Wahl in der Ukraine: Vorhang auf für den Clown in Kiews Manege
Am Ostersonntag wählt die Ukraine ihr neues Staatsoberhaupt. Wolodymyr Selenski wäre als Präsident weder Untergang noch Fortschritt. Ein Gastbeitrag.
Der Fernsehkomiker, Schauspieler und Unternehmer Wolodymyr Selenski wird die Stichwahl zum Präsidentenamt am Ostersonntag gewinnen. Das steht fast außer Zweifel. Umfragen prognostizieren ihm 60 bis 70 Prozent der Stimmen, und in jedem Fall einen über die Schwankungsbreite erhabenen Vorsprung vor Amtsinhaber Petro Poroschenko. Der Wahlkampf hat zuletzt an Emotion gewonnen, erregt die Gemüter und spaltet die Expertengemeinschaft. Während die Unterstützer Poroschenkos das Ende der Ukraine an die Wand malen, feiern andere Selenski als Aufbruch in eine neue Zeit. Beides ist sehr übertrieben.
Dabei hätte Poroschenko seine Niederlage kommen sehen müssen – er hätte nur einen Blick auf seinen gewonnenen Wahlkampf 2014 werfen müssen. Damals positionierte er sich bewusst als ruhiger, moderater Geschäftsmann gegenüber stärker nationalistisch auftretenden Kandidaten. Im Jahre 2019 jedoch stellt er die ukrainische Sprache, die Kirche, und eine starke Armee ins Zentrum seines Wahlkampfs.
Die Kirche taugt nicht als Wahlkampfthema
Sprache hat in noch keinem Wahlkampf als Mittel politischer Mobilisierung getaugt – und 2014 hatte er das Thema auch ignoriert. Kirche taugt auch kaum, die weitestgehend säkularisierte ukrainische Gesellschaft zu mobilisieren. Und schon gar nicht sollte man die Bedeutung der Kirche in der Ukraine mit der in Russland gleichsetzen, wo der Klerus nichts anders als der ultranationalistische Propagandaarm des Kremls ist.
Die Armee als Thema hätte vermutlich gezogen – nach fünf Jahren Krieg gibt es kaum einen Ukrainer, der in der Familie nicht Versehrte oder Gefallene hat. Doch ein Korruptionsskandal um den stellvertretenden Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates und Vertrauensmann Poroschenkos, Oleg Gladowski, hat dem Bild des „Erbauers“ der neuen Ukrainischen Armee einen kräftigen Kratzer verpasst.
Poroschenkos Bilanz ist wenig rühmlich
Wie schon 2014 stehen die Themen Korruption, Amtsmissbrauch und Vetternwirtschaft im Zentrum der Wahlentscheidung in der Ukraine. Und eben auf diesem Feld ist Poroschenkos Bilanz wenig rühmlich. Er hat sein Versprechen, auch die obersten Spitzen des Staates verantwortlich zu machen, nicht eingehalten. Und die arrogante Art, mit der Generalstaatsanwalt Juri Luzenko (ironischerweise selbst Opfer politischer Justiz unter Poroschenkos Vorgänger Viktor Janukowitsch) die Kohlen für die politische Klasse aus dem Feuer holte, den Druck auf investigative Journalisten aber zugleich erhöhte, drehte die Stimmung endgültig gegen den Amtsinhaber. Selenski musste eigentlich kaum etwas sagen – die tägliche Berichterstattung zerlegte seinen Kontrahenten ohnehin (außer freilich auf den vom ihm selbst kontrollierten TV Kanälen).
Mit dem Krieg im Donbas macht es sich Selenski leicht
Doch dass Selenski in diesem Feld besser wird als sein Vorgänger, ist keinesfalls sicher. Erstens war er bei der Deklaration seines Einkommens und Vermögens in der Vergangenheit durchweg schlampig, um es höflich auszudrücken. Zweitens ist die Unterstützung Selenskis durch Igor Kolomoiski – bekannter Oligarch aus Dniepro und politischer Gegenspieler Poroschenkos – zu deutlich, als dass man sie übersehen könnte. Kolomoiski will in erster Linie seine Anteile an der zwangsverstaatlichten Privatbank zurück, in zweiter Linie Reformen auf dem Energiesektor rückgängig machen. Beides sind nicht nur Korruptionsfallen, sie dürften auch zu erheblichen Konflikten mit IWF und EU führen. Man sollte auch nicht überschätzen, dass zahlreiche Reformer – etwa der ehemalige Wirtschaftsminister Aivaras Abromavicius – sich heute Selenski anschließen. Sie versammelten sich 2014 um Petro Poroschenko, um später enttäuscht das Feld zu räumen.
Auch mit dem Krieg im Donbas macht es sich Selenski leicht. Er will mit Wladimir Putin verhandeln, und den neuen Abschluss einer Volksabstimmung unterwerfen. Doch das ist leichter gesagt als getan: Poroschenkos 12-Punkte-Plan, der 2014 weitestgehend von der Bevölkerung akzeptiert worden war und zu seinem Wahlsieg nicht unerheblich beitrug, stellte die Grundlage des ersten wie des zweiten Minsker Abkommens dar. Allerdings verhandelte Putin für die Ukraine schwer zu akzeptierende Zusätze in das Abkommen, und schert sich seit 2015 wenig um dessen Umsetzung. Was auch immer Selenski glaubt, Putin abringen zu können: So lange der Westen den Druck auf Russland nicht erhöht, bleiben alle wohlgemeinten Verträge bloß beschriebenes Papier.
Noch spannender und dynamischer aber wird die ukrainische Innenpolitik werden. Am 27. Oktober 2019 wird auch die Rada neu gewählt. Davon hängt nicht nur die Zusammensetzung der Regierung ab. Auch wichtige Ämter können ohne Zustimmung des Parlamentes nicht besetzt werden. Gesetze und Reformvorhaben sind ohnehin auf sie angewiesen.
Er hat kein Netzwerk, auf das er zurückgreifen kann
Auch mit Blick auf die Rada-Wahl sehen erste Meinungsumfragen eine Abstrafung der bisherigen politischen Parteien voraus. Selenskis Partei „Diener des Volkes“ (nach seiner Fernsehserie benannt) ist jedoch – so überhaupt Kandidaten verfügbar sind – ein kaum gefestigtes Sammelsurium unterschiedlichster ideologischer Charaktere. Diese Partei wird wahrscheinlich mit mindestens zwei anderen Parteien koalieren müssen, sofern die schwer berechenbaren Direktmandate keine klareren Mehrheiten ergeben.
Im Gegensatz zu Poroschenko 2014 kann Selenski heute auf keine politische Erfahrung und kein über seine Person hinausreichendes politisches Netzwerk zurückgreifen. Er kennt die Bürokratie und ihre Untiefen nicht. Eine Koalitionsregierung zusammenzuhalten wird ein schwieriger Eiertanz werden. Wer glaubt, allein die Nähe zu Kolomoiski helfe über alle Hürden hinweg, unterschätzt die Komplexität ukrainischer Innenpolitik.
Die Europäer sollten auf die Fraktionen in der Rada zugehen
Aus der Volatilität Selenskis parlamentarischer Basis eröffnen sich aber auch Einflussmöglichkeiten für die EU, den stecken gebliebenen Reformkarren wieder flottzumachen – falls die Europäer ihre moralische Autorität nicht gerade an einer Ostsee-Pipeline erhängen. Anstatt sich auf den Präsidenten zu fixieren, müssten europäische Politiker stärker auf die unterschiedlichen Fraktionen in der Rada zugehen und hier direkt für Reformvorhaben werben – im Austausch gegen Infrastrukturinvestitionen, die die Ukraine ohnehin dringend braucht. Joe Biden hat dies in seiner Zeit als US-Vizepräsident sehr wohl verstanden – hat aber weder fähige Nachfolger noch Nachahmer gefunden. Vielleicht ist der Auftritt des Clowns in der politischen Manege von Kiew ein Anlass, Bidens Politik zu folgen.
Gustav C. Gressel ist Senior Policy Fellow im Wider Europe Programme am European Council on Foreign Relations (ECFR).