Arabisches Gas gilt nicht mehr als blutig: Habeck entdeckt in Katar das kleinere Übel wieder
Ein Grüner sucht Gas in Katar: Der Krieg ist der Realitätstest für Überzeugungen. Das gilt auch für die EU mit Blick auf ihre internen Konflikte. Ein Kommentar.
Deutschland entdeckt die Realpolitik wieder. Präziser: die Abwägung, was unter den Optionen ein größeres und was ein kleineres Übel ist.
Ein grüner Wirtschaftsminister, Robert Habeck, reist durch die arabische Welt, um Verträge über die Lieferung von Flüssiggas abzuschließen – als Alternative zum russischen Gas.
Wer es in den vergangenen Jahre wagte, in einer deutschen Talkshow diesen Vorschlag zu machen, erntete einen Sturm der Entrüstung. Gas aus dem Mittleren Osten? Das ist Despotengas, erkauft mit der Unfreiheit von Dissidenten oder gar ihrem Blut.
Der Einwand war damals berechtigt, er ist es auch heute. Doch wenn eine rot-grün-gelbe Bundesrichtung sich nun über ihn hinwegsetzt, deckt sie zugleich auf: Die Debatten wurden damals so alternativlos geführt, wie die Kanzlerin regierte.
Denkmuster wurden so oft wiederholt, bis sie wie Fakten klangen
Woher die Energieträger kamen, war keine Frage einer offenen Abwägung. Rhetorische Figuren und Denkmuster wurden so oft wiederholt, dass sie irgendwann als Tatsachen galten, die man nicht mehr hinterfragt. Arabisches Gas geht nicht, weil blutig. US-Fracking-Gas nicht, weil umweltschädlich. Und Atomkraft ist für viele Deutsche nicht zu verantworten; für viele andere Europäer allerdings schon.
Dabei war auch russisches Gas schon damals blutiges Gas. Und umweltschädlich angesichts der russischen Fördermethoden. Wladimir Putin hatte 2014 die Krim annektiert und den Krieg in den Donbass in der Ostukraine ausgeweitet. 2018 schnitt er die ukrainischen Häfen am Asowschen Meer wie Mariupol von den internationalen Schifffahrtswegen ab, indem er die Meerenge von Kertsch blockierte, ukrainisches Hoheitsgebiet.
Die damalige Justizministerin Katarina Barley (SPD) wollte den Angriff russischer Kriegsschiffe auf ukrainische Boote in der Meerenge 2018 nicht als Akt der Aggression verurteilen. Arabisches Gas als Alternative zu russischem lehnte sie ab. US-Flüssiggas auch.
Nun, da Putin die Zerstörung Mariupols mit Bomben und Raketen vollendet, blickt Deutschland anders auf die Welt. Der Krieg wird nun Krieg genannt. Wer würde angesichts der Bilder der zerstörten Städte noch bestreiten, dass Putins Gas und Öl mit Blut befleckt ist.
Was gilt noch, seit Scholz die „Zeitenwende“ erklärt hat?
Arabisches Gas gilt nun als kleineres Übel – auch wenn sich an den Herrschaftsmethoden in Katar und den Vereinigten Emiraten wenig geändert hat. Und wer unter den Justizminister:innen würde sich heute weigern, zu benennen, wer Aggressor und wer Opfer ist?
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Die Rückbesinnung auf die realpolitische Abwägung zwischen geringeren und größeren Übeln beschränkt sich nicht auf die Energiepolitik. Sie erfasst viele Lebens- und Politikbereiche. Die Welt lässt sich nicht einteilen in Weiß und Schwarz, richtig und falsch. Sie ist voller Grautöne.
Doch so richtig und nötig es ist, die ganze Breite der Handlungsoptionen zu erkennen und sie nicht durch vorheriges Ausschließen zu beschränken: Zunächst dürfte eine breite Verunsicherung um sich greifen.
Die alten Festlegungen gaben vielen Bürgern Orientierung und Halt. Deutschland glaubt an die friedensstiftende Wirkung wirtschaftlicher Verflechtung, exportiert keine Waffen in Kriegsgebiete, verfolgt eine Europa- und Außenpolitik, die auf der Verteidigung von Menschenrechten und Grundwerten, Demokratie, freien Medien und Rechtsstaat basiert.
Was davon gilt noch, seit Bundeskanzler Olaf Scholz den Kriegsbeginn zur „Zeitenwende“ erklärt hat?
Nächste Erschütterung: Ungarn wählt in zwölf Tagen
Die nächste Erschütterung zeichnet sich im Umgang mit Rechtsstaatsündern in der EU ab. Auch da hat sich eine Denkfigur etabliert: Polen und Ungarn müssten mit allen Mitteln, von Strafverfahren bis zum Entzug der EU-Gelder, zur Räson gebracht werden. Denn die Unabhängigkeit der Justiz und freie Medien sind absolute Werte.
Schon vor der russischen Invasion war fraglich, ob die EU-Kommission den Kurs kompromisslos durchhalten kann. Polen und Ungarn drohen, Entscheidungen, bei den Einstimmigkeit nötig ist, zu blockieren. Das sind viele.
Doch kann es sich die EU noch leisten, die internen Konflikte auszukämpfen? Geschlossenheit wird zur Vorbedingung ihres geopolitischen Einflusses auf Russland und China. Auch hier wird aus der Beschwörung absoluter Grundsätze allmählich eine Abwägung.
Ungarn wählt in zwölf Tagen. Viktor Orbán wird wohl an der Macht bleiben. In Kriegszeiten scheuen Bürger die Risiken eines Wechsels und setzen auf Kontinuität. Wenn Orbán aber bleibt, sollte sich die EU besser mit ihm arrangieren, als vier Jahre spaltenden Streit zu provozieren?
Brüssel sucht den Kompromiss mit Polen
Auch in Polen spricht derzeit wenig für einen Machtwechsel bei der nächsten Wahl 2023. Das Land trägt bisher die Hauptlast bei den Kriegsflüchtlingen.
Längst wird in Brüssel über einen Deal verhandelt, wie sich der Streit um Polens Justizreform beilegen lässt, damit die EU-Gelder an Polen ausgezahlt werden können. Sie werden benötigt, um die Folgekosten des Kriegs zu bewältigen. Sie weiter zu sperren, wäre das größere Übel.
Der Krieg erzwingt in vielen Bereichen eine Neubewertung und verändert die Prioritäten. Das wirkt verstörend. Und hat doch auch sein Gutes. Überzeugungen, die lange nicht hinterfragt worden sind, werden einem Realitätstest unterzogen. Teils bewähren sie sich. Teils nicht – und dann werden sie zu Recht aussortiert.