Drama mit Ansage: Lässt sich eine Katastrophe in Lesbos überhaupt noch verhindern?
Ein Flüchtlingslager nahe Athen steht unter Quarantäne. Drängender denn je stellt sich die Frage, ob das Camp Moria auf Lesbos nun evakuiert wird.
Es ist die Nachricht, mit der alle seit Wochen gerechnet haben: der Ausbruch des Coronavirus in einem griechischen Flüchtlingscamp. Doch noch nicht im völlig überfüllten Elendslager Moria auf der Insel Lesbos - sondern 250 Kilometer Luftlinie entfernt, im Dorf Ritsona nördlich der Hauptstadt Athen.
Dort hat der griechische Coronavirus-Krisenstab das Flüchtlingslager für 14 Tage unter Quarantäne gestellt. Wie der staatliche Rundfunk (ERT) am Donnerstag weiter berichtete, wurde die Entscheidung getroffen, weil das Virus bei einer aus Afrika stammenden Frau nach der Geburt ihres Kindes in einem Krankenhaus in Athen Anfang der Woche festgestellt worden war. Anschließend waren 20 weitere Flüchtlinge im Lager von Ritsona positiv auf das Virus getestet worden.
Im Lager im Dorf Ritsona leben etwa 2500 Menschen. Die Lage dort gilt als bei weitem nicht so schlimm wie in den Camps auf den Inseln im Osten der Ägäis - vor allem in Moria, einmal ausgelegt für 3000 Leute, inzwischen aber von mehr als 20.000 Flüchtlingen bevölkert. Der Ausbruch der Corona-Pandemie dort wäre eine Katastrophe mit Ansage, wie Experten seit Wochen warnen.
Das Krankenhaus auf Lesbos ist schon jetzt überlastet
Das kleine Insel-Krankenhaus von Lesbos ist überlastet. Nach Angaben von Entwicklungshelfern gibt es bereits jetzt fünf Corona-Fälle auf der ganzen Insel - und nur sechs Intensivbetten: „Das heißt, das Gesundheitssystem ist kurz vorm Kollaps - schon jetzt“, sagte Thomas von der Osten-Sacken, der sich mit seinem Frankfurter Verein "Wadi" seit Jahren auf Lesbos engagiert, dem Evangelischen Pressedienst (epd).
[Alle wichtigen Updates des Tages zum Coronavirus finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter "Fragen des Tages". Dazu die wichtigsten Nachrichten, Leseempfehlungen und Debatten. Zur Anmeldung geht es hier.]
Im Lager Moria ist das eigentlich von Behörden geforderte Abstandsverbot in keiner Weise einzuhalten. Die sanitären und hygienischen Bedingungen sind erbärmlich.
Ob die alarmierende Nachricht aus dem Camp Ritsona bei Athen nun konkrete Schritte zur Evakuierung des Lagers Moria befördert? Bisher ist das offen. Zwar fordern Politiker, Künstler, Kirchenvertreter und auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen seit Wochen, dass sehr rasch etwas getan werden muss.
Doch ein Evakuierungsflug nach Berlin oder in eine andere deutsche Stadt ist nicht auf dem Weg, obwohl Innenminister Horst Seehofer (CSU) zugesagt hat, dass sich Deutschland gemeinsam mit anderen europäischen Staaten Aufnahme von Kindern und unbegleiteten Jugendlichen beteiligt.
20.000 Menschen in einem Camp, das für 3000 Geflüchtete gedacht war
Ein vom Land Berlin in Aussicht gestellter Alleingang beschäftigt zwar den Senat - wie er zu realisieren ist, ist noch weitgehend unklar. Die Nichtregierungsorganisation Mission Lifeline hat nach eigenen Angaben Geld für zwei Evakuierungsflüge gesammelt und plant eine „Luftbrücke Lesbos-Berlin“. Eine Landeerlaubnis hat sie bisher nicht bekommen.
Ebenso ist unklar, wie das Camp Moria wieder auf das Maß von 3000 Plätzen gebracht werden kann, für das es ursprünglich gedacht war. Ein großer Teil der Geflüchteten müsste dafür in neue Unterkünfte auf dem griechischen Festland verlegt werden. Zusammen mit anderen Camps auf den Inseln in der Ägäis beträfe das nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR Zehntausende von Migranten.
Das Seehofer-Ministerium verweist auf die EU-Kommission
Der Deutschland-Chef des UNHCR, Frank Remus, hatte am Montag dem Tagesspiegel mit Blick auf das Lager Moria gesagt: „Mindestens 17.000 Menschen auf das Festland zu bringen und menschenwürdig unterzubringen, ist menschenrechtlich und aus humanitärer Sicht geboten und zudem aus Gründen der öffentlichen Gesundheit zwingend. Die griechische Regierung sollte hierbei von der EU hinreichend unterstützt werden.“
[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Krise live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple-Geräte herunterladen können und hier für Android-Geräte.]
Woran hängt es noch? Das Bundesinnenministerium beantwortet diese Frage nur ausweichend. Eine Ministeriumssprecherin sagte am Donnerstag dem Tagesspiegel: „Die griechische Regierung ist sich der gegenwärtigen prekären Unterbringungssituation auf den Inseln bewusst und steht in engem Kontakt mit der Europäischen Kommission, um schnellstmöglich eine Lösung herbeizuführen.“
Verhandlungen mit der Regierung in Athen
Ob es dabei überhaupt noch um Evakuierungsflüge für die Kinder im Lager nach Deutschland und in andere europäisch Länder geht oder nur um eine Verlegung der Flüchtlinge auf das griechische Festland, bleibt dabei offen.
Die Ministeriumssprecherin sagte weiter: „Es obliegt der nationalen Verantwortung Griechenlands, welche Vorkehrungsmaßnahmen auf den Inseln zur Verhinderung der Covid 19-Ausbreitung getroffen werden. Die Bundesregierung steht bereit, die bisherigen Unterstützungsmaßnahmen auch auf derartige Vorkehrungen zu erweitern.“ Das lässt sich so verstehen, dass mit Athen über die Aufteilung der Kosten verhandelt wird - während konkret wenig passiert.
Der Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen, Florian Westphal, erklärte am Donnerstag: „Seit Wochen sehen wir eine Katastrophe auf die Lager zukommen und verzweifeln langsam, weil niemand sich verantwortlich zu fühlen scheint. Die Zeit läuft ab.“
Kölner Erzbischof warnt vor Massensterben
Derweil gibt es immer neue Appelle an die Bundesregierung, sich bei der Lösung des Problems nicht von Brüssel abhängig zu machen. Mit Kampagnen wie #LeaveNoOneBehind drängen Prominente auf eine sofortige Evakuierung des Flüchtlingscamps auf Lesbos. Die Berliner Punkband Die Ärzte brachte das Anliegen sogar in ihrem Corona-Song unter.
Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki verlangte in einem Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ ein sofortiges Handeln der Europäer und notfalls auch einen deutschen Alleingang. „Lager wie das auf Lesbos müssen aufgelöst werden. Es müssen Orte gefunden werden, an denen die Menschen menschenwürdig leben können“, sagte der Erzbischof.
Angesichts der Bedrohung durch das Coronavirus sei ein Massensterben zu befürchten, sagte Woelki: „Es ist doch absehbar: Wenn die Menschen in den Lagern vom Coronavirus betroffen werden, werden sie hinweggerafft, weil keine Schutzmaßnahmen vorhanden sind und keine Möglichkeit besteht, die entsprechenden Schutzmaßnahmen einzuhalten.“
Der Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Friedrich Kramer, schrieb gemeinsam mit anderen Kirchenvertretern einen Offenen Brief an die Bundesregierung. Darin heißt es: „Das Lager Moria ist inzwischen Synonym für katastrophale, menschenunwürdige Verhältnisse geworden. Hier geht es täglich ums nackte Überleben.“
Und weiter: „Bei aller Sorge um die eigenen Krise: Wir erkennen es als unsere Pflicht, darauf hinzuweisen, welches Elend vor unseren Türen stattfindet!“ Angesichts der prekären Situation, denen viele tausend Geflüchtete in Lagern auf den griechischen Inseln und im Grenzgebiet zur Türkei ausgesetzt seien, dürfe es kein Wegschauen mehr geben. Die Kirchen stünden bereit, den Behörden bei der Unterbringung, Verpflegung und Betreuung von Menschen aus den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln behilflich zu sein.