zum Hauptinhalt
Russische und syrische Soldaten patrouillieren gemeinsam an der Grenze zur nördlichen Provinz Idlib.
© George OURFALIAN / AFP

Naher Osten: Was für die Kontrahenten in Syrien auf dem Spiel steht

Russische Macht, amerikanische Schwäche, türkische Drohungen und kurdische Ängste: Ein Überblick über die Akteure, ihre Pläne und ihre Motive.

Syrien kommt nicht zur Ruhe. Der geplante Abzug der USA aus dem kriegsgeplagten Land weckt Begehrlichkeiten bei anderen Konfliktbeteiligten. Es geht um die Kontrolle über rund ein Viertel des syrischen Staatsgebietes im Norden mit wichtigen Ölfeldern und fruchtbarem Ackerland – und um möglichst gute Ausgangspositionen für Gespräche über die Zukunft ganz Syriens. Wichtige Vorentscheidungen könnten bei einem russischtürkischen Gipfeltreffen am Mittwoch in Moskau fallen. Ein Überblick über die Akteure, ihre Pläne und ihre Motive.

RUSSLAND ist als tonangebende militärische und politische Kraft der wichtigste Faktor im syrischen Machtpoker. Wladimir Putin will den fast achtjährigen Krieg beenden, die Position seines Landes als neue Nahostmacht zementieren und eine möglichst gefestigte Zentralregierung unter russischem Einfluss installieren. Zugleich nutzt der Staatschef die Kooperation mit der Türkei, um die Westbindung Ankaras zu lockern. Nachdem er sich 2018 nicht weniger als acht Mal mit seinem türkischen Kollegen Recep Tayyip Erdogan traf, setzt Putin die engen Konsultationen im neuen Jahr fort. Dabei will er dieses Bündnis festigen, zugleich aber türkische Ambitionen in Syrien bremsen. Die von der Türkei angekündigte militärische Großoffensive gegen die Kurden im Norden Syriens, etwa zur Schaffung einer von Ankara beherrschten Pufferzone, sei nicht im Moskauer Interesse, sagt Russland-Experte Kerim Has.

AMERIKA hat sich mit dem von Präsident Donald Trump verkündeten Truppenabzug als Akteur geschwächt. Zwar betont Washington, die Hauptziele der US-Syrienpolitik – der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) und den Iran – würden auch nach dem Abzug der 2000 US-Soldaten weiterverfolgt. Doch ohne Truppen am Boden stellt sich die Frage, wie das gehen soll. Der Tod von vier Amerikanern bei einem mutmaßlichen IS-Anschlag in der Stadt Manbidsch diese Woche heizt die Debatte über den Rückzug an. Widersprüchliche Signale aus Washington vergrößern die Verwirrung über den Kurs der Supermacht. Gleichzeitig droht Ärger mit dem Nato-Partner Türkei. Ankara betrachtet die syrische Kurdenmiliz YPG, den wichtigsten Partner Washingtons im Kampf gegen den IS, als Terrorgruppe und will militärisch gegen sie vorgehen.

DIE TÜRKEI fühlt sich durch die Rückzugsankündigung der Amerikaner gestärkt. Erdogan will Berichten zufolge bis zu 80000 Soldaten über die Grenze nach Nordsyrien schicken, um in einem Teil des bisher von den USA beherrschten Gebietes seinen lang gehegten Plan für eine türkisch kontrollierte Sicherheitszone gegen die Kurdenmiliz YPG umzusetzen. Dem türkischen Präsidenten schwebt dabei die Besetzung eines rund 30 Kilometer breiten Gebietsstreifens entlang der türkischen Südgrenze vor. Allerdings will die Türkei dabei eine direkte Konfrontation mit den USA vermeiden; wenn die Amerikaner ihren Rückzug hinauszögern, wird vorerst nichts aus der türkischen Pufferzone. Auch muss Erdogan Rücksicht auf Russland nehmen.

Zusätzlich eingeengt wird Ankaras Spielraum durch die jüngste Entwicklung in der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens. Erdogan hatte mit Putin eine Abmachung getroffen, die einen Großangriff der syrischen Armee auf die Provinz und damit eine neue Fluchtwelle in die Türkei bisher verhindert hat. Doch nun hat das der Terrororganisation Al Qaida nahestehende Dschihadistenbündnis Hayat Tahrir al Scham (HTS) seine Stellung in Idlib gestärkt – trotz des türkischen Versprechens, die Islamisten zu bekämpfen. Beim Gipfel in Moskau dürfte Putin den Druck auf Erdogan erhöhen, in Idlib entschiedener gegen die HTS-Kämpfer vorzugehen.

SYRIENS KURDEN sehen sich durch Amerikas Rückzugsentscheidung ihres wichtigsten Beschützers beraubt. Im Gegenzug für den Einsatz der YPG im verlustreichen Kampf gegen den IS erhielten die Kurden unter dem Schirm der US-Präsenz in den vergangenen Jahren die Möglichkeit, eine Selbstverwaltung im Nordosten Syriens aufzubauen. Diese ist nun durch die türkische Drohung mit einer Militärintervention in Gefahr. Eine türkische Pufferzone lehnt die YPG strikt ab; allenfalls mit einem von den UN kontrollierten Gebietsstreifen könnte sie sich anfreunden. Ein Einsatz der Vereinten Nationen gilt jedoch als höchst unwahrscheinlich. Deshalb bemühen sich die Kurden seit einiger Zeit um Nähe zu den Herrschenden in Damaskus. Westlich von Manbidsch sind bereits gemeinsame Patrouillen von kurdischen Kämpfern, syrischen Soldaten und russischen Militärpolizisten gebildet worden. Eine Übernahme des bisher von den USA und der YPG beherrschten Nordostens des Landes durch die russische Armee und das syrische Regime hätte für die Kurden den Vorteil, dass damit wohl eine türkische Invasion verhindert würde. Ein großes Maß an Selbstverwaltung können die Kurden von Baschar al Assad aber nicht erwarten.

SYRIENS MACHTHABER hat ein Ziel vor Augen: Er will nach fast acht Jahren Krieg wieder das ganze Land beherrschen. An diesem Anspruch hält der 53-Jährige unbeirrt fest – allen Rückschlägen, Vorwürfen und Kriegsverbrechen zum Trotz. Und er kann dabei nach wie vor auf Russlands Unterstützung setzen. Auch der Zugriff auf den Norden Syriens wird von Moskau befürwortet. Erst jüngst betonte Außenminister Sergej Lawrow, die Gebiete sollten den syrischen Sicherheitskräften übergeben und in die staatliche Verwaltungsstruktur eingegliedert werden – das sei die „beste und einzige Lösung“. Dabei kommt Assad zupass, dass er Schritt für Schritt auf dem diplomatischen Parkett wieder „hoffähig“ wird. Vor Kurzem haben die Vereinigten Arabischen Emirate ihre Botschaft in Damaskus wiedereröffnet. Sogar Saudi-Arabien, jahrelang erklärter Todfeind des syrischen Regimes, plädiert dafür, das Land wieder in die Arabische Liga aufzunehmen. Für Assad dürfte das eine Genugtuung sein – einigen scheint er wieder als legitimer Vertreter Syriens zu gelten.

DER „ISLAMISCHE STAAT“ gehört auch zu den Profiteuren. Allein dass sie den tödlichen Anschlag auf US-Soldaten in Manbidsch für sich reklamieren, ist für die Dschihadisten ein Propagandaerfolg: Es wird ihnen zugetraut, einen solchen Angriff fernab ihrer verbliebenen Einflusszonen im Euphrattal zu organisieren. Kein Wunder, dass Experten fürchten, der IS könnte mit dem US-Abzug an Schlagkraft gewinnen. Offenbar sehen das Politiker in den USA ähnlich. Der republikanische Senator Lindsey Graham sagte, Trumps Entscheidung habe „Enthusiasmus beim Feind“ ausgelöst.

Zur Startseite