IS nach der Niederlage in Kobane: Das nächste Angriffsziel heißt Europa
Nach seiner Vertreibung aus Kobane definiert der „Islamische Staat“ neue Ziele und will vor allem Europa durch Terrorakte verunsichern. Wie stark ist der IS?
Der Erfolg der Kurden in der nordsyrischen Stadt Kobane gegen die Belagerer vom „Islamischen Staat“ (IS) könnte zum Wendepunkt im Kampf gegen die Dschihadisten in Syrien werden. Der Vormarsch der brutalen Gotteskrieger ist erst einmal gestoppt. Doch ihre Niederlage könnte nach Einschätzung von Experten die Gefahr von Terroranschlägen durch IS-Anhänger im Westen erhöhen.
Wie ist die Lage in Kobane?
Die Kurdenmiliz YPG eroberte nach der Vertreibung des IS aus dem Stadtgebiet von Kobane laut kurdischen Angaben inzwischen mehrere Dörfer außerhalb der Stadt vom IS zurück. In einigen Außenbezirken sollen sich aber immer noch Widerstandsnester der Dschihadisten befinden. Für eine Rückkehr der mehreren zehntausend Flüchtlinge aus der Stadt sei die Lage noch zu unsicher, hieß es. Zudem soll der IS bei seinem Rückzug Teile des Stadtgebietes vermint haben, so dass die Kurden bei der Sicherung dieser Gebiete vorsichtig und damit langsam vorgehen. Von einer Neuformierung der IS-Truppen zur Vorbereitung eines möglichen neuen Angriffs auf Kobane war am Dienstag nichts zu sehen.
Wie wirken sich die Luftangriffe der USA und ihrer arabischen Verbündeten aus?
Die Luftunterstützung der Alliierten für die Kurden hat entscheidend dazu beigetragen, dass der IS in Kobane gescheitert ist. Der Vormarsch der Dschihadisten in der Stadt wurde durch die Luftangriffe gestoppt, zudem wurde die Versorgung der Angreifer schwieriger. Die USA und ihre Verbündeten stimmten die Angriffe sehr genau mit den kurdischen Verteidigern ab, so dass zielgenaue Luftschläge möglich wurden: Die Kurden in Kobane agierten gewissermaßen als Bodentruppe der internationalen Anti-IS-Allianz.
Damit gebe es nun ein Modell für einen erfolgreichen Kampf gegen den IS, sagte der türkische Nahost-Experte Veysel Ayhan dem Tagesspiegel: „Wenn die internationale Gemeinschaft reagiert und lokale Gruppen unterstützt, dann siegt sie gegen den IS.“ Bisher sei der Westen sehr zögerlich gewesen, sagte Ayhan, Direktor der Denkfabrik IMPR in Ankara. „Aber jetzt sehen sie Ergebnisse.“ Die lokalen Bevölkerungen und Minderheiten in anderen Gebieten des IS-Machtbereiches dürften sich ermutigt fühlen, ebenfalls gegen den IS aufzubegehren.
Wie soll der Kampf weitergehen?
Der IS mit ihren mehreren zehntausend Kämpfern und schweren Waffen bleibt eine militärische Gefahr für Syrien und den Irak. Die amerikanische Luftwaffe und die Kampfjets der Verbündeten dürften ihre Angriffe auf die Dschihadisten fortsetzen, um die Bewegungsfreiheit der IS-Truppen einzuschränken und Nachschubwege zu zerstören. Auch arbeiten die USA und einige Partner an Plänen, frische Bodentruppen gegen den IS ins Feld zu schicken. In der Türkei und anderen Ländern sollen syrische Rebelleneinheiten ausgebildet und mit modernen Waffen versorgt werden, bevor sie in die Schlacht gegen den IS ziehen. Allerdings gibt es politische Probleme bei der Aufstellung der neuen syrischen Kampfeinheiten. So fordert die Türkei, dass die neue Truppe auch gegen die Regierungsarmee des syrischen Präsidenten Baschar al Assad eingesetzt werden soll, was die USA ablehnen. Den Einsatz eigener Bodentruppen lehnen die westlichen Staaten nach wie vor ab.
Steht das Ende des IS bevor?
Nahost-Experte Ayhan geht davon aus, dass der IS den Höhepunkt seiner Macht überschritten hat. Schließlich sei die Gruppe von ihrer Ideologie her auf eine ständige Expansion ihres Machtgebietes angelegt. „In Kobane wollte der IS gegen die westlichen Demokratien, gegen den Liberalismus in aller Welt siegen.“ Dieser Versuch sei gescheitert.
Nach dem Fehlschlag von Kobane treibt der IS aber nicht zwangsläufig seinem Niedergang entgegen. Eine langfristige Lösung für das Phänomen des „Islamischen Staates“ liege in politischen Reformen, nicht in militärischen Aktionen, meint der türkische Politologe Serdar Erdurmaz von der Hasan-Kalyoncu-Universität in Gaziantep im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Mit der Schlappe für den IS in Kobane seien die sozialen und politischen Voraussetzungen für den Aufstieg der Miliz nicht beseitigt worden, sagte Erdurmaz dem Tagesspiegel.
Im Irak hatte der radikal-sunnitische IS vor allem wegen der von vielen Sunniten als repressiv empfundenen Haltung der schiitischen Zentralregierung in Bagdad großen Zulauf bekommen. In Syrien profitierten die Dschihadisten vom Machtvakuum in weiten Landesteilen, das durch den seit fast vier Jahren anhaltenden Bürgerkrieg entstand. Beide Faktoren seien nach wie vor im Spiel und müssten mit langfristigen Strategien angegangen werden, sagte Erdurmaz. Auch hat sich der IS mit diversen Beutezügen und Lösegeldeinnahmen nach Geiselnahmen in den vergangenen Monaten Millionensummen verschafft und besitzt deshalb genug Geld für neue Waffen.
Was sind die nächsten Ziele des IS nach der Niederlage von Kobane?
Nicht nur in Kobane haben die Dschihadisten eine Niederlage einstecken müssen. Laut Berichten staatlicher syrischer Medien hat die syrische Armee den IS auch in der Nähe des Flughafens der ostsyrischen Stadt Deir Ezzor zurückgeschlagen. Im nordirakischen Mossul sind die IS-Truppen ebenfalls unter Druck geraten. Dort wird in den kommenden Monaten eine Großoffensive der irakischen Regierungsarmee erwartet; die US-geführte Allianz hat in den vergangenen Tagen ihre Luftangriffe auf IS-Stellungen in der Stadt verstärkt.
Experte Ayhan geht davon aus, dass die Miliz nun zunächst einmal versuchen wird, ihre Macht in den von ihr kontrollierten Gebieten in Syrien und im Irak zu sichern. Ob die Miliz immer noch einen Angriff auf die nordwestsyrische Wirtschaftsmetropole Aleppo plant, blieb am Dienstag unklar.
Die Rückschläge verringern nach Expertenmeinung aber nicht unbedingt die Gefahr, die von den Islamisten ausgeht. Ayhan rechnet mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Terroranschlägen im Westen. „Die IS-Anhänger sind sehr wütend“, sagte er. Der IS selbst rief seine Unterstützer auf, in westlichen Staaten Anschläge zu verüben. Das könne mit Patronen und Messern geschehen, aber auch „mit Stiefel und Faust“. Ausdrücklich verwies der IS auf Terrorakte in Kanada, Belgien und Frankreich.
Auch Professor Erdurmaz aus Gaziantep sieht eine erhöhte Gefahr von Anschlägen durch den IS nach der Niederlage in Kobane. Die Dschihadisten könnten versuchen, sich mit Terroranschlägen für die Teilnahme des Westens an der Schlacht um Kobane zu rächen, sagte er. Dabei bilden vor allem die in ihre Heimatländer zurückkehrenden ausländischen Kämpfer des IS eine große Gefahr.
Ob der Zulauf von Kämpfern aus dem Ausland zum IS auch nach Kobane weiter anhalten wird, lässt sich noch nicht absehen. Die Türkei, die eine 900 Kilometer lange Landgrenze mit Syrien hat, und europäische Staaten werfen sich gegenseitig vor, nicht genug zu unternehmen, um ausländische Kämpfer an einer Reise zum IS nach Syrien zu hindern.
Hat sich die Haltung der Türkei durch die Wende in Kobane verändert?
Nach der Vertreibung des IS aus der Gegend streben die syrischen Kurden die Sicherung ihres Autonomiegebietes Rojava an, das einen mehrere hundert Kilometer langen Geländestreifen entlang der Grenze zur Türkei bildet. Die in Rojava vorherrschende Kurdenpartei PYD und ihre Miliz YPG, die bei der Verteidigung von Kobane die Hauptrolle spielte, sind Ableger der türkisch-kurdischen Rebellengruppe PKK und werden deshalb von der Türkei mit Misstrauen betrachtet. Wie tief dieses Misstrauen sitzt, zeigen Äußerungen des türkischen Präsidenten Erdogan vom Dienstag. Für die Türkei sei eine kurdische Autonomie in Syrien nicht hinnehmbar, sagte Erdogan. Nach dem Rückzug des IS aus Kobane deutet sich schon der nächste Konflikt in Nordsyrien an.
Woher kommen die vielen Freiwilligen des IS?
Von den 20 730 ausländischen Freiwilligen, die für den IS und andere radikal-islamische Gruppen im Irak und in Syrien kämpfen, stammen 3000 nach Zahlen des ICSR aus Tunesien. Es folgen Saudi-Arabien mit maximal 2500 Islamisten sowie Russland, Marokko und Jordanien mit je 1500. In der EU ist Frankreich am stärksten betroffen. Das ICSR spricht von 1200 Personen. Danach kommen Deutschland und Großbritannien mit jeweils bis zu 600 ausgereisten Islamisten. Hochgerechnet auf die Bevölkerungszahl seien Belgien, Dänemark und Schweden die am meisten belasteten Staaten, meldet ICSR. Die Zahl der Islamisten aus Westeuropa, die sich nach Syrien und Irak begeben haben, sei mit fast 4000 bereits doppelt so hoch wie im Dezember 2013. Schätzungsweise fünf bis zehn Prozent der fremden Kämpfer in der Konfliktregion seien inzwischen tot. Weitere zehn bis 30 Prozent hätten das Kampfgebiet wieder verlassen.