Debatte um Maaßen und Chemnitz: Wie sich Unionspolitiker der Sprache der AfD bedienen
Unionspolitiker wie Horst Seehofer und Michael Kretschmer gehen auf Distanz zur AfD. Und übernehmen doch oft deren Begriffe. Eine Analyse.
Vergangener Montagabend: In erstaunlich aufgeräumter Stimmung, wie Teilnehmer beobachteten, kam Bundesinnenminister und CSU-Chef Horst Seehofer zum Regensburger Presseclub, am Vorabend der Wegbeförderung von Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen. "Recht pathetisch", berichtet ein Reporter, habe sich Seehofer in der Runde abgegrenzt von der AfD. Und Maaßen gegen Vorwürfe einer Nähe zu dieser Partei in Schutz genommen.
Als es um die Fragen zur Causa Maaßen ging, übernahm Seehofer eine der gern von AfD, Pegida & Co. benutzten Vokabeln. War das Interview des obersten Verfassungsschützers mit der "Bild"-Zeitung falsch? Kritisch seien nicht die Zweifel an einer "Hetzjagd" in Chemnitz gewesen, wohl aber die Äußerungen zum Video mit der Jagdszene, das Aktivisten namens "Antifa Zeckenbiss" verbreitet hatten, sagte Seehofer. Jetzt könne man "die These aufstellen, kein Behördenleiter - ich habe 17 Bundesoberbehörden, alle von großem Kaliber, jetzt kann ich sagen, keiner von denen darf ein Interview geben. Das wäre eine Meinungsdiktatur."
Rechtsradikale prangern "Gleichschaltung" an
Meinungsdiktatur - regelmäßig verwendet wird dieser Begriff sonst vor allem in rechten Kreisen. Er gilt als Synonym für eine angebliche Einschränkung der grundgesetzlich garantierten Meinungsfreiheit, vor allem, wenn es um fremdenfeindliche Hassbotschaften geht ("Das wird man ja wohl noch sagen dürfen"). Die sächsische AfD-Abgeordnete Verena Hartmann beispielsweise sagte kürzlich im Bundestag unter Hinweis auf die Rolle der "Altparteien": "Ich fühle mich schon wieder wie im tiefsten Osten. Es herrscht eine Meinungsdiktatur, in der Andersdenkende ausgegrenzt, geächtet und diffamiert werden." Ein Taschenbuch eines Autors aus der Szene trägt den Titel "Linksversifft! Über Meinungsdiktatur und Deutschlandhass". Und Rechtsradikale prangern in ihren Blogs "Gleichschaltung und Meinungsdiktatur" im "Reich Angela Merkels" an.
Seehofer hätte im Regensburger Presseclub darauf verweisen können, dass sich sein Spitzenbeamter Maaßen mit Meinungsäußerungen generell zurückzuhalten hat. Zumal ihm selbst erst kürzlich vom Bremer Oberverwaltungsgericht im Streit um angeblich falsche Asylbescheide eine Vorverurteilung der ehemaligen Bamf-Chefin verboten wurde. Doch auch wenn Seehofer - gerade vor der Landtagswahl in Bayern - an der Abgrenzung zur AfD gelegen ist, bedient er mit einem Begriff wie "Meinungsdiktatur" deren Stimmungsmache, mindestens indirekt.
Ähnlich ist das - wiederum exemplarisch - auch beim sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) zu beobachten. "Keinen Mob, keine Hetzjagd und keine Pogrome" hat es ausweislich seiner Regierungserklärung vom 5. September in Chemnitz gegeben. Er habe so formuliert, weil ""Demokraten durch Wortwahl zur Beruhigung beitragen sollten", begründete er diese Äußerung ein paar Tage später.
Kretschmer rügt Gabriel - und bedient ein Pegida-Klischee
Vergangene Woche fügte Kretschmer dann im Interview mit dem Tagesspiegel hinzu: "Ich würde das Wort ,Mob' oder das Wort ,Pack' nie benutzen. Es ist eine Frage des Anstandes, auf diese Beschimpfungen zu verzichten. Es ist unverantwortlich für den gesellschaftlichen Frieden, wenn Menschen so bezeichnet werden. Ob von Politikern oder Journalisten. Es gehört sich einfach nicht." Kretschmer wusste, dass ein rechter Mob in Chemnitz unterwegs war, will das Wort aber unter Rücksicht auf "besorgte Bürger" nicht verwenden.
Mit seinem Hinweis auf das aus seiner Sicht unangemessene Wort "Pack" rügt der CDU-Ministerpräsident - ohne ihn namentlich zu erwähnen - den SPD-Politiker Sigmar Gabriel. Der damalige SPD-Vorsitzende hatte 2015 nach den Krawallen gegen neu eintreffende Flüchtlinge im sächsischen Heidenau die Randalierer als "Pack" bezeichnet, wohlgemerkt: nur die. Ein Jahr nach den Ausschreitungen in Heidenau bilanzierte die "FAZ": "Bis heute wird vor allem bei AfD-Mitgliedern und Pegida-Anhängern die Legende gepflegt, der Vizekanzler habe damit alle Kritiker der Asylpolitik gemeint." Und Kretschmer bedient diese Lesart nun mit.
Im selben Interview heizt der CDU-Politiker die von der AfD und ihren Mitstreitern angefachte Debatte über eine angeblich steigende Zahl von Messer-Attacken an. AfD-Chef Jörg Meuthen hatte im März gesagt: "Die Messerattacken in Deutschland haben mittlerweile ein beängstigendes Ausmaß angenommen. Immer mehr Jugendliche, insbesondere Migranten, und zwar vorrangig Araber, tragen Messer mit sich."
Kretschmers Worte zum Thema klingen ähnlich, auch wenn er auf den Verweis auf Migranten-Gewalt oder gar "Südländer" verzichtet: "Die Zahl der Messerstechereien steigt besorgniserregend. Ich frage: Warum müssen Menschen in den Innenstädten mit Messern bewaffnet herumlaufen?"
Statistiken zu Messerattacken defizitär
Der "Faktenfinder" der ARD-"Tagesschau" hatte im März festgehalten, die Statistiken zu Messerattacken seien defizitär. Ähnlich hieß es im April im Faktencheck des Recherche-Kollektivs "Correctiv", von einem "dramatischen" Anstieg oder einer "Messer-Epidemie" in Deutschland könne nicht die Rede sein. Allerdings sei tatsächlich in vielen Bundesländern ein Anstieg zu vermerken.
Für Sachsen teilt das Landesinnenministerium auf Tagesspiegel-Anfrage mit, Angriffe mit Messern würden in der Kriminalstatistik "gegenwärtig nicht separat erfasst und ausgewiesen". Erfasst werden Fälle unter Verwendung von Stichwaffen allgemein. Deren Zahl lag 2013 bei 953, 2014 bei 970, 2015 bei 1254, 2016 bei 1289 und 2017 bei 1196. Der weitaus größte Anteil entfällt auf sogenannte "Rohheitsdelikte und Straftaten gegen die persönliche Freiheit", wozu unter anderem Raub und Körperverletzung zählen. Mit dem Tatmittel "Stichwaffe" wurden in Sachsen 2013 und 2014 je 27 Straftaten gegen das Leben verübt, 2015 waren es 57, im Jahr darauf 38 und im vergangenen Jahr 31.
Grüne: Wer wie die AfD spricht, macht sie nur stärker
Der Oppositionsführer im sächsischen Landtag, Linksfraktionschef Rico Gebhardt, hatte Kretschmer kürzlich noch bescheinigt, er nehme ihm persönlich die Abgrenzung zur AfD ab, nicht jedoch seiner Partei. Grünen-Fraktionschef Wolfram Günther sagt jetzt: "Wer wie die AfD spricht, macht sie nur stärker. Die Methode Kretschmer, die AfD als Partei anzugreifen, deren Wortwahl und Angstmache aber zu übernehmen und damit zu verstärken − das ist weder konservativ, noch christlich oder liberal. Das ist einfach nur hochgefährlich, weil es nicht funktioniert und die Wähler direkt in die Arme der AfD treibt."
"Gefühlte Ängste werden bedient"
Robert Feustel, als Politikwissenschaftler in Leipzig und Jena tätig, hat sich intensiv mit der Sprache der neuen Rechten befasst. 2016 war er Mitherausgeber eines Lexikons, das die Sprache der Wutbürger entschlüsselt. Er sagt dem Tagesspiegel, sowohl Seehofer als auch Kretschmer übernähmen typisch rechte Rhetoriken, "die Grenze zwischen der AfD und den demokratischen Parteien verschwimmt".
Die beiden Unionspolitiker würden gefühlte Ängste bedienen und seien "von jeder Sachlichkeit abgerückt", erklärt der Wissenschaftler. "Wir haben es mit einer hyperrealen oder kontrafaktischen Version öffentlicher Debatten zu tun, also mit dem, was gern als Trumpismus bezeichnet wird. Das Bittere ist, dass davon nur die extreme Rechte profitiert, weil sie demagogische Sprachmuster und inszenierte Ängste besser beherrscht und schon lange damit arbeitet."