Artikel 4 des Grundgesetzes: Wie Anthroposophen die Pflicht zu Schul-Kruzifixen aushebelten
Artikel 4 schützt Glauben, Gewissen und Überzeugungen der Menschen. Deshalb darf Bayern die Schulen nicht mehr zwingen, Kruzifixe aufzuhängen.
Zu beinahe jedem der Grundgesetz-Artikel hat das Gericht in der Geschichte bereits geurteilt, wir bringen Beispiele zu den ersten zehn – hier zu Artikel 4.
Artikel 4 schützt die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet, jeder muss seine Religion auch leben dürfen. Gleiches gilt für das Gewissen: Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.
Der Fall und die Menschen
Die Bayerische Volksschulverordnung ist strikt: In jedes Klassenzimmer muss ein Jesuskreuz. Ernst und Renate Seler aus Nittenau bei Regensburg wollen aber nicht, dass ihre Kinder unter einem Kruzifix lernen müssen. „Ein Kind kann sich beim Anblick eines über einen halben Meter großen Leichnams nicht freuen.
Wenn es ständig den Leichnam anschauen muss, wird ihm die Freude an dem lebendigen Christus genommen“, schreiben sie an das Bildungsministerium. Ihre Überzeugung leiten sie aus der Anthroposophie Rudolf Steiners ab, sich selbst bezeichnen sie als „bemühende Christen“. Gemeinsam starten sie eine Initiative, der sich weitere Eltern als Kläger anschließen.
Das Entscheidung und die Folgen
Beschluss des Ersten Senats vom 16. Mai 1995, Az.: 1 BvR 1087/91. „Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG.“ Die entsprechende Vorschrift der Schulordnung wird für nichtig erklärt.
Bayerns damaliger Ministerpräsident Edmund Stoiber ruft zum Aufstand gegen das gottlose Gericht. Doch es bleibt dabei: Schule muss sich neutral verhalten, und das Christentum ist eine Religion wie andere auch. Heute gibt es die Kreuzpflicht noch immer. Wer sich in seiner Freiheit verletzt sieht, kann widersprechen. Dann muss das Kreuz eigentlich weg. Macht aber kaum jemand.
Auch zu den weiteren neun Artikeln am Anfang des Grundgesetzes haben wir Fälle zusammengetragen:
Artikel 1: Wie ein Junkie-Polizist den Strafvollzug verändert hat
Artikel 2: Wie ein Adenauer-Kritiker die neue Passregelungen erwirkte
Artikel 3: Wie Vanja die Behörden auf das "dritte Geschlecht" gebracht hat
Artikel 5: Wie gegen den „Jud Süß"-Regisseur ein bahnbrechendes Urteile erstritten wurde
Artikel 6: Wie ein Vater erfolgreich einklagte, sein Kind nicht sehen zu müssen
Artikel 7: Wie eine Waldorfschule das Recht von Privatschulen stärkte
Artikel 8: Wie die Loveparade die Versammlungsfreiheit einklagen wollte – und scheiterte
Artikel 9: Wie Konrad Adenauer ein KPD-Verbot erwirkte
Artikel 10: Wie FDP-Politiker gegen die Vorratsdatenspeicherung kämpfen
Die deutsche Verfassung feiert am Donnerstag 70. Geburtstag. Der Erfolg des Grundgesetzes hängt eng mit der Arbeit des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe zusammen. Wir haben Fälle zu den ersten zehn Artikeln zusammengetragen.