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Landtagssitzung am vergangenen Donnerstag in Magdeburg: Umweltministerin Claudia Dalbert (Grüne), Innenminister Holger Stahlknecht (CDU).
© Ronny Hartmann/dpa

Elendscamps auf griechischen Inseln: Stahlknecht warnt vor Aufnahme von Flüchtlingskindern

In Sachsen-Anhalts Kenia-Koalition kriselt es erneut. Anlass: ein Veto von CDU-Chef Stahlknecht gegen die Übernahme von Geflüchteten aus Lesbos.

Er ist der erste prominente CDU-Politiker, der sich offen gegen die Aufnahme von Flüchtlingskindern von den griechischen Inseln in Deutschland stellt - und damit gleichzeitig die Koalitionspartnerinnen SPD und Grüne in der Magdeburger Koalition provoziert: „Derzeit absolut unangemessen“ und „deplatziert“ sei die Forderung der Landes-SPD, unbegleitete Minderjährige und Corona-Risikogruppen aus Lesbos nach Deutschland zu holen, erklärte Sachsen-Anhalts CDU-Vorsitzender Holger Stahlknecht am Montag auf Twitter.

Eine Übersiedlung der Geflüchteten sei „weder politisch noch gesundheitlich tragbar“, erklärte Stahlknecht weiter, der seit Jahren auch Innenminister in Sachsen-Anhalt ist. Zur Begründung sagte er: „Unser Fokus liegt darauf, das tägliche Ansteigen der Covid-19-Zahlen zu verlangsamen und unsere Bevölkerung zu schützen.“ Die Landes-SPD hatte sich zuvor für die Evakuierung vor allem von Kindern, Schwangeren und Corona-Risikogruppen von den griechischen Inseln eingesetzt.

Das Camp Moria auf Lesbos ist völlig überfüllt: geplant für 3000 Geflüchtete, hausen in und um das Lager inzwischen mehr als 20.000 Menschen.
Das Camp Moria auf Lesbos ist völlig überfüllt: geplant für 3000 Geflüchtete, hausen in und um das Lager inzwischen mehr als 20.000 Menschen.
© Elias Marcou/Reuters

Stahlknecht löste damit heftigen Streit in der Kenia-Koalition aus. Die Landtagsabgeordnete Henriette Quade von der oppositionellen Linkspartei warf Stahlknecht sogar vor, sich mit seiner Äußerung an der AfD zu orientieren.

Moria ist ausgelegt für 3000 Geflüchtete, es hausen dort mehr als 20.000

Vor allem im Lager Moria auf der Insel Lesbos ist die Lage dramatisch. Es ist ausgelegt für 3000 Geflüchtete, aber inzwischen hausen mehr als 20.000 Menschen in und um das Camp, unter armseligen hygienischen Bedingungen. Ein Ausbruch der Corona-Pandemie im Lager würde sehr wahrscheinlich zu einer Katastrophe und einem Massensterben führen, wie Flüchtlingsinitiativen seit Wochen warnen.

In dem schwarz-rot-grünen sachsen-anhaltischen Regierungsbündnis, 2016 ins Amt gekommen, knirscht es seit Jahren immer wieder - Teile der Landes-CDU sympathisieren mit der AfD, statt zu SPD und Grünen als Koalitionspartnern zu stehen. Stahlknechts Äußerungen verschärfen diese Diskussion nun.

SPD: „Sozialethische Bankrotterklärung der CDU“

Sachsen-Anhalts SPD-Chefin Juliane Kleemann sprach von einer „sozialethische Bankrotterklärung der CDU“, dies sei besonders „bitter mitten in der Karwoche und mit Blick auf Ostern“.

Kleemann sagte dem Tagesspiegel: „Seit Monaten ist es dasselbe Bild: Immer wenn Holger Stahlknecht die Chance hätte, die CDU Sachsen-Anhalt wieder ein Stück weit in die Mitte zu rücken, stellt er sich an den rechten Rand. Mit seiner skandalösen Äußerung zu den Geflüchteten in den griechischen Lagern wirkt er im Spektrum der Bundes-CDU und selbst im Vergleich zu Seehofer isoliert.“

Grüne fordern Aufnahme von 100 Geflüchteten in Sachsen-Anhalt

Der Grünen-Landesvorsitzende Sebastian Striegel sagte dem Tagesspiegel, Sachsen-Anhalt habe Möglichkeiten zur menschenwürdigen Unterbringung von Geflüchteten, auch dezentral. „Statt sich nach den Vorstellungen des CDU-Chefs abzuschotten, sollten wir als Bundesland unsere Kapazitäten gegenüber dem Bund offensiv anbieten. Wir können helfen. Tun wir es. Jetzt!“

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Gemeinsam mit seiner Ko-Landesvorsitzenden Susan Sziborra-Seidlitz schrieb Striegel am Dienstag an Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU): „Den Schutzsuchenden in den Flüchtlingslagern in Griechenland droht eine humanitäre Katastrophe, sollte sich das Virus dort verbreiten.“

Die beiden Grünen-Politiker forderten: „Als Bundesland Sachsen-Anhalt sollten wir unseren Beitrag zur Evakuierung der Lager in Griechenland leisten. Wir bitten Sie deshalb, sich gegenüber dem Bund zur Übernahme von 100 vulnerablen Personen, insbesondere unbegleitete Minderjährige sowie Mütter und/oder Väter mit ihren Kindern nach Sachsen-Anhalt bereitzuerklären.“

Klingbeil spricht von Hetze

Ähnlich deutlich wie die SPD und die Grünen in Sachsen-Anhalt wurden verschiedene Bundespolitiker. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil twitterte mit Blick auf die Äußerung der sachsen-anhaltischen CDU: „Ich halte Hetze und das Ausspielen von Menschen gegeneinander für unangemessen.“

Protest für die Evakuierung des Camps Moria auf Lesbos am Sonntag in Frankfurt am Main.
Protest für die Evakuierung des Camps Moria auf Lesbos am Sonntag in Frankfurt am Main.
© Frank Rumpenhorst/dpa

Juso-Chef Kevin Kühnert schrieb im Kurznachrichtendienst: „Seit Wochen (!!!) versuchen Leute bewusst ohne Öffentlichkeit (!!!) mit ihrer Partei eine Lösung zu finden, damit Deutschland die zugesagten (!!!) Kinder (!!!) aus Griechenland aufnimmt. Und DAS ist ihr Beitrag zur Debatte? Halleluja, ist das erbärmlich. Bah!“

Empört ist auch der Wuppertaler SPD-Bundestagsabgeordnete Helge Lindh, der sich seit Jahren für Geflüchtete einsetzt. Er sagte dem Tagesspiegel: „Hat Stahlknecht mal die Kinder auf Lesbos, die im Dreck ohne Hygiene und soziale Distanz vegetieren müssen, gefragt, ob sie ihr Sterben für politisch und gesundheitlich tragbar halten?“

Der Christdemokrat Stahlknecht brauche dreifache Nachhilfe - in christlicher Soziallehre, in Genfer Flüchtlingskonvention und in Sachen Menschenrechte. „Die Rettung von Menschenleben vor Covid-19 darf in Europa keine Frage der Herkunft sein. Es liegt in unserer Hand, einen fatalen Ausbruch der Seuche auf den griechischen Inseln zu verhindern.“

Kipping zweifelt an christlichen Werten der CDU

Die Linken-Bundesvorsitzende Katja Kipping sagte dem Tagesspiegel: „Wir unterstützen die Forderung der SPD, jetzt Menschen aus den überfüllten Lagern aufzunehmen. Wir bekämpfen Corona, nicht die Menschlichkeit.“ Die Gegenwehr aus den Reihen der Union zeige, „wie schlecht es auch zur Osterzeit um die christlichen Werte dieser Partei bestellt ist“.

Zur Unzeit kamen Stahlknechts Äußerungen auch für jene Unionspolitiker, die sich für die Aufnahme von Geflüchteten von den griechischen Inseln einsetzen, die seit Wochen nicht vorankommt - trotz Coronakrise. Der CDU-Landrat des Burgenlandkreises, Götz Ulrich, ging, ohne Stahlknecht namentlich zu erwähnen, auf Distanz zum CDU-Landesvorsitzenden: „Wir können hier nicht mehr warten, bis sich noch dieser oder jener herablässt mitzumachen. Umgehend muss es sein!“

Brief von Unions-Abgeordneten an von der Leyen

Auf Initiative des nordrhein-westfälischen CDU-Bundestagsabgeordneten Thomas Rachel hatten sich am Montag mehr als 50 Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion an EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen gewandt, um die Aufnahme von Flüchtlingskindern von den griechischen Inseln in Deutschland voranzutreiben. Ursprünglich hatten acht Länder vereinbart, gemeinsam bis zu 1600 Flüchtlingskinder aufzunehmen.

„In Anbetracht der weltweit rasanten Ausbreitung des Corona-Virus ist eine umgehende Aufnahme von geflüchteten Kindern aus Lagern auf den griechischen Inseln dringend geboten“, hieß es in dem Brief. Die EU befinde sich angesichts der katastrophalen Zustände „in einer ernsthaften Zerreißprobe“. Bisher hat nur Luxemburg konkrete Pläne zur Evakuierung von einem Dutzend Flüchtlingskinder noch diese Woche - das von Horst Seehofer geführte Bundesinnenministerium verweist auf die Verabredungen einer „Koalition der Willigen“, mithin eine notwendige europäische Einigung.

Gehen Luxemburg und Deutschland voran?

Der CDU-Politiker Rachel, Mitglied im Rat der EKD und Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesbildungsministerium, sagte am Dienstag dem Tagesspiegel, Deutschland könne gemeinsam mit Luxemburg einen Anfang machen. „Das ist dann kein kein nationaler Alleingang. Ein solcher Schritt kann auch andere Staaten ermutigen, einen Beitrag zu leisten.“ Wenn Corona etwa im Lager Moria auf Lesbos ausbreche, werde die Lage dort „ganz schrecklich“. Es sei auch eine Frage der europäischen Partnerschaft, Griechenland in dieser Situation nicht im Stich zu lassen.

CDU-Bundestagsabgeordnete aus Sachsen-Anhalt sind nicht unter den Unterzeichnern des Briefes an von der Leyen. Initiator Rachel will die Äußerung seines Parteifreundes Stahlknecht nicht kommentieren. Inhaltlich aber widerspricht er: „Deutschland ist selbstverständlich in der Lage, Flüchtlinge von den griechischen Inseln in Quarantäne unterzubringen und medizinisch zu versorgen.“

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