Al-Qaida-Anführer: Diese Bücher las Osama bin Laden
Der linke Intellektuelle Noam Chomsky, Aufsätze über Deutschland, Verschwörungsschriften: Die US-Regierung hat zahlreiche Dokumente veröffentlicht, die bei Osama bin Laden gefunden wurden - darunter auch die Bücherliste des Al-Qaida-Chefs.
Am Tag, an dem Spezialkräfte der Navy Seals aus den Vereinigten Staaten in Richtung seines Verstecks in Pakistan aufbrechen, schreibt Osama bin Laden an seine Schwester: „Ich bitte Allah darum, dass dies die letzte Nachricht ist, bevor ich Dich treffe.“ Datiert ist der Brief auf den 26. April 2011. Er berichtet von Sicherheitsproblemen, lässt seinen Kindern und Enkeln Grüße ausrichten. „Bitte zerstöre diese Nachricht nach dem Lesen.“ Knapp eine Woche später, am 2. Mai, töten die US-Spezialeinheiten den damals meistgesuchten Terroristen der Welt in seinem Versteck am Rande der Stadt Abottabad.
Die Korrespondenz bin Ladens mit seiner Schwester, seinen Töchtern, Brüdern und anderen „Gotteskriegern“ ist Teil der Informationen, die am Mittwoch von der US-Regierung veröffentlicht wurden. Die Enthüllung trägt den Namen „Bin Ladens Bücherregal“ und enthält sowohl Briefe und Positionspapiere des Al-Qaida-Chefs als auch eine Liste der Bücher, die US-Spezialeinheiten im Versteck in Pakistan sichergestellt hatten. Zwar bildet die nun veröffentlichte Liste nicht das gesamte Archiv des damaligen Al-Qaida-Führers ab. Doch lässt das bisher veröffentlichte Material den Schluss zu: Der Erzfeind der USA war vom Westen fasziniert.
Unter den veröffentlichten Buchtiteln finden sich vor allem kritische Abhandlungen über die Geschichte und Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Doch wird auch deutlich, wie sehr sich bin Laden darum bemühte, die Funktionsweise der amerikanische Gesellschaft zu verstehen. Bei seinen Büchern handelt es sich unter anderem um den außenpolitischen Klassiker „Hegemonie oder Überleben“ des linken Intellektuellen Noam Chomsky. Auch ein Buch des Verschwörungstheoretikers Michel Chossudovsky fanden die Einsatzkräfte in Abottabad. Der Autor legt darin nah, das der von bin Laden in Auftrag gegebene Terroranschlag vom 11. September 2001 nur ein Vorwand für die USA gewesen sei, ihre Expansionspläne im Nahen Osten verwirklichen zu können.
In vielen dieser Werke wird bin Laden als Schreckgespenst der amerikanischen Außenpolitik portraitiert. Indem von Ex-CIA-Agent Michael Scheuer verfassten Buch „Imperiale Hybris: Warum der Westen den Krieg gegen den Terror verliert“ konnte bin Laden gar über sich lesen, er sei die „ meistgeliebte, meistromantisierte, charismatischste und möglicherweise fähigste Figur in den letzten 150 Jahren islamischer Geschichte.“ Insgesamt sind unter den veröffentlichten Fundstücken 39 Bücher in englischer Sprache. Auch zahlreiche Aufsätze über die französische und die deutsche Politik und Wirtschaft fanden die Amerikaner im Fundus von Abottabad. Der gebürtige Saudi Osama bin Laden hatte während seiner Jugend in Dschidda an einer Elite-Schule Englisch gelernt. Sein Hass auf den Westen wurzelte im Einmarsch der US-Truppen in Saudi-Arabien während des ersten Golfkriegs. In den Augen konservativer Muslime darf kein Nicht-Muslim das Land der heiligen Moscheen in Mekka und Medina betreten.
Wie sehr bin Laden die USA jedoch verachtete, geht aus einem Brief hervor, den er an das amerikanische Volk adressierte: „Für uns ist der heilige Krieg gegen die Tyrannen und Aggressoren eine Form der Anbetung. Er ist uns mehr wert als unsere Väter und Söhne.“ Die Dokumente geben auch Aufschluss über seinen Taktik gegen den Westen: Durch die Androhung und Durchhführung weiterer Terroranschläge wollte bin Laden vor allem die USA zum Abzug ihrer Truppen aus dem Nahen Osten zwingen.
Paul Middelhoff