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#LeaveNoOneBehind-Protest am Sonntag am Brandenburger Tor.
© Jörg Carstensen/dpa

Evakuierung von Flüchtlingskindern aus Lesbos: Luxemburg prescht voran – als Ansporn für Deutschland

Luxemburg will Flüchtlingskinder aus dem Lager Moria holen. Ob das andere Länder zum Engagement motiviert, ist unklar. Innenminister Seehofer zögert noch. 

Eines der kleinsten Länder in der Europäischen Union, Luxemburg, möchte ein großes Zeichen setzen - in der Coronakrise und mit Blick das befürchtete Drama in den völlig überfüllten Flüchtlingscamps auf den griechischen Inseln.

Außenminister Jean Asselborn, der sich seit Wochen hinter den Kulissen für eine Lösung des Problems einsetzt, kündigte jetzt an, dass sein Land nun konkret voranschreiten will bei der Evakuierung von Flüchtlingskindern vor allem aus dem Lager Moria auf der Insel Lesbos. 

Asselborn sagte am Sonntagabend in den ARD-„Tagesthemen“, Luxemburg wolle mit seinem Anteil Deutschland als „großes, wichtiges Land in der Europäischen Union“ ebenso anspornen wie zum Beispiel auch Frankreich.

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Gemessen am Plan von acht europäischen Staaten, bis zu 1600 unbegleitete Minderjährige von den Inseln zu holen, wird der luxemburgische Anteil nur der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein sein können: Ein Dutzend Kinder soll noch vor Ostern ausgeflogen werden, über den Flughafen zum Beispiel im benachbarten Saarbrücken oder Brüssel.

Denn in Berlin hakt es, was die Evakuierung von unbegleiteten Minderjährigen nach Deutschland angeht, noch immer - obwohl ein Ausbruch der Corona-Pandemie in den Camps auf den Inseln eher eine Frage von Stunden oder Tagen als von Wochen sein dürfte. 

Parallel ist geplant, einen großen Teil der Flüchtlinge auf den Inseln aufs griechische Festland zu verlegen - wie das realisiert werden soll, ist weitgehend unklar. Von einem deutschen Alleingang hält Minister Horst Seehofer (CSU) nichts - er blockiert so eine rasche Lösung.

SPD spricht von „Wettlauf gegen die Zeit“

Von einem „Wettlauf gegen die Zeit“ spricht der SPD-Bundestagsabgeordnete Lars Castellucci, Sprecher für Migration. Und der Grünen-Europaabgeordnete Erik Marquardt, der sich seit Wochen auf Lesbos aufhält, sagt, die Evakuierung von mehreren hundert Flüchtlingskindern könne ohnehin „nur der Startschuss, nicht die Ziellinie sein“.

Die griechische Regierung brauche „das klare Signal, nicht alleingelassen zu werden“, sagte Marquardt dem Tagesspiegel.

Am Sonntag hatte es einen bundesweiten Aktionstag der Kampagne #LeaveNoOneBehind gegeben. Die Polizei löste die Proteste jedoch in vielen Städten - darunter Berlin - auf, obwohl sich die Demonstranten an die von Behörden vorgegebenen Abstandsregeln hielten.

Zur Aufnahme von Flüchtlingskindern bereiterklärt hatten sich im März ursprünglich neben Deutschland, Frankreich und Luxemburg auch Portugal, Bulgarien, Irland, Litauen und Finnland. Einige dieser Länder signalisierten inzwischen jedoch nach Tagesspiegel-Informationen, einen Rückzieher machen zu wollen - unter Verweis auf fehlende Quarantäne-Kapazitäten für möglicherweise mit dem Virus infizierte Flüchtlinge.

Zwar versichert eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums auf Anfrage: „Die griechische Regierung ist sich der gegenwärtigen prekären Unterbringungssituation auf den Inseln bewusst und steht in engem Kontakt mit der Europäischen Kommission, um schnellstmöglich eine Lösung herbeizuführen.“ Aber immer ist bei diesen Erklärungen aus der Behörde von einer europäischen Lösung die Rede.

Evakuierungsflug nach Deutschland vor Ostern sehr fraglich

Damit wird auch äußerst fraglich, ob es noch vor Ostern gelingt, 300 unbegleitete Minderjährige aus dem Lager Moria nach Deutschland zu holen. 

Das Camp auf Lesbos war einmal für 3000 Flüchtlinge ausgelegt. Inzwischen hausen dort mehr als 20.000 Migranten auf engstem Raum, unter katastrophalen hygienischen Bedingungen und ohne die Chance, eine in Corona-Zeiten eigentlich vorgeschriebene Abstandsregel einzuhalten.

Hintergründe zum Coronavirus:

Dem Vernehmen nach will Seehofer auf keinen Fall nur Seite an Seite mit Luxemburg agieren. Aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird er in dieser Haltung gegen einen Alleingang unterstützt, wie ihn beispielsweise die im Bund mitregierende SPD notfalls für denkbar hält. 

Unions-Fraktionsvize Thorsten Frei sagte den „Tagesthemen“, es müssen „wenigstens eine Handvoll europäischer Staaten“ vorangehen: „Mit Verlaub: Luxemburg alleine ist es nicht.“

Auch andere Unionspolitiker nehmen das Wort „Alleingang“ nicht in den Mund. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Annette Widmann-Mauz (CDU), verwies im Radiosender Bayern 2 ausdrücklich auf die auf europäischer Ebene geschmiedete „Koalition der Willigen“: „Ich hoffe, dass sich jetzt die anderen Staaten daran beteiligen.“ Es müsse rasch etwas geschehen, „die Situation wird nicht besser“.

50 Unionsabgeordnete appellieren an von der Leyen

Mehr als 50 Unionsabgeordnete im Bundestag, darunter neben Widmann-Mauz beispielsweise Norbert Röttgen, Volker Kauder und Monika Grütters, appellierten am Montag in einem gemeinsamen Brief nicht an Seehofer, sondern an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. 

Sie sprechen von einer „für uns Europäer“ inakzeptablen Situation und fordern, die „umgehende Aufnahme" von geflüchteten Kindern zu ermöglichen.

Die EU befinde sich angesichts der „katastrophalen Zustände in einer ernsthaften Bewährungsprobe“, heißt es in dem Schreiben, das dem Tagesspiegel vorliegt. Und: Die EU müsse „unseren Partner Griechenland bei dieser wichtigen Aufgabe unterstützen und entlasten“.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU).
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU).
© Gregor Fischer/dpa

Deutschlands Anteil wird auch hier konditioniert als „angemessener Anteil“ im „Rahmen einer Koalition der Willigen“. Die Kommission stehe „in der dringenden Verantwortung“, gegebenenfalls in Absprache mit der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR rasch zu ermöglichen, dass die Kinder aus den überfüllten Flüchtlingslagern nach Deutschland und andere bereitwillige EU-Mitgliedstaaten gebracht werden könnten.

Berliner Senat berät am Dienstag

Und wenn es schon keinen deutschen Alleingang gibt: Als erst recht chancenlos gilt aktuell der Versuch von mehreren Bundesländern, im Alleingang Flüchtlinge von den griechischen Inseln aufzunehmen. Berlins Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) hatte das vergangene Woche im Tagesspiegel-Interview gefordert.

Nach Angaben aus Kreisen der Landesregierung gibt es in der rot-rot-grünen Koalition grundsätzliche Einigkeit in dieser Frage, wenn auch noch nicht über konkrete Zahlen. Im Gespräch sind allein für die Hauptstadt bis zu 300 Flüchtlingskinder in einem ersten Schritt. Am Dienstag sollen im Senat Einzelheiten festgelegt werden.

Auch Thüringen diskutiert über Landesaufnahmeprogramm

Auch in Thüringen warben Abgeordnete von Linken, SPD und Grüne in einem am Sonntag veröffentlichten Offenen Brief an die Landesregierung für die Aufnahme von Flüchtlingen von den griechischen Inseln: „Wir erwarten, dass der Bund dabei weder dem Land Thüringen noch weiteren Bundesländern und aufnahmewilligen Kommunen Hürden in den Weg legt, sondern den Willen von Landesaufnahmeprogrammen unterstützt.“

Die Unterzeichner verwiesen auf Gutachten, die dazu im Auftrag des Grünen-Europaabgeordneten Marquardt sowie von der Rosa-Luxemburg-Stiftung erstellt worden sind. Bei einer mutmaßlich rechtswidrigen Ablehnung durch das Bundesinnenministerium könnte das betroffene Bundesland das Bundesverwaltungsgericht anrufen, stellte die Linken-nahe Luxemburg-Stiftung fest.

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) sagte dem Tagesspiegel: „Wir sind aufnahmebereit und machen Druck gegenüber der Bundesregierung.“ Das Bundesland sei habe für sofort die Aufnahme von 42 Kindern und unbegleiteten Minderjährigen zugesagt, auch darüber hinaus gebe es eine „prinzipielle Bereitschaft“.

Innenministerium spricht Bundesländern Kompetenzen ab

In einem dem Tagesspiegel vorliegenden Vermerk widerspricht das Bundesinnenministerium allerdings der Auffassung, dass die Bundesländer laut Paragraph 23 des Aufenthaltsgesetzes allein über die Aufnahme von Geflüchteten entscheiden können.

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Die zuständige Referatsleiterin Ulrike Hornung schreibt in dem Anfang April verfassten Vier-Seiten-Papier: „Humanitäre Aufnahmen sind Teil der deutschen Migrationspolitik mit immanenter außen- und mit Blick auf Griechenland auch europapolitischer Relevanz.“ 

Es gebe im konkreten Fall „spezielle Kompetenzregelungen des Grundgesetzes“, die für die Annahme einer Zuständigkeit der Länder „keinen Raum lassen“.

Humanitäre Aufnahmeprogramme des Bundes wie auch der Länder seien für Asylantragsteller auf den griechischen Inseln „grundsätzlich nicht das richtige Instrument“. 

Der Grundsatz der Solidarität zwischen den EU-Mitgliedsstaaten im Bereich Grenzsicherung, Asyl und Einwanderung richte sich „allein an den Bund, nicht an die Länder“.

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