mann, mit dem Stahlknecht nun sein „Volksstimme“-Interview abgesprochen haben soll.
Doch SPD und Grüne intervenierten damals scharf gegen Wendt, die Koalition drohte zu zerbrechen, selbst in der CDU wollten viele statt des polarisierenden Duisburgers lieber eine ostdeutsche Lösung. Erst eine Intervention des Kanzleramtes beendete angeblich den Konflikt, Stahlknecht überstand ganz knapp eine Vertrauensfrage in der Fraktion. Der Überflieger taumelte.
Den Rechtsaußen ist Stahlknecht nicht AfD-affin genug, den Gemäßigten um Ministerpräsident Haseloff wurde seine zunehmende Nähe zu diesem Lager ebenfalls suspekt. Es gibt schon lange niemanden mehr, der die Fraktion wirklich unter Kontrolle hat. Wie sie entscheidet, wer für sie spricht, wird zunehmend unberechenbar. Ein gefährliches Machtvakuum.
Das Dreierbündnis gegen Rechts ist eher eine bröckelnde Mauer
Darunter leidet die gesamte Koalition, beide Partner warnen immer wieder lautstark vor dem Rechtsdrall. Dem Klima zuträglich ist das nicht. Das 2016 als Bollwerk gegen Rechts gegründete Dreierbündnis, gleicht längst eher einer bröselnden Mauer. Grüne und SPD fürchten den Schulterschluss mit der AfD, spätestens nach den Wahlen im Herbst, und ihren eigenen Machtverlust.
Ein weiteres Beispiel: Kurz vor Weihnachten 2019 stellte sich Stahlknecht hinter den mutmaßlichen Neonazi Robert Möritz, einen CDU-Parteikollegen. Er griff die Grünen an, die dessen Parteiausschluss gefordert hatten, und wieder drohte das fragile Dreierbündnis zu zerbrechen. Ausgerechnet Möritz selbst rettete die Koalition und Stahlknecht: mit seinem Parteiaustritt.
All das hatte dazu geführt, dass Haseloff, der lange Zeit amtsmüde wirkte, im September erklärte, selbst wieder anzutreten. Stahlknecht musste es verkünden. Eine Demütigung zu viel für den ehrgeizigen Politiker? Nur wenige Wochen später leistete sich der nun tapsig wirkende Innenminister einen weiteren Aussetzer: Die „Mitteldeutsche Zeitung“ berichtete, er habe es bei einem Termin vor Polizisten so dargestellt, als fehlten deren Arbeitsstunden zum Schutz einer Synagoge nun an anderer Stelle. Der Zentralrat der Juden forderte seinen Rücktritt. Und jetzt dieses „Volksstimme“-Interview.
Ob Stahlknecht nach seinem Rücktritt als Landesvorsitzender tatsächlich aufgibt, zu hoch gepokert hat, ist ungewiss. Die Werte-Union in Sachsen-Anhalt stärkte ihm bereits den Rücken, große Teile der Fraktion stehen zumindest inhaltlich bei ihm. Auch zwei der fünf CDU-Landräte dürften auf seiner Seite stehen: Sie unterschrieben das gemeinsame Papier der anderen Landräte, das Stabilität statt Streit forderte, nicht.
Warum der Fall über Sachsen-Anhalt hinausreicht
Die Krise in Magdeburg ist aber weit mehr als ein CDU-interner Machtkampf oder ein Streit, wieviel Geld der öffentlich-rechtliche Rundfunk braucht. Erst Thüringen, jetzt Sachsen-Anhalt, wieder spielen im Hintergrund der Umgang mit und bröckelnde Brandmauern zur AfD eine zentrale Rolle. Bisher wurde in der Bundes-CDU betont, der Fall sei nicht mit Thüringen zu vergleichen, wo CDU und AfD den FDP-Mann Thomas Kemmerich zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten wählten.
Hier gehe es um eine Sachfrage, die Haltung zum neuen Rundfunkstaatsvertrag mit der Beitragserhöhung – die CDU Sachsen-Anhalts vertrete seit vielen Jahren die Position der „Beitragsstabilität“, wenn man eigene Positionen aufgeben müsse, nur weil die AfD sie teile, werde man politikunfähig.
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Da aber die unabhängige Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) einen Finanzbedarf von zusätzlich 1,5 Milliarden Euro für die nächsten vier Jahre ermittelt hatte und die AfD nicht zum Entscheider in dieser Frage werden sollte, hatten Grüne und SPD trotz der „Beitragsstabilität“-Vereinbarung im Koalitionsvertrag eine Zustimmung zur monatlichen 86-Cent-Erhöhung angekündigt.
Stahlknecht sagte in dem Interview mit der „Volksstimme“: „Die Öffentlich-Rechtlichen haben den Transformationsprozess in den ostdeutschen Ländern, der zu einschneidenden Umbrüchen im Leben vieler Menschen geführt hat, zu wenig abgebildet. Die Öffentlich-Rechtlichen berichten gelegentlich nicht auf Augenhöhe, sondern mit dem erhobenen Zeigefinger der Moralisierung.“
Der medienpolitische Sprecher Markus Kurze hatte im Gespräch mit dem Tagesspiegel in Magdeburg zuletzt die Ablehnung damit begründet, dass wegen der Corona-Belastungen der Bürger eine Erhöhung nicht vermittelbar sei; Stahlknecht bedient nun aber eine Argumentation, die auch in AfD-Kreisen gegen die Dutzenden TV- und Radioanstalten verfolgt wird – gerade mit den Informationen in der Corona-Krise hatte der öffentlich-rechtliche Rundfunk bei vielen Bürgern an Ansehen gewonnen.
Warum die CDU die Beitragserhöhung wohl nicht verhindern kann
Vertreter von ARD, ZDF und Deutschlandradio warben immer wieder im Medienausschuss des Landtags für die Erhöhung – und mussten sich anhören, das Programm der 20 TV- und über 70 Radiosender sei zu westdeutsch geprägt, neben dem ARD-Hauptstudio in Berlin gäbe es nur in Erfurt (Kinderkanal/Kika) eine größere ARD-Einrichtung im Osten, dazu bis zu 395.000 Euro hohe Intendantengehälter.
Bisher war es Usus, die Vorschläge der KEF zu respektieren. Stahlknecht dazu: „Die KEF legt ihre Vorschläge geölt, gesalbt und nicht mehr angreifbar vor.“ Man müsse mal die Frage stellen, ob dieses Verfahren überhaupt noch zeitgemäß ist. „Es kann nicht sein, dass die Landtage in Deutschland zu Abnickvereinen degradiert werden.“
Das Paradoxe: Selbst wenn das Ganze an Sachsen-Anhalt scheitert, die Beitragserhöhung würde wahrscheinlich trotzdem kommen. „Mehrere Länder und Anstalten haben ja bereits angekündigt, gegen ein entsprechend ablehnendes Votum Sachsen-Anhalts vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Das sind ja nicht Dinge, die können wir ausblenden und sagen, das interessiert uns nicht“, appelliert der medienpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Holger Hövelmann, früher selbst Innenminister.
Denn 2007 kippte das Bundesverfassungsgericht schon einmal einen Eingriff in die Empfehlungen der KEF. Damals gab es noch die GEZ-Gebühr, die später vom Rundfunkbeitrag für alle Haushalte in Deutschland abgelöst wurde. Nach dem Urteil war der Eingriff der Bundesländer in die Gebührenrunde 2005 verfassungswidrig. Bei der Gebührenfestsetzung waren sie um 28 Cent unter der von der KEF empfohlenen Gebühr geblieben.
Das Gericht gab damals einer Verfassungsbeschwerde von ARD, ZDF und Deutschlandradio statt. Danach hatten die Länder die Rundfunkfreiheit verletzt, weil sie weit hinter dem KEF-Vorschlag zurückblieben. Dies verstößt den Richtern zufolge gegen das Gebot der „Staatsferne“, mit dem politischer Einfluss der Politik auf die Sender verhindert werden soll. Die sachsen-anhaltische CDU hätte sich völlig umsonst zerrieben, Stahlknecht ohne Ertrag seine Karriere geopfert.