Der IS in Syrien und Irak: Offensive der Dschihadisten: Über alle Grenzen
Erst das irakische Ramadi, jetzt die syrische Oasenstadt Palmyra: Der "Islamische Staat" rückt wieder vor. Wie stark ist die sunnitische Terrormiliz?
Eine Zeitlang konnte man den Eindruck gewinnen, als sei der "Islamische Staat" auf dem Rückzug. Immer wieder musste die Terrormiliz Niederlagen im Irak und in Syrien hinnehmen. Das hat sich in den vergangenen Wochen gründlich geändert. Die Extremisten eilen von Sieg zu Sieg. Zuletzt eroberten sie Ramadi im Irak, nun fiel der antike syrische Ort Palmyra. Damit beherrschen sie mehr als die Hälfte des Staatsgebiets.
Wie ist die Lage in Syrien?
Mit der Einnahme der antiken Stadt Palmyra in Zentral-Syrien hat die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) das Gebiet ihres "Kalifats" erheblich erweitert. Nach Einschätzung von Aktivisten beherrschen die Dschihadisten jetzt mehr als die Hälfte des syrischen Staatsgebiets und die meisten Ölfelder des Landes. Sie haben sich zudem eine gute Ausgangssituation für neue Eroberungen geschaffen, denn mit Palmyra kontrollieren sie wichtige Versorgungswege zwischen verschiedenen Landesteilen. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte teilte mit, der IS habe seit der Ausrufung des "Kalifats" im vergangenen Jahr mehr als 95.000 Quadratkilometer und damit mehr als 50 Prozent des syrischen Staatsgebiets unter seine Kontrolle gebracht.
Zwar bestehen viele syrische Gebiete des "Kalifats" aus Wüste, doch die jüngsten Eroberungen sind nach Einschätzung der Beobachtungsstelle die sich auf Berichte aus Syrien stützt, von erheblicher Bedeutung. Die allermeisten Gas- und Ölfelder werden demnach inzwischen vom IS kontrolliert. Zudem liegt Palmyra strategisch äußerst günstig, weil sich bei der Stadt wichtige Verkehrswege kreuzen, die den Nachschub für die Eroberer erleichtern können. Die Hauptstadt Damaskus liegt gut 200 Kilometer südwestlich von Palmyra.
Zudem haben die Extremisten den letzten noch vom Assad-Regime kontrollierten Grenzübergang zum Irak an der Fernstraße Damaskus – Bagdad erobert, sodass die Grenze zwischen beiden Staaten faktisch nicht mehr existiert. Bisher gab es nur selten direkte Konfrontationen zwischen der syrischen Regierungsarmee und den Dschihadisten des "Islamischen Kalifats". Palmyra ist die erste Stadt, die der IS direkt der Kontrolle des Regimes entreißt. Assads Armee ist zunehmend demoralisiert, sie kann kaum noch junge Männer rekrutieren.
Was ist im irakischen Ramadi passiert?
Die chaotischen Szenen in der 300.000-Einwohner-Stadt erinnerten an den Fall von Mossul. Ganze Brigaden der irakischen Streitkräfte wurden in die Flucht geschlagen. Große Mengen an Panzern, Fahrzeugen, Waffen und Munition überließen sie einfach den islamistischen Angreifern. Die triumphierenden Sieger dagegen paradierten in endlosen Konvois ihrer üblichen Toyota-Geländewagen durch die eroberten Gebiete, völlig unbehelligt von US-Kampfflugzeugen.
In Ramadi befreiten die Kämpfer zudem ihre Gesinnungsgenossen aus dem Gefängnis. Gleichzeitig richteten sie 500 Polizisten und Zivilisten hin. Augenzeugen berichteten, Erschießungskommandos seien mit Namenslisten von Haus zu Haus gegangen. Der Fall Ramadis ist für die Zentralregierung in Bagdad das größte militärische Debakel nach dem Verlust von Mossul vor einem Jahr.
Wie beurteilt die US-Regierung die Lage?
In Washington sieht man den Fall von Ramadi als "sehr bedeutenden Rückschlag", wie es aus dem Außenministerium heißt. Zwar sagte Chefdiplomat John Kerry, er sei absolut sicher, "dass der IS in den nächsten Tagen wieder aus Ramadi vertrieben wird". Intern jedoch sieht die Einschätzung anders aus. Präsident Barack Obama hat zur Beratung sofort sein komplettes Sicherheitskabinett einberufen.
Schon daran ist zu erkennen, wie ernst die US-Regierung die Situation nimmt. "Ein Desaster“, sagt ein Obama-Mann. "Und es wird nicht besser." Dennoch: Washington ist bemüht, Ramadi nicht als Wendepunkt zu betrachten, sondern als temporären Misserfolg. Anfang Juni sollen rund 1000 Anti-Panzer-Raketensysteme im Irak zur Unterstützung des Bodenkampfs eintreffen. Das, was die Koalition gegen den IS in den vergangenen acht Monaten insgesamt erreicht hat, so die Lesart der US-Regierung, können man als Erfolg werten. Es sei zumindest gelungen, den militärischen Spielraum der Terrororganisation einzuengen.
Ist der "Islamische Staat" wieder auf dem Vormarsch?
Nach den empfindlichen Niederlagen in Kobane und Tikrit macht der IS in Irak und Syrien zumindest mit spektakulären Gegenoffensiven von sich reden. Mit der Einnahme von Ramadi kontrolliert die Terrororganisation nun die gesamte westirakische Provinz Anbar. Deren Grenze stößt direkt an Jordanien. Sein syrisch-irakisches Kernterritorium, auf dem acht bis zehn Millionen Menschen leben, hat der "Islamische Staat" – trotz nahezu 3500 alliierter Luftangriffe – somit halten, ja, sogar etwas ausbauen können.
Die westlichen Luftschläge, an denen sich zu einem geringen Teil auch saudische, jordanische und emiratische Kampfflugzeuge beteiligen, haben zwar hunderte IS-Kämpfer getötet sowie deren Fahrzeuge zerstört. Unterm Strich allerdings ist die ganze Operation eines der teuersten militärischem Wiederbeschaffungsprogramme aller Zeiten: Der Aufwand, einen gepanzerten Humvee aus der Luft auszuschalten, ist zehn mal höher als der Wert des Fahrzeugs.
Warum konnten die Angriffe nicht abgewehrt werden?
Die Zweifel an Kampfkraft und Kompetenz der irakischen Armee werden immer größer. Nach Einschätzung von US-Experten sind ohnehin höchstens 50.000 Mann wirklich einsatzfähig. Der Rest der 280.000 Soldaten existiert nur auf dem Papier. Angesichts des neuerlichen militärischen Desasters erwägt der bedrängte Regierungschef Haider al Abadi nun, Ramadi mit schiitischen Milizen zurückzuerobern.
3000 dieser irregulären Kämpfer, die einen schlechten Ruf haben, sammeln sich einige Kilometer vor den Toren der Provinzhauptstadt zum Gegenangriff. Diese Strategie jedoch könnte – wie bei der Rückeroberung von Tikrit – die Spannungen mit der sunnitischen Bevölkerung weiter verschärfen. Damals plünderten schiitische Milizen nach der Einnahme der Geburtsstadt von Saddam Hussein hunderte Häuser und nahmen mit Massakern Rache an den Bewohnern.
Was macht die militärische Stärke der Terrormiliz aus?
Die IS-Anhänger zeichnen sich durch hohe Kampfmoral aus. Ihre Offensiven beginnen sie oft mit Selbstmordattentätern, die den Weg für den Angriff öffnen. Die militärische Führung besteht vor allem aus gut geschulten Offizieren, die einst in der irakischen Armee unter Saddam Hussein kämpften. Sie verstehen es, aus Niederlagen zu lernen und ihre Strategie anzupassen. Zudem besitzen die Extremisten ein großes Arsenal an schweren Waffen und gepanzerten Fahrzeugen.
Wie sehr leiden die Menschen?
Angst, Schrecken und Not: Das sind die täglichen Begleiter für all jene, die versuchen, sich in Sicherheit zu bringen. Schon während der Schlacht um Ramadi waren Zehntausende aus der Region geflohen. Nach der Einnahme der Stadt haben nochmals schätzungsweise 25.000 Menschen – vor allem Frauen, Kinder und Ältere – ihr Zuhause verlassen. Viele müssen Hilfsorganisationen zufolge unter freiem Himmel auf der Erde schlafen, haben weder ausreichend Nahrung noch Trinkwasser und sind dennoch oft gezwungen, kilometerweit zu marschieren. Das Welternährungsprogramm der UN (WFP) stellt nach eigenen Angaben für tausende Familien Lebensmittel bereit - auch in Form von verzehrfertigen Dreitagesrationen.
Die Lage sei sehr kritisch, heißt es bei den Vereinten Nationen. Nicht zuletzt, weil den Schutzsuchenden anscheinend der Weg vor allem nach Bagdad oft versperrt wird. Die Sunniten werfen der Zentralregierung vor, die Menschen dürften nicht den Euphrat überqueren. Offenbar befürchtet Bagdad, unter die Flüchtlinge könnten sich IS-Kämpfer gemischt haben, um unbemerkt in die irakische Hauptstadt zu gelangen. Im gesamten Land sind inzwischen drei Millionen Menschen auf der Flucht, so viele wie seit dem irakischen Bürgerkrieg 2006 und 2007 nicht mehr.
Im benachbarten Syrien ist die Lage der Zivilisten noch verzweifelter. Zwischen elf und zwölf Millionen Menschen sind dort schätzungsweise auf der Flucht und somit dringend auf Hilfe angewiesen. Etwa vier Millionen Frauen, Kinder und Männer haben mittlerweile Zuflucht in den Anrainerstaaten gefunden.
Im Bürgerkriegsland selbst mangelt es vor allem an Lebensmitteln und Trinkwasser. Das einst gut funktionierende Gesundheitswesen ist weitgehend zusammengebrochen. Nur ein kleiner Teil der Kinder kann zur Schule gehen. Und: Wer flieht, kann keineswegs darauf vertrauen, dass er tatsächlich Schutz findet. Viele Menschen mussten sich bereits mehrfach eine neue provisorische Bleibe suchen – weil die Orte der Kämpfe ständig wechseln.
Welchen Rückhalt hat der IS?
Ideologisch ist die Attraktivität der Extremisten-Truppe fast ungebrochen, die sich parallel zu ihrem sogenannten Kalifat in Syrien und Irak inzwischen zu einem transnationalen Terrorimperium entwickelt. Nach Schätzungen der EU kämpfen 6000 Europäer in den Reihen der Dschihadisten, darunter auch mindestens 25 Ex-Bundeswehrsoldaten. Aus den arabischen Staaten stammen 15.000 Kämpfer, die größten Kontingente aus Tunesien, Saudi-Arabien und Marokko. Allein 3000 Tunesier zogen in den vergangenen Monaten nach Mesopotamien. 12.500 IS-Anhänger konnte die Polizei des kleinen Mittelmeer-Anrainers nach eigenen Angaben an der Ausreise hindern.
Geworben werden die "Gotteskrieger" vor allem im Internet und in Moscheen. Nach einer Studie der renommierten Brookings Institution verfügt der "Islamische Staat" über 46.000 bis 70.000 Twitterkonten, die jeweils im Durchschnitt 1000 Follower haben.
Wie groß ist der Einfluss des IS auf die internationale Terrorszene?
Mehr als ein Dutzend Terrorbrigaden haben dem "Kalifen" Abu Bakr al Baghdadi inzwischen die Treue geschworen, darunter Gruppen in Libyen, Tunesien, Ägypten und Jordanien sowie jüngst im Jemen. In der Hauptstadt Sanaa bekannte sich eine "Grüne Brigade" zu den beiden verheerenden Selbstmordanschlägen auf zwei Huthi-Moscheen, bei denen im März 142 Menschen getötet wurden.
Auch in Afrika und Asien beginnen sich erste IS-Ableger zu etablieren – Boko Haram in Nigeria, das "Emirat Kaukasus", Abu Sayyaf auf den Philippinen sowie das "Emirat Khurasan", wie Teile von Afghanistan, Pakistan und Zentralasien historisch genannt wurden. Selbst die gefürchteten Schahab-Milizen in Somalia debattieren darüber, ob sie von Al Qaida zum IS wechseln sollten. "Alle Muslime müssen sich gegen den Feind zusammenschließen", erklärte ein Kommandeur. "Darum wären wir überglücklich, wenn wir unsere Kräfte bündeln könnten, um noch härter zuzuschlagen."