Neue Kriegsphase beginnt: Mit westlicher Hilfe kann die Ukraine Putin stoppen
Putins militärische Pläne sind im ersten Anlauf gescheitert. Die Hoffnung wächst, dass die Ukraine sich behaupten kann. Ein Kommentar.
Putins Angriff auf die Ukraine hat die Menschen in Europa in einen Strudel extremer Gefühle gestürzt: Entsetzen, dass so ein Krieg noch möglich ist. Mitgefühl mit verzweifelten Müttern, Kindern, Vätern in zerbombten Städten und auf der Flucht. Zaghafte Hoffnung, dass die Ukraine widerstehen kann und ein Verhandlungsfrieden naht. Außergewöhnliche Hilfsbereitschaft, aber auch Gewöhnung an die grausamen Bilder.
In dieser Lage kommen die Regierungschefs der Nato-, EU- und G-7-Staaten in Brüssel zusammen, um ihr Vorgehen zu besprechen. Nach vier Wochen tritt der Krieg in eine neue Phase.
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Die russische Armee tut sich schwerer als gedacht. Der ukrainische Widerstand ist effektiver als erwartet.
Und doch wird eine Waffenruhe erstmal nicht wahrscheinlicher. Putin weigert sich, sein Scheitern einzugestehen. Nach heftigen Verlusten bereitet er die nächste Offensive vor, mit neuem Material und neuen Soldaten.
Bis Mitte Mai verhandelt Putin nur zum Schein
100.000 erfahrene Wehrpflichtige beenden am 1. April den Dienst. Wie viele davon kann er mit Druck und Propaganda dazu bringen, sich länger zu verpflichten, angesichts der Gefallenenzahlen?
Die neuen Rekruten, die sie ersetzen sollen, müssen ausgebildet werden. Die russische Luftwaffe bleibt weitgehend am Boden, aus Furcht vor der ukrainischen Luftabwehr. Der Vorrat an Raketen und Marschflugkörpern, die die Angreifer stattdessen einsetzen, ist weitgehend aufgebraucht.
Es wird wohl Mai werden, ehe sich klärt, mit welchen Ressourcen Putin die neue Offensive plant und wie die Erfolgschancen sind. So lange verhandelt er nur zum Schein.
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Mit der neuen Lage verändern sich die Optionen, wie Europa und die USA den Verteidigern helfen können, Putins Pläne vollends zu vereiteln. Sein Scheitern wäre der sicherste Weg, die Friedensordnung wieder zu festigen. Selbst wenn er nicht stürzt: Würde er es wagen, noch einen Krieg zu beginnen, um Ex-Sowjetrepubliken heim in sein Reich zu holen?
Stärken und Schwächen des Westens
Nur: Ist eine Niederlage Putins überhaupt realistisch? Durchaus. Politisch, ökonomisch und militärisch sind die Demokratien in Europa, Amerika und Asien, deren Regierungschefs in Brüssel beraten, drückend überlegen. Sie stehen für 60 Prozent der Weltwirtschaft, Russland für drei.
Sie sind freilich ihrerseits verwundbar. Ökonomisch: Europa muss Energieträger und Rohstoffe importieren, einen Gutteil davon aus Russland.
Politisch: Die Wucht der Sanktionen und die große Solidarität mit der Ukraine hat Putin überrascht. Aber ganz so einig, wie gerne behauptet wird, ist der Westen nicht.
Militärisch: Russland ist Atommacht. Der Westen muss Putin deshalb nicht gewähren lassen. Aber er möchte eine direkte Konfrontation verhindern und ihn nicht in die Enge treiben. Er wird der Ukraine liefern, was sie braucht, um der russischen Armee Niederlagen zuzufügen.
Die Ukrainer verteidigen die Nato in der Ukraine mit westlichen Waffen
Die Nato setzt aber keine No-Fly-Zone durch. Der Westen diskutiert auch nicht seine "Responsibility to protect" - eine Schutzverpflichtung -, wie in früheren Fällen, wenn brutale Kriegsherren wehrlose Zivilisten beschossen. Sondern die Ukraine erhält Luftabwehrsysteme, um den Himmel frei von russischen Kampfjets zu halten. Dazu Panzer und Artillerie, um in der Fläche zu kämpfen.
So bitter diese Einsicht ist: Über welche Friedenspläne am Ende verhandelt wird, hängt davon ab, wer militärisch erfolgreicher ist, Russland oder die Ukraine. Wie viel Hilfe ist nötig, möglich, verantwortbar? Bei diesen Abwägungen gibt es beträchtliche Differenzen.
Die östlichen EU- und Nato-Mitglieder wollen mehr tun, ebenso die Briten, Frankreich und Deutschland weniger. Emmanuel Macrons und Olaf Scholz´ Versuche, Putin jetzt zum Frieden zu überreden, werden teils verspottet, teils als schädlich bewertet.
Der EU fehlt Hard Power, entscheidend sind die USA
Der EU fehlt Hard Power. Sie liefert keine Waffen, sie kann ihren Mitgliedern keinen militärischen Schutz garantieren. Sie bietet Geld an, falls andere Waffen liefern wollen, und beschließt weitere 500 Millionen Euro, obwohl die ersten nicht verbraucht sind.
Es wirkt wie Symbolpolitik. Zur wahren Prüfung wird, ob die Verteilung der Flüchtlinge diesmal gelingt.
Entscheidend sind die USA: Sie haben die Ukraine auf die erfolgreiche Verteidigung in der ersten Kriegsphase vorbereitet. Sie werden den Großteil dessen liefern, was die Ukraine jetzt braucht.
Ein Ende des Grauens ist nicht in Sicht. Aber die Hoffnung, dass die Ukraine sich behaupten kann und Putins Aggressionswillen lähmt, ist gewachsen. Immerhin.