Michael Roth zum Russlandbild der SPD: „Wir dürfen uns nicht hinter Willy Brandt verstecken“
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses über die SPD-Sehnsucht nach Ostpolitik, Solidarität mit der Ukraine und die Scholz-Klarstellung zu Nord Stream 2.
Michael Roth (SPD) ist seit Mitte Dezember Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags. Zuvor war der hessische Abgeordnete Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt (2013 bis 2021). 2019 hatte sich der heute 51-Jährige gemeinsam mit Christina Kampmann im Mitgliederentscheid der SPD für das Amt der Parteivorsitzenden beworben, schied aber im erster Wahlgang aus.
Herr Roth, US-Außenminister Antony Blinken hat nach seinem Besuch in Kiew in Berlin die Außenminister Englands, Frankreichs und Deutschland getroffen sowie den Bundeskanzler – ein gutes Zeichen?
Unbedingt. Das Treffen zeigt, dass die USA weiter bereit sind, sich eng mit den EU-Partnern abzustimmen. Russlands Präsident Wladimir Putin möchte am liebsten über die Köpfe der Europäerinnen und Europäer hinweg europäische Angelegenheiten allein mit den USA regeln. Die Biden-Administration aber hat versichert, dass solche Entscheidungen nicht ohne die EU oder die Ukraine getroffen werden.
Was erwarten Sie von dem Treffen zwischen Blinken und seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow am Freitag in Genf?
In der Außenpolitik werden derzeit eher kleine Brötchen gebacken. Wichtig ist, dass Russland entgegen allen Drohungen nun wieder an den Verhandlungstisch zurückgekehrt ist. Blinken wird die Strategie des Westens bekräftigen, die Dialogbereitschaft und Wehrhaftigkeit verbindet. Beides gehört zusammen.
Biden hat am Mittwoch klargemacht, dass er auf alle Fälle irgendeine Art von Invasion Russlands in die Ukraine erwartet. Halten Sie das angesichts des Aufmarsches auch für sicher, dass das passieren wird?
Ausschließen kann das leider derzeit niemand. Wie soll man das anders bewerten, wenn mehr als 100.000 gefechtsbereite russische Soldaten an der Grenze zur Ukraine stationiert werden? Das ist eine sehr ernste, brandgefährliche Situation. Schon mit der Annexion der Krim hat Russland 2014 eklatant gegen das Völkerrecht verstoßen. Dieser Tabubruch hat unser Vertrauen tief erschüttert.
Sie sagen, Putin will die EU außen vorlassen. Warum können die Europäer nicht selbst mit ihm verhandeln, wenn es doch um europäische Sicherheit geht?
Zum Tango gehören immer zwei – das heißt, Russland müsste zu solchen direkten Verhandlungen mit den Europäern auch bereit sein. Leider hat die EU sich in außen- und sicherheitspolitischen Fragen immer wieder spalten lassen – auch von autoritären Regimen wie China und Russland. Das schwächt unsere Verhandlungsposition. Wir brauchen jetzt eine geschlossene und entschlossene EU.
Kann Putin Europa übergehen, weil dessen Sicherheit noch immer von Fähigkeiten und Garantien der US gewährleistet wird?
Das ist leider so. Die Sicherheit in Europa kann nur mit und nicht ohne die USA gewährleistet werden. Wir brauchen mehr europäische Souveränität auf diesem Feld, aber keine Abkoppelung von den USA. Nur wenn die EU mit einer Stimme spricht, kann sie souveräner werden. Die Sicherheit der ost- und mitteleuropäischen Partner wird im Moment maßgeblich von der Nato garantiert. Die EU muss stärker werden, aber die Nato kann und soll sie nicht ersetzen.
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Wenn die EU mehr Verantwortung für ihre Sicherheit übernehmen muss: Sollte Deutschland dann das Angebot aus Paris annehmen und darüber sprechen, wie der französische Atomschirm Europa schützen könnte?
Das Thema ist in Frankreich wie Deutschland gleichermaßen sensibel. Deutschland hat traditionell ein klares Bekenntnis abgegeben, selbst über keine eigenen Atomwaffen zu verfügen. Über die nukleare Teilhabe sind wir aber in die atomare Abschreckungspolitik der Nato eingebunden. Unser Ziel ist eine Welt ohne Atomwaffen. Davon sind wir leider noch meilenweit entfernt, es bleibt aber völlig zurecht die Vision der SPD. Diesem Ziel müssten sich aber alle Staaten mit Nuklearwaffen – auch Frankreich – verpflichtet fühlen.
Die Welt wird gefährlicher, das Militär bleibt wichtiger, als vielen Deutschen lieb ist. Warum tut sich ausgerechnet Ihre Partei, die SPD, so schwer mit harten Machtmitteln?
Die Volkspartei SPD ist auch in dieser Frage ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Ich lebe gern in einem Land, in dem grundsätzlich Skepsis gegenüber Militäreinsätzen herrscht. Die meisten Deutschen setzen wie die SPD vorrangig darauf, Konflikte politisch und diplomatisch zu lösen. Dennoch ist die Bundeswehr an mehr als einem Dutzend Einsätzen im Ausland beteiligt. Auch den Wehretat haben wir in den vergangenen Jahren deutlich aufgestockt, um die Bundeswehr bestmöglich auszustatten und unseren Bündnisverpflichtungen nachzukommen. Ich sage aber auch: Wir können uns die Welt nicht besser träumen, als sie ist. Ein möglicher Krieg ist näher an uns herangerückt. Was wir derzeit an der Grenze zur Ukraine erleben, gefährdet auch den Frieden in Deutschland. Das muss allen klar sein. Und Deutschland trägt eine besondere Verantwortung für den Osten Europas.
Warum verharmlosen so viele SPD-Politiker im Umgang mit Russland dessen autokratische Struktur oder das aggressive Ausgreifen in seine Nachbarschaft?
Ich bin bisweilen auch überrascht, mit welchem Brustton der Überzeugung einige fast dreißig Jahre nach dem Tod von Willy Brandt ihn zu deuten versuchen. Ich bin da viel bescheidener und demütiger, ich bin nicht sein Nachlassverwalter. Wir dürfen uns angesichts von grundlegenden Veränderungen in der Welt und in Europa nicht hinter Willy Brandt verstecken. In einer seiner letzten großen Reden hat Brandt ja auch den Satz gesagt: Jede Zeit will ihre eigenen Antworten. Wir müssen uns der neuen, unfriedlichen Welt stellen, ohne unsere sozialdemokratischen Traditionslinien zu verlassen.
Warum schaut die SPD stärker nach Russland statt in die Ukraine?
Das ist doch kein SPD-internes Phänomen, sondern entspricht der Wahrnehmung vieler Deutschen. Manche Putin’sche Propaganda fällt auch hierzulande auf fruchtbaren Boden. Putin hat es geschafft, die Sowjetunion mit Russland gleichzusetzen. Viele Deutsche meinen, wir müssten uns in Konflikten mit Russland aus historischer Verantwortung für den Vernichtungsfeldzug im Osten zurückhalten. Ja, es gibt eine besondere historische Verantwortung, aber die gilt ebenso für die Ukraine und die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Zweitens behauptet Putin, Russland werde von der Nato eingekreist. Wer sich eine Landkarte ansieht, wird feststellen, dass dieses große, stolze Land vom westlichen Verteidigungsbündnis keineswegs umzingelt ist.
Müsste die SPD dann nicht anfangen, diesen Komplex in einem Prozess sehr gründlich zu analysieren und aufzuarbeiten, damit sie außenpolitisch realitätstauglicher wird?
Parteichef Lars Klingbeil hat kürzlich in einer Vorstandssitzung dazu eingeladen, diese Debatte zu führen – und ich bin sehr dafür, dass wir das gründlich bewerten und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Wir sollten die Ostpolitik europäisieren und dabei an zwei Prinzipien Willy Brandts erinnern. Das eine ist der Verzicht auf die Androhung und Anwendung von Gewalt. Das andere ist die Anerkennung der Unverletzlichkeit von Grenzen in Europa. Gegen beide Prinzipien hat Putin in den vergangenen Jahren wiederholt eklatant verstoßen. Und wir müssen im Rahmen der neuen Ostpolitik die Sicherheitsinteressen unserer mittel- und osteuropäischen EU-Partner noch viel stärker mitdenken.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat diese Woche erklärt, im Fall eines russischen Angriffs gehöre auch die Gaspipeline Nord Stream 2 zum Katalog möglicher Sanktionen. Was bedeutet das für die deutsche Außenpolitik?
Der Bundeskanzler hat erklärt, dass im Falle einer militärischen Intervention in der Ukraine alle Optionen auf dem Tisch liegen. Diese Klarheit stärkt die deutsche und europäische Außenpolitik. Wir müssen alles tun, um weiter im Dialog zu bleiben. Aber wir können derzeit leider nicht ausschließen, dass Russland sich doch noch für eine militärische Eskalation entscheidet. Die Nato hat für diesen Fall ausgeschlossen, dass sie selbst militärisch eingreift. Wir müssen jetzt das klare Signal nach Moskau senden, im schlimmsten Fall alle anderen Möglichkeiten zu nutzen, die der Politik und Diplomatie zur Verfügung stehen – und dazu gehören natürlich auch wirtschaftliche Sanktionen, die zu schmerzhaften Konsequenzen führen.