Ein Test für Putins Absichten: Sicherheitsgarantien für Russland - und umgekehrt
30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion sollte der Westen Moskau eine neue Charta für umfassende Sicherheit in Europa anbieten. Ein Kommentar.
Warum nicht die gewohnte Dramaturgie umdrehen, um Auswege aus dem verkorksten Verhältnis Russlands zum Westen auszuloten? Also sich nicht über Wladimir Putins Jahrespressekonferenz empören – auch wenn der recycelte Wortmüll aus Propaganda und Lügen genug Gründe bietet –, sondern seine Aufforderung ernst nehmen. Er verlangt Sicherheitsgarantien und eine Friedensordnung für Europa.
Beides kann er haben, mit Gewinn für alle Beteiligten. Zugleich würde sich vor den Augen der Welt zeigen, ob er das Ansinnen überhaupt ernst meint. Wer Sicherheitsgarantien für sich verlangt, muss sie auch umgekehrt geben, etwa der Ukraine, um glaubwürdig zu sein.
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Die Diplomaten müssen für so einen Vertrag nicht lange nach Anknüpfungspunkten und Formulierungen suchen. Die Friedensordnung für die Zeit nach dem Kalten Krieg gibt es bereits: die Charta von Paris vom November 1990, die wiederum auf der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki von 1975 aufbaut.
Sie garantiert die territoriale Integrität aller Teilnehmerstaaten, bekräftigt das Bekenntnis zum Gewaltverzicht und erklärt „gleiche Sicherheit“ für alle zum Grundprinzip der Sicherheit in Europa. Völkerrechtlich sind die Nato-Staaten und Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion an diese Zusagen gebunden.
Niemand greift Russland an, es führt aber Krieg in Nachbarstaaten
Warum herrscht dennoch kein Frieden in Europa? Das stellt Putin anders dar als der Rest der Welt, lohnt aber keine Erörterung im Detail. Erstens genügt ein Blick auf die Frontlinien: Russland wurde nicht angegriffen, sondern Putins Truppen unterstützen Angriffe auf Nachbarstaaten. Zweitens soll es hier um einen Ausweg aus den bekannten Schuldzuweisungen gehen.
Womöglich gewinnen die geltenden Zusagen der Charta für Putin an Wert, wenn er persönlich sie als Präsident Russlands mit den Staats- und Regierungschefs des Westens erneut unterzeichnet. Ein Prestigegewinn wäre es nach der diplomatischen Isolierung infolge des von ihm entfesselten Kriegs in der Ukraine allemal.
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Europa und Nordamerika können Putin diesen Erfolg geben, weil sie im Gegenzug Putins Unterschrift unter Garantien bekommen würden, die er ungern gibt: Demokratie, Meinungsfreiheit, Rechtsstaat – sowie den Grundsatz, dass jeder Staat frei ist, seine Bündnissysteme zu wählen, ohne Zwang von außen.
Putin möchte die Zusage der Bündnisfreiheit liquidieren
Da, bei der Allianzfreiheit, liegt der eigentliche Streitpunkt. Insofern wäre dies ein Moment der Wahrheit. Putin fällt es leichter, sich zu Demokratie, Meinungsfreiheit, Menschenrechten und Rechtsstaat zu bekennen – auch wenn alle Welt weiß, dass diese Prinzipien in Russland gar nicht oder nur begrenzt gelten. Die meisten UN-Mitgliedsstaaten behauptet, sie seien Demokratien. Aber eine Mehrheit ist dies nicht.
Dagegen gibt es sehr wenige Staaten, die ihren Nachbarn das Recht auf sichere Grenzen und Bündnisfreiheit absprechen. Putin wird es schwer fallen, überzeugend zu begründen, warum er Garantien für Russland fordert, die er der Ukraine und Georgien verweigert. Und warum Russland Militärbündnisse mit Belarus oder Armenien schließen darf, die Ukraine oder Georgien jedoch keine freie Wahl in Sachen Nato-Beitritt haben sollen.
Der Versuch, Putin beim Wort zu nehmen, ist in diesem Fall so oder so ein Gewinn: Entweder er bekennt sich zu den Prinzipien der Charta von Paris. Oder er entlarvt den Wunsch nach Sicherheit für alle als leere Pose.