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Der russische Präsident Wladimir Putin (am 28. Dezember 2021 in St. Petersburg)
© AFP/Sputnik/Yevgeny Biyatov

Verhandlungen zur Ukraine-Krise: Putin zahlt für das Treffen mit den USA einen hohen Preis

Vertreter der USA und Russland treffen sich in Genf, um über die Ukraine-Krise zu beraten. Für US-Präsident Biden liegt darin eine Chance. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Steht der Westen vor der bitteren Wahl, ob er Werte und Verträge preisgibt, um einen Krieg zu verhindern – wie 1938 im Münchner Abkommen?

Der Vergleich Wladimir Putins mit Adolf Hitler, den die „Washington Post“ vor Beginn amerikanisch-russischen Verhandlungen in Genf zieht, liegt verführerisch nahe. Ein Diktator, der sich mit Verschwörungstheorien über historische Ungerechtigkeiten, die das eigene Volk angeblich erleiden musste, an der Macht hält und seit Jahren sein Militär aufrüstet, verlangt ultimativ, die Regeln des Zusammenlebens in Europa zu ändern, Grenzen neu zu ziehen und Nachbarländer seiner Kontrolle zu überlassen.

Der Vergleich hinkt jedoch in mehrfacher Hinsicht. Putin ist nicht Hitler. Und die USA reagieren in der Ukraine-Krise anders als Großbritannien und Frankreich 1938. Neville Chamberlain und Édouard Daladier stimmten der Zerschlagung der Tschechoslowakei damals zu, um den Frieden zu retten – bis heute das Paradebeispiel für falsches Appeasement.

Joe Biden hingegen schließt ein Eingehen auf Putins Kernforderungen von vornherein aus. Russland erhält kein Vetorecht gegen die Aufnahme neuer Mitglieder in die Nato. Jeder Staat in Europa ist frei, sich Bündnissen anzuschließen.

Beide Seiten warnen bereits vor einem Scheitern

Moskau bekommt auch keine Mitsprache, wie viele Soldaten die Allianz im Baltikum, in Polen und anderen Bündnisländern stationiert.

Das klingt, als sei das Scheitern der Gespräche besiegelt, ehe sie begonnen haben. Moskau droht mit einem raschen Ende, wenn Biden die Forderungen nicht erfüllt. Die USA kontern, wenn die Russen nur über ihre Forderungen reden wollten, führe das in die Sackgasse.

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Und was dann: Krieg? Da liegt ein Grund, warum Biden sich auf Gespräche einlässt - aber auch ein dritter Unterschied zu 1938. Zwar kann niemand ausschließen, dass Putin seine Truppen in Marsch setzt; sie haben die Ukraine von drei Seiten umzingelt. Ein Flächenbrand droht aber nicht. Weder die USA noch westeuropäische Staaten werden die Ukraine verteidigen.

Allenfalls liefern sie Waffen, um die innenpolitischen Kosten eines Kriegs für Putin zu erhöhen. Doch selbst wenn der Kreml die seit 2014 schwelenden Kämpfe in der Ostukraine auf weitere Landesteile ausweitet: Es bliebe ein regional begrenzter Krieg.

Blufft Putin? Dafür spricht einiges

Nur: Warum sollte Putin das Risiko überhaupt eingehen? Ein Nato-Beitritt der Ukraine steht nicht auf der Tagesordnung. Er muss jetzt also keine Invasion anordnen, um ihn zu verhindern. Einerseits hat er Zeit. Andererseits muss er die ökonomischen Kosten bedenken.

Droht vorab mit Abbruch der Gespräche: Der russische Verhandlungsführer und Vizeaußenminister Sergej Rjabkow.
Droht vorab mit Abbruch der Gespräche: Der russische Verhandlungsführer und Vizeaußenminister Sergej Rjabkow.
© Maxim Shemetov//File Photo/REUTERS

Kriege sind teuer, ein Besatzungsregime ebenfalls; auf Unterstützung durch die Bürger der Ukraine kann er nicht hoffen. Zudem haben Amerika und Europa für diesen Fall scharfe Sanktionen angedroht. Die fertig gebaute Pipeline Nord Stream 2 würde bei dieser Eskalation wohl kaum die Betriebsgenehmigung erhalten.

Vieles spricht dafür, dass Putins Ultimatum ein Bluff ist. Aber warum lässt Biden sich dann überhaupt auf Verhandlungen ein? Erstens ist Putins Kalkül vielen ein Rätsel. Mit seinen Verhandlern zu reden, um mehr Klarheit zu gewinnen, ist klüger, als ihn in die Enge zu treiben und eine Eskalation zu riskieren.

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Zweitens missfällt die Sicherheitslage in Europa Biden ebenfalls. Auch er hat Forderungen an Putin, was der an seinem Verhalten ändern soll. Biden möchte die Themenpalette erweitern. Mehrere Stützpfeiler der früheren Sicherheitsordnung tragen nicht mehr. Der Vertrag über die Begrenzung der atomaren Mittelstreckenraketen ist gekündigt. Das Abkommen über die konventionelle Rüstung in Europa wird schon lange nicht mehr eingehalten, ebenso wenig das Verbot von Waffentests im Weltraum.

Die Leiterin der US-Delegation, Vizeaußenministerin Wendy Sherman.
Die Leiterin der US-Delegation, Vizeaußenministerin Wendy Sherman.
© Andrew Harnik/Pool via REUTERS

Biden möchte die Krisengespräche in Genf, die Putin mit unannehmbaren Ultimaten erzwungen hat, als Chance nutzen. Um über Rüstungsbegrenzung zu sprechen. Um auszuloten, inwieweit beide Seiten sich auf eine Reduzierung ihrer Militärmanöver in Nähe sensibler Gebiete wie den Baltischen Staaten, Polen, der Ukraine, Moldawien und dem Kaukasus einigen können.

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Nicht zuletzt bietet die Krise den USA die Chance, ihr Bündnis mit den Europäern nach den spaltenden Trump-Jahren zu erneuern. Bei den drei internationalen Treffen zur Sicherheit in Europa in dieser Woche – die Gespräche in Genf, der Nato-Russland-Rat am Mittwoch, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) am Donnerstag – steht Russland vor den Augen der Mehrheit in Europa als Aggressor da. Und die USA als eine zwar nicht immer sympathische, aber unverzichtbare Schutzmacht.

Putin hat sich mit den erzwungenen Gesprächen in Genf Respekt verschafft. Er zahlt jedoch einen hohen geostrategischen Preis: Er treibt Europa und Amerika wieder in eine engere Allianz.

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