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Ein Plakat für den amtierende Präsidenten Petro Poroschenko.
© Gleb Garanich,Reuters

Nächster Präsident der Ukraine: Der Komiker Wolodymyr Selenski - das Phänomen "Se"

In der Ukraine findet am Sonntag die Stichwahl für das Präsidentenamt statt. Der Schauspieler Selenski liegt in Umfragen klar vorn.

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor einer Woche den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko in Berlin empfing, war das wohl ein Abschiedsbesuch. Das politische Berlin rätselte über den Sinn dieser Einladung oder kritisierte die Kanzlerin für die einseitige Parteinahme gegen Wolodymyr Selenski, den klaren Sieger der ersten Runde der ukrainischen Wahl. Bei der Stichwahl am kommenden Sonntag jedenfalls geht Poroschenko einer fast sicheren Niederlage entgegen.

Er wird gegen seinen Herausforderer, den Schauspieler und Komiker, Wolodymyr Selenski sogar krachend verlieren, sagen übereinstimmend alle Umfrage-Institute. Die trafen vor knapp drei Wochen in der ersten Runde nahezu punktgenau das tatsächliche Ergebnis.

Poroschenko lag in der ersten Abstimmung deutlich zurück. Beim Stand von 15,9 Prozent der Stimmen für ihn und 30,2 Prozent für Selenski ging es an das Einsammeln der Anhänger all jener Kandidaten, die in der Stichwahl nun nicht mehr antreten dürfen. Der Amtsinhaber musste in die Offensive gehen – und das tat er auch.

Gewaltige Probleme

Der nächste Präsident der Ukraine wird vor einer Vielzahl von Problemen stehen, eines größer als das andere. Russland hat mit der Halbinsel Krim einen beträchtlichen Teil des Staatsgebietes annektiert und im Donbas, im Osten des Landes, wird der von Moskau geschürte Krieg zwar inzwischen weniger intensiv geführt, aber er kann jederzeit wieder zu voller Stärke aufflammen. In Richtung einer Verhandlungslösung bewegt sich derzeit nichts.

Damit nicht genug. Korruption und Vorteilsnahme in den staatlichen Institutionen und unter den herrschenden Eliten der Ukraine sind endemisch. Dabei war deren Überwindung eines der zentralen Ziele der Maidan-Revolution vor fünf Jahren. Bei der Bekämpfung von Korruption und Oligarchenwirtschaft hat Poroschenko versagt – vielleicht sogar versagen wollen. Denn für eine Überwindung des oligarchischen Systems hätte er bei sich selbst beginnen müssen. Vor fünf Jahren hatte der Fast-Milliardär Poroschenko versprochen, sich von seinen privaten Geschäften zu trennen. Passiert ist nichts. Auch deshalb wenden sich viele Ukrainer enttäuscht von ihm ab.

Zwar haben tiefgreifende ökonomische Reformen begonnen, aber die Wirtschaft steht permanent unter dem Druck des Nachbarn Russland. Der Kreml wird beispielsweise in den nächsten Jahren wohl den Transit von Erdgas durch die Ukraine stoppen, um die Ostsee-Pipeline Nord Stream2 wenigstens teilweise zu füllen. Eine wichtige Einnahmequelle fällt dann weg, da gibt man sich in Kiew keinerlei Illusionen hin. Dann hängt das Land womöglich noch mehr am Tropf westlicher Hilfen.

Doch der Kampf um die Spitzenposition in der Ukraine begann, als gäbe es keine Politik. Unmittelbar nach dem ersten Wahlgang tauschten die Widersacher fast stündlich Videobotschaften aus. In denen ging es lediglich darum, wie, wo und wann sie ein öffentliches Rededuell miteinander führen. Nachdem die Debatte über die Debatte endlich beendet war, ging es kurios weiter – mit einem Test auf Drogen und Alkohol. Beide Anwärter lieferten Analysen, die natürlich zeigten, dass sie „sauber“ sind. Und beide beschuldigten sich danach, betrogen zu haben.

Feldgottesdienst im Olympiski-Stadion

Das Poroschenko-Lager setzte ganz auf „schwarze PR“, also auf eine gezielte Negativ-Kampagne gegen den politischen Widersacher. Tatsächlich hatte es bei Selenskis Test Schummeleien gegeben. Nachdem er sich weigerte, einen zweiten Drogentest zu machen, wurde das Gerücht gestreut, der Schauspieler nehme Kokain – ein Künstler, also kokst er. Aber die „schwarze PR“ verfing nicht. Daraufhin versuchte es die Poroschenko-Wahlmaschine seriöser.

Sie ließ fünf Millionen Flugblätter drucken mit einer langatmigen Argumentation. „Selenski, das ist nicht lustig", heißt es im Text. „Es kann nicht lustig sein, was die Ukraine in die Tragödie führt.“ Selenski sei die Kreatur eines Oligarchen. Er sei gar kein richtiger Ukrainer, weil seine Muttersprache Russisch ist. Und: „Für Geld lacht der über jeden.“

Der vorläufige Höhepunkt kam am vergangenen Sonntag, da veranstaltete Poroschenko eine Art Feldgottesdienst mit seinen Anhängern im Olympiski-Stadion. Eine Band spielte, Poroschenko ließ sich feiern. Das einzige Ergebnis dieser Veranstaltung: Der Herausforderer war eingeladen, kam aber nicht. Die Botschaft Porosenkos lautete: Selenski hat sich nicht gestellt, ist feige ausgewichen. Verfangen hat auch diese Anschuldigung nicht.

Selenski scheint tatsächlich das zu sein, was viele in der Ukraine inzwischen glauben: das Phänomen „Se“. Er führt seine Kampagne praktisch ohne die direkte Begegnung mit den Wählern. Nur als virtuelle Erscheinung. Er hat keine Werbebroschüren auf Papier drucken lassen, stellt sich nicht auf Pressekonferenzen. Sein bisheriger Erfolg beruht auf einer Fehlwahrnehmung, der Besetzung seiner Rolle in einer TV-Serie als Ordnung schaffender Präsident mit dem tatsächlichen Kandidaten Selenski. Genau das sei seine Stärke, sagen nun Politologen. Die Wähler seien der traditionellen Politik-Performance müde. Selenski sei ein angenehm wirkender Mensch, der keine großen Versprechungen mache, nicht für hochfliegende Pläne agitiere.

Weil er nichts Konkretes sage, könne jeder auf ihn schauen und glauben: Dieser Kandidat erfüllt meine persönlichen Hoffnungen.

Ein Element der Unberechenbarkeit

Solche Analysen sind aber vergiftetes Lob, aus ihnen spricht die Verunsicherung der Experten. Selenski bringt Neues in die ukrainische Politik: Respektlosigkeit und einen ultimativen, aggressiven Ton gegen die bislang Mächtigen – was übrigens nicht nur im Lande selbst, sondern auch bei den westlichen und östlichen Nachbarn zu Unbehagen führt. Eine große Mehrheit der Wähler aber spricht das an. Zudem stört Selenski den status quo, den der amtierende Präsident verkörpert. Und, was damit zusammenhängt, er bringt ein weiteres Element der Unberechenbarkeit in eine ohnehin schon komplizierte Situation.

Am Freitag, dem Tag vor der entscheidenden Stimmabgabe. Trafen dann Poroschenko und Selenski nun doch noch für eine gemeinsame Debatte im Kiewer Olympiski-Stadion zusammen. Ein Duell vor zehntausenden Menschen, das am Ausgang der Wahl wohl trotzdem nicht viel geändert haben dürfte.

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