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Mit geraubter Kunst treiben die Terrormiliz und ihre Helfershelfer einen schwunghaften Handel.
© Katharina Eglau

Was die Terrormiliz "Islamischer Staat" anrichtet: Im Nahen Osten droht eine historische Kernschmelze

Der Vormarsch des IS wird das Gesicht des Orients entstellen. Die Dschihadisten wollen im Namen Allahs die Erde von angeblich Ungläubigen befreien. Eine Analyse unseres Nahost-Korrespondenten.

Sie inszenieren sich als der Furor Allahs auf Erden. Wo immer sie auftauchen, verbreiten sie Horror und Entsetzen. "Wir kennen keine Grenzen, wir kennen nur Fronten", heißt ihr Credo, das die schwarz gekleideten Krieger an die Mauern der eroberten Gebiete sprayen. Das Kriegshandwerk lernten die Horden des "Islamischen Kalifats" im Dschungel des syrischen Bürgerkriegs, ihre fähigsten Ausbilder kommen aus Tschetschenien. Weltweit ziehen ihre Brutalität, ihr Männlichkeitskult und ihre scheinbar unaufhaltsame Dynamik Sympathisanten in den Bann. 15.000 Muslime aus 80 Nationen kämpfen inzwischen in ihren Reihen. Und ihr Kalaschnikow-Islam wird das Gesicht des Orients so entstellen, dass es nicht mehr wiederzuerkennen ist.

Der Arabische Frühling wirkt wie ein Traum aus fernen Tagen

Der Arabische Frühling dagegen, der noch vor drei Jahren den gesamten Globus in seinen Bann schlug, wirkt inzwischen wie ein Traum aus fernen Tagen. So gut wie alle Hoffnungen sind zerstoben, viele Protagonisten sitzen im Gefängnis. Stattdessen erfährt der Nahe und Mittlere Osten mit der blutrünstigen Expansion des "Islamischen Kalifats" jetzt eine dreifache Zäsur, die Dimensionen einer historischen Kernschmelze hat:

1. Das polyglotte Menschheitserbe des Orients mit seinem einzigartigen religiösen und ethnischen Reichtum, seiner babylonischem Sprachenvielfalt und jahrtausendealten Multikultur droht zugrunde zu gehen.

2. Die marode, arabische Staatenwelt erlebt ihre Stunde der Wahrheit – zerrissen, polarisiert und erschüttert wie seit dem Untergang des Osmanischen Reichs nicht mehr.

3. Die archaische Barbarei der Gotteskrieger hat im Wechsel mit dem hilflosen Formel-Islam der geistlichen Autoritäten der Region die schwerste Legitimationskrise des Islam in seiner modernen Geschichte ausgelöst.

Der "Islamische Staat" ist mehr als eine neue panarabische Terrormiliz in den Fußstapfen von Al Qaida. Seine Propagandisten verfolgen ein dschihadistisches Staatsprojekt, was sich als monomanes Gegenmodell zur kulturell-religiösen Pluralität der eingesessenen Zivilisationen im Nahen Osten versteht. Die "Gotteskrieger" inszenieren sich als der Furor Allahs auf Erden, die sie von allen Beschmutzungen und Verfälschungen, von allen Falschgläubigen, Ungläubigen und Abtrünnigen säubern wollen.

Alle Andersgläubigen sind Todfeine

Jeder, der nicht zum Kreis der wahren Gläubigen gehört oder angeblich die Regeln des Islam missachtet, besudelt nach dieser Doktrin das reine Territorium der gottgefälligen Muslime, provoziert den Zorn Allahs und muss vom Antlitz der Erde getilgt werden. "Ich verspreche euch nicht, was andere Herrscher ihren Untertanen versprechen: keine Sicherheit, keinen Wohlstand. Nein, ich verspreche euch, was Allah den Gläubigen im Koran versprach – dass Er sie zu seinen Stellvertretern auf Erden werden lässt", schmeichelte der selbst ernannte Kalif Abu Bakr al Baghdadi bei seinem bisher einzigen öffentlichen Auftritt in Mossul den Zuhörern. Und so gebärden sich seine Anhänger als von Gott autorisierte Exekutoren des Jüngsten Gerichts, die bereits vorab auf Erden die letztgültige Verurteilung über alle anderen Menschen vollstrecken dürfen.

Der Papst warnt vor einem "Dritten Weltkrieg auf Raten"

Die Unterscheidung zwischen rein und unrein gehört in der Welt der Religionen bekanntlich zu den Fundamentalkategorien – mit der archaischen IS-Doktrin jedoch mutiert sie zu einer hochtoxischen Quelle von Gewalt, die die Welt die nächsten Jahrzehnte in Atem halten wird. Papst Franziskus warnte bereits vor einem "Dritten Weltkrieg auf Raten". "Wir erleben einen Terrorismus von einer zuvor unvorstellbaren Dimension", sagte das katholische Oberhaupt. "Mir scheint, dass das Bewusstsein um den Wert des menschlichen Lebens verloren gegangen ist. Es scheint, dass die Person nichts zählt und dass man sie anderen Interessen opfern darf."

Andersgläubige, weil angeblich religiös Unreine, werden kategorisch vor die Wahl gestellt, zum Islam zu konvertieren oder hingerichtet zu werden. Wessen Leben geschont wird, verliert seinen Besitz, muss fliehen oder Schutzgeld zahlen. Rechte von Frauen und Minderheiten zählen nicht. Das zwei Jahrtausende alte farbige Ineinander von Gottesglauben und Kulturen, von Gelehrsamkeit und Dialog, von Bräuchen und Festen im Orient wird ausradiert. Historische Stätten werden systematisch demoliert, Theater, Bibliotheken, Kinos und Konzertsäle geschlossen. Als "kulturelle Säuberung" bezeichnete die Unesco das Treiben der Islamisten zuletzt bei einem Expertentreffen in Paris. Gleichberechtigung der Religionen und Toleranz gegenüber anderen ist diesem Denken völlig fremd.

Die IS-Krieger trampeln auf dem Erbe von Jahrhunderten herum

Die Invasoren seien "wütende Junge mit verzerrter Mentalität und Weltsicht", urteilt der prominente saudische Publizist Jamal Khashoggi, der in seiner Heimat ein einsamer Rufer ist. Die IS-Krieger trampelten auf dem Erbe von Jahrhunderten genauso herum wie auf den Errungenschaften der Moderne. Alle ihre Überzeugungen von Politik, Leben, Gesellschaft und Wirtschaft passten auf zwei, drei DIN-A4-Seiten. "Es wird Zeit, dass wir bei uns nach innen schauen. Alle, die von einer ausländischen Verschwörung faseln, verdrängen die Wahrheit und schließen die Augen vor unseren eigenen Fehlern." Saudi-Arabien produziere IS-Rekruten wie am Fließband – "alles junge Leute mit gewalttätigen und widerlichen Ideen im Kopf".

In Syrien und dem Irak machten IS-Eiferer bisher 50 Gotteshäuser dem Erdboden gleich

Ideologisch zählen die IS-Gotteskrieger zur salafistisch-wahabitischen Lesart des Islam, die ihre geistigen Wurzeln auf der arabischen Halbinsel hat. Ihr Treiben zieht inzwischen eine Spur der Verwüstung durch den gesamten Orient. In Ägypten und Tunesien zerstörten salafistische Extremisten mindestens 70 Sufi-Stätten. In Libyen demolierten sie reihenweise islamische Heiligtümer, Friedhöfe und römische Statuen – darunter die große Moschee in Zlintan, wo ein Sufi-Gelehrter aus dem 15. Jahrhundert verehrt wird. Die Täter wollten den Heiligen exhumieren, ihn an geheimer Stelle verscharren, um seine Anbetung unmöglich zu machen. Fünf Meter tief wühlten sie sich in den Boden unter dem Sarkophag, sterbliche Überreste fanden sie nicht. In Syrien und dem Irak machten IS-Eiferer bisher 50 Gotteshäuser dem Erdboden gleich, darunter auch das berühmte Mausoleum des Propheten Jonas in Mossul, das jahrhundertelang als Wahrzeichen für die religiöse und kulturelle Verwobenheit der Region gegolten hatte.

Statuen und Mosaike in Syrien und Mesopotamien werden gezielt zertrümmert

Genauso gefährdet sind die vorislamischen Schätze Syriens und Mesopotamiens. Statuen und Mosaike werden gezielt zertrümmert, andere Exponate nur geschont, um mit ihrem Verkauf die Kriegskasse zu füllen. In Syrien plünderten die Islamisten das Museum der Stadt Rakka, wo sie ihr Hauptquartier haben. Im irakischen Teil des "Islamischen Kalifats" gibt es allein in der Region Mossul etwa 1800 archäologische Fundstätten, darunter vier Hauptstädte der assyrischen Epoche sowie 250 Kulturbauten des Altertums. In Nimrud, einem der Königssitze, steht ein ausgegrabenes Palastgebäude, verziert mit Steinplatten, die geflügelte Wesen und Inschriften zeigen. Diese einmaligen Reliefs lassen die IS-Kämpfer jetzt in kleine Stücke sägen, um sie auf dem internationalen Kunstmarkt zu Geld zu machen.

Die geraubte Kunst ist heiß begehrt - auf dem Schwarzmarkt

Mit der geraubten Kunst treiben die "Gotteskrieger" und ihre Helfershelfer einen schwunghaften Handel, da diese trotz aller beschwörenden Warnungen der Unesco auf dem skrupellosen und nimmersatten internationalen Schwarzmarkt reißenden Absatz findet. Experten wie der Syrienkenner und Bostoner Archäologe Michael Danti schätzen, dass nach den Ölverkäufen der Antikenraub inzwischen die zweitwichtigste Einnahmequelle der Dschihadisten ist. Danti dokumentiert zusammen mit anderen Fachkollegen im Auftrag des US-Außenministeriums die Kulturzerstörung in Syrien und im Irak. Viele bewaffnete Gruppen und Einheimische vor Ort seien an dem Frevel beteiligt. Doch das Ausmaß an Zerstörung und Plünderung durch den "Islamischen Staat" sowie die Dimension seiner Profite aus der Antikenhehlerei seien beispiellos. "IS schwächen und zerstören, das kann in den Sälen von Sothebys geschehen, nicht im Pentagon", titelte die Zeitschrift "Foreign Policy". "Das geplünderte Erbe – Terrorfinanzierung durch deutsche Auktionshäuser" nannte die ARD ihre Dokumentation zum gleichen Thema.

Hand in Hand mit diesem systematischen Kulturfrevel geht eine Erosion des arabischen Staatengefüges

"Wenn man Kunsthändler fragt, haben sie nie ein Problem, denn sie handeln ja grundsätzlich mit sauberer Ware. Wenn wir aber Auktionskataloge beobachten, fällt uns auf, in welch abenteuerlicher Masse alte Sammlungen aus dem Boden sprießen, von angeblichen Professoren und Kunstsammlern, von denen wir noch nie gehört haben", erläuterte Margarethe van Ess, Wissenschaftliche Direktorin der Orient-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts in Berlin, in einem Interview. "Es werden nicht zu knapp Legenden erfunden, um nachzuweisen, dass sich Objekte angeblich seit Jahrzehnten in Europa oder internationalen Sammlungen befinden. Die Tatsache, dass mit dem Kauf illegaler Kunst potenziell Verbrechen finanziert werden, ist spätestens mit den Aktivitäten des IS unübersehbar geworden."

Hand in Hand mit diesem systematischen Kulturfrevel geht eine rasant fortschreitende Erosion des arabischen Staatengefüges. Die Auflösung der Grenzen hat bereits begonnen. Ein Drittel der Mitglieder der Arabischen Liga sind gescheiterte oder scheiternde Staaten, ein Drittel ist schwach und schwankend, das letzte Drittel hyperautoritär. Nirgendwo hat sich eine stabile Demokratie, geschweige denn ein Sozialstaat herausgebildet. Eine moderne Vorstellung vom mündigen Staatsbürger existiert nicht. Fast im gesamten Nahen Osten beendeten vor einem halben Jahrhundert Militärputsche das Kolonialzeitalter. In der ersten Dekade ihrer Existenz produzierten die jungen Staaten noch soziale Mobilität, wirtschaftliches Wachstum und wachsende Bildungschancen. Mit der Zeit jedoch gerann die Unruheregion zu säkularen Despotien und kleptomanischen Regimen, gegen die die Menschen im Arabischen Frühling auf die Straße zogen – weitgehend vergeblich, wie wir inzwischen wissen.

Der libanesische Publizist Rami G. Khouri sieht eine "korrupte und amateurhafte Staatlichkeit"

Und so konstatiert der libanesische Publizist Rami G. Khouri einen "katastrophalen Kollaps der existierenden arabischen Staaten". Er habe keinen Zweifel, dass die wichtigste Ursache für Geburt und Wachstum der IS-Gedankenwelt "der Fluch der modernen arabischen Sicherheitsstaaten seit den siebziger Jahren ist, die ihre Bürger wie Kinder behandelten und sie vor allem Gehorsam und Passivität lehrten", schreibt er. Für ihn ist die eigentliche Tragödie "die korrupte und amateurhafte Staatlichkeit" quer durch die arabische Welt sowie "ständige Einmischung und militärische Übergriffe durch ausländische Mächte, einschließlich der Vereinigten Staaten, einiger Europäer, Russlands und des Iran".

Libanon und Jordanien werden von Flüchtlingen aus Syrien überwältigt

Libanon und Jordanien werden von Flüchtlingen aus Syrien überwältigt. Das ölreiche Libyen versinkt in der Unregierbarkeit. Mehr als 200 bewaffnete Milizen kämpfen um die Kontrolle. Stämme, Clans und Städte befehden einander, zerstören Flughäfen und Infrastruktur. Im bettelarmen Jemen, dem ersten Staat der Welt, dem bald das Trinkwasser ausgehen könnte, belagern schiitische Houthi-Milizen die Hauptstadt Sanaa. Syriens Baschar al Assad führt jetzt schon jahrelang Krieg gegen seine eigenen Landsleute – mit Scud- Raketen, Giftgas und Fässerbomben. Wie im Mittelalter lässt er ganze Städte umzingeln, belagern und aushungern. Iraks Zerstörung begann 1980 mit dem von Saddam Hussein vom Zaun gebrochenen Krieg gegen den Iran. Seitdem folgte ein Desaster dem anderen, der Angriff auf Kuwait, die internationale Isolierung, schließlich die US-Invasion 2003. In Syrien und im Irak sind sämtliche Gräben mittlerweile so tief, dass sich diese Nationen wohl nie mehr werden zusammenkitten lassen.

Ägypten ist zurückgefallen in den gewohnten Polizeistaat

Der Putsch im demografischen Schwergewicht Ägypten im Sommer 2013 wiederum war ein dramatischer und wohl auf lange Zeit irreversibler Rückschlag für alle noch verbliebenen demokratischen Ambitionen der Region. Kairo ist zurückgefallen in den gewohnten Polizeistaat – noch erratischer und hemmungsloser, noch zwanghafter und anarchischer als der jahrzehntelang herrschende Vorgänger Mubarak. Nirgendwo dagegen sind zivilgesellschaftliche Kräfte, kulturell-religiöse Quellen oder ethische Einflüsse erkennbar, die das Zukunftsblatt wieder zum Besseren wenden könnten.

Der IS hat den Islam als Quelle von Ethos und Staatsdenken in eine Legitimationskrise gestürzt

Stattdessen hat das Wüten der Kalifatskrieger auch den Islam als Quelle von Ethos und Staatsdenken in die schwerste Legitimationskrise seiner modernen Geschichte gestürzt. Denn der Islam, so wie er sich heute als Religion organisiert, kann seine Kernbotschaft nicht mehr kohärent formulieren, vermitteln und begründen. Gilt das Tötungsverbot oder gilt es nicht? Warum machen sich Selbstmordattentate heutzutage wie eine Pest breit? Sind Selbstmordattentäter Massenmörder oder Aspiranten für das Paradies? Ist das Abschlagen von Kopf und Gliedmaßen, das Auspeitschen bei religiösen Verstößen Lehre des Islam oder nicht?

Warum werden Frauen im islamischen Personenstandsrecht bis heute diskriminiert?

Warum ist der Eintritt in den Islam frei, der Austritt dagegen nach der Scharia mit dem Tode bedroht? Warum werden Frauen im islamischen Personenstandsrecht bis heute diskriminiert? Warum dürfen Nicht-Muslime nicht nach Mekka und Medina? Warum dürfen Christen auf dem Boden von Saudi-Arabien, dem Ursprungsland des Islam, keine Kirchen bauen und noch nicht einmal Gottesdienst feiern? Ist Zwang in der Religion nun erlaubt oder nicht? Und wie hält es die islamische Doktrin mit der modernen Toleranz gegenüber Andersgläubigen oder Nichtgläubigen?

"Die Islamisten haben im Prinzip nichts Neues erfunden. Sie haben schlicht die Inhalte des gängigen Islamverständnisses überspitzt und radikalisiert", urteilte kürzlich der Palästinenser Ahmad Mansour, Mitglied der Islamkonferenz in Deutschland, in einem Beitrag für den "Spiegel". Ihre Haltung zum Umgang mit "Ungläubigen", ihre Haltung zur Umma, zur religiösen Gemeinschaft der Muslime, oder zur Rolle von Mann und Frau unterscheide sich "nur graduell, nicht prinzipiell". Und so verdankten die radikalen Strömungen ihre Gefährlichkeit nicht so sehr der Differenz zum "normalen" Islam als vielmehr der Ähnlichkeit.

Eine breite innermuslimische Debatte zu den geistigen Wurzeln der Radikalen findet nicht statt

Kein Wunder, dass angesichts dieser systematischen Unschärfe zwischen normal und radikal niemand mehr überzeugend erklären kann, wie das moralische Fundament des Islam und seine Anthropologie eigentlich aussehen. Herkömmliche Theologie und Koranausbildung sind den modernen Herausforderungen nicht gewachsen. Die Abgrenzungen zu der Gewaltbotschaft der Dschihadisten wirken halbherzig und nebulös. Eine breite innermuslimische Debatte zu den geistigen Wurzeln der Radikalen findet nicht statt. Und Millionen von Muslimen in Nahost tun mit Verweis auf die innere Pluralität ihrer Religion so, als wenn sie das alles nichts anginge.

Der Oberste Gelehrte von Kairos Universität Al Azhar nennt den IS eine "zionistische Verschwörung"

Der saudische Obermufti brauchte geschlagene zwei Monate und erst eine wütende TV- Gardinenpredigt von König Abdullah über "die Faulheit und das Schweigen" der Klerikerkaste, bis er den IS öffentlich verurteilte und als "Feind Nummer eins des Islam" abkanzelte. Zwei Jahre zuvor dagegen, im März 2012, hatte der 71-jährige Chefprediger des saudischen Hofs noch selbst in einer Fatwa gefordert, den Bau christlicher Kirchen auf der arabischen Halbinsel zu verbieten und bereits existierende Kirchen zu zerstören. Ahmad Mohammed al Tayyeb, Oberster Gelehrter von Kairos Universität Al Azhar, die sich gerne im Ruf der wichtigsten Lehranstalt des sunnitischen Islam sonnt, nannte den "Islamischen Staat" bereits mehrfach eine "zionistische Verschwörung", die die arabische Welt in die Knie zwingen soll.

"Die überwältigende Mehrheit der friedliebenden Muslime muss sich der Frage stellen, welche Faktoren den beängstigenden Entwicklungen in der eigenen Religionsgemeinschaft zugrunde liegen", forderten kürzlich sogar die deutschen Bischöfe, die normalerweise im Umgang mit dem Islam sehr behutsam agieren. "Nur auf Fehler, Versäumnisse und Schuld zu verweisen, die außerhalb der islamischen Kultur liegen, greift zu kurz."

Barack Obama sieht vor allem die Völker des Nahen Ostens in der Pflicht

Barack Obama wurde in seiner jüngsten Rede vor der UN-Vollversammlung so deutlich, wie vor ihm noch kein amerikanischer Präsident. "Letztlich ist die Aufgabe, religiöse Gewalt und Extremismus zurückzudrängen, ein Generationenprojekt – und eine Aufgabe für die Völker des Nahen Ostens", erklärte er. Diese Transformation der Köpfe und Herzen könne keine ausländische Macht herbeiführen.

"Wir Araber sollten uns nichts vormachen", bilanzierte Hisham Melhem, einer der ganz wenigen selbstkritischen arabischen Stimmen und Studioleiter des Senders Al Arabiya in Washington. "Die arabische Zivilisation, die wir gekannt haben, ist so gut wie verschwunden." Die arabische Welt von heute sei gewalttätiger und instabiler, fragmentierter und getriebener von Extremismus denn je. Die Verheißung des Arabischen Frühlings auf politische Beteiligung, die Rückkehr von Politik und die Wiederherstellung der menschlichen Würde sei verdrängt worden von Bürgerkriegen, ethnischen, religiösen und regionalen Zerwürfnissen sowie dem Wiedererstarken absolutistischer Herrschaft. "Die Dschihadisten des Islamischen Staates sind nicht aus dem Nichts aufgetaucht. Sie sind herausgestiegen aus dem Kadaver, der von unserer Zivilisation noch übrig ist."

Dieser Text ist die gekürzte Fassung des Vortrags im Tagesspiegel-Salon, der auch im Novemberheft der "Herder Korrespondenz" abgedruckt wurde.

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