Berliner Rede vor Treffen mit Lawrow: Warum Blinken den Schulterschluss mit Europa sucht
Gespräche haben keinen Sinn mehr? Das war einmal. Vor der nächsten Runde im Ukraine-Konflikt sendet der US-Außenminister ein deutliches Signal. Ein Kommentar.
Wie wirkmächtig sind die Bilder und geflügelten Worte aus den Schlüsselmomenten des Kalten Kriegs heute? In einer Woche, in der Europa erneut zwischen Krieg und Frieden schwankt, setzt der Außenminister der stärksten Militärmacht der Erde, Tony Blinken, auf die Macht des Worts.
Für seine aufrüttelnde Rede wählt er Berlin: die Stadt, die vom Inbegriff der Teilung des Kontinents zum Symbol des Siegs der Freiheit über die Diktatur wurde.
Ohne Ernst Reuter, John F. Kennedy und Ronald Reagan direkt zu zitieren, lässt er die internationale Solidarität mit West-Berlin in Blockade und Luftbrücke aufleben. Völker der Welt, schaut auf die Ukraine! Dort gehe es nicht um Grenzscharmützel zwischen zwei Staaten.
Vertraglich garantierte Prinzipien wie nationale Selbstbestimmung, Unantastbarkeit der Grenzen, freie Bündniswahl stehen auf dem Spiel. Wie einst Berlin ist heute die Ukraine in zwei Teile gespalten, dazwischen ein Niemandsland, in dem Soldaten patrouillieren.
Blinken listet Putins Vertragsbrüche auf
Dann schlüpft Blinken in die Rolle eines Chefanklägers wie Adlai Stevenson, UN-Botschafter der USA, 1963 in der Kubakrise. Er seziert die Darstellungen des Kremls.
Er listet die Verträge auf, die Wladimir Putin in der Ukraine gebrochen habe: das Gebot friedlicher Konfliktlösung und das Verbot gewaltsamer Grenzveränderungen in der KSZE-Schlussakte 1975 und der Charta von Paris 1990; die Wiener Vereinbarung über Transparenz militärischer Aktivitäten; das Budapester Memorandum von 1994, als die Ukraine ihre Atomwaffen aufgab und Russland dafür die Unabhängigkeit und die Grenzen der Ukraine garantierte.
Warum überhaupt so eine Rede – und warum in Berlin? Putin fällt die Entscheidung, ob er angreift oder nicht. Dabei scheint die Rücksicht darauf, was andere Völker denken, keine große Rolle zu spielen.
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Gespräche hätten keinen Sinn mehr, hatte Russlands Chefunterhändler Rjabkow das Treffen der vergangenen Woche zusammengefasst. Nun verhandeln Blinken und der russische Außenminister Sergej Lawrow an diesem Freitag doch weiter in Genf.
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Blinken geht es in Vorbereitung darauf um den Schulterschluss Amerikas und Europas. Deshalb übergeht er die Differenzen. Er fordert die Deutschen und andere zögerliche EU-Partner nicht auf, Verteidigungswaffen an die Ukraine zu liefern, wie die USA und Großbritannien das tun.
In der Rede verlangt er auch nicht, Berlin solle Nord Stream 2 als Hebel benutzen; eine Betriebsgenehmigung komme nur in Frage, wenn der seine Soldaten von den ukrainischen Grenzen abzieht. Diesen Wunsch hat Blinken zuvor in einer Pressekonferenz geäußert.
Und nebenbei die irritierenden Äußerungen seines Präsidenten vom Vorabend eingefangen. Joe Biden hatte gesagt, er glaube, dass Putin in die Ukraine „einrücken“ werde; bei einem „kleineren Eindringen“ könnten die Reaktionen des Westens begrenzt bleiben. Blinken stellt klar: Jede Grenzverletzung werde als Aggression bewertet und eine harte Antwort finden.
Das Werben um Deutschland hat zwei Seiten
Blinkens Entscheidung, in Berlin um die öffentliche Meinung der Europäer zu werben, hat zwei Seiten. Deutschland ist die entscheidende Macht im Umgang der EU mit Russland. Aber zugleich ein unsicherer Kantonist bei der erhofften Einstimmigkeit des Westens.
Deutsche zeigen mitunter ein Verständnis für Russland, das andere Europäer irritiert. Und Deutschland ist wegen seiner hohen Abhängigkeit von russischem Gas aus Putins Sicht leichter erpressbar. Diese Aspekte hat Blinken in seiner Berliner Rede wohlweislich verschwiegen. Die Strahlkraft Berlins im Konflikt um die Ukraine sinkt, wenn das Bild vom Vorposten der Freiheit Risse zeigt.