Flüchtlinge aus der Ukraine: Die EU muss das jetzt schaffen
Heute tagt der EU-Gipfel. Es gibt mehrere Gründe, warum sich Kanzler Scholz dabei für eine EU-weite Flüchtlingsverteilung einsetzen sollte. Ein Kommentar.
Auf acht bis zehn Millionen wird die Zahl der Ukraine-Flüchtlinge in der EU wachsen. So lautet die Prognose von Außenministerin Annalena Baerbock für die kommenden Wochen. Die gigantische Größenordnung von Schutzsuchenden, die demnächst noch fliehen werden, ist realistisch. Putin setzt die Stadt Mariupol und ihre Bewohner seinem Kriegsterror aus. Die Bilder der zerbombten Wohnhäuser geben eine Ahnung davon, wie viele Frauen mit ihren Kindern demnächst noch die Flucht Richtung Westen antreten dürften.
[Alle aktuellen Nachrichten zum russischen Angriff auf die Ukraine bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App live auf ihr Handy. Hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen]
Schon jetzt ist die Zahl der Flüchtlinge in der EU höher als während des Bürgerkrieges in Syrien. Dennoch war schon 2015/16 in der EU die Rede von einer „Flüchtlingskrise“. Das Ergebnis: Die Menschen, die aus Syrien und anderen Ländern aus dem Mittleren Osten in die EU kamen, fanden im großen Stil nur in Deutschland Aufnahme. Am Ende ließ sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan von der EU die Unterbringung bezahlen.
Grundsätzlich wollen alle EU-Staaten helfen
Jetzt ist die Lage anders: Alle EU-Staaten wollen den Ukraine-Flüchtlingen grundsätzlich helfen. Vor sechs Jahren wollte beispielsweise Frankreich nur in begrenztem Maße Flüchtlinge aufnehmen. Nun hat Staatschef Emmanuel Macron erklärt, dass in seinem Land 100.000 Menschen aus der Ukraine Schutz finden sollen.
Aber das wird nicht reichen. Denn Länder wie Polen, das bislang mehr als zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat, und Rumänien, wo die Behörden die Menschen direkt von der ukrainisch-moldawischen Grenze übernehmen, geraten an ihre Belastungsgrenze.
Aus diesem Grund ist auch Baerbocks Vorschlag sinnvoll, die an den EU-Außengrenzen ankommenden Flüchtlinge per Luftbrücke direkt in andere Länder in der Gemeinschaft zu bringen und so Städte wie Warschau und Berlin vor einer endgültigen Überlastung zu bewahren.
Beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag muss sich Olaf Scholz deshalb Baerbocks Vorschlag zu eigen machen. Der Kanzler sollte sich dafür einsetzen, dass die Flüchtlinge EU-weit verteilt werden – im Sinne eines europäischen „Wir schaffen das“.
Mehr zum Ukraine-Krieg bei Tagesspiegel Plus:
- Die Kreml-Versteher der CIA: „Putin lesen“ – die angesagteste Disziplin unter Geheimdienstlern
- Vitali Klitschko im Interview: „Bomben gewinnen keine Kriege, sondern Wille und Geist“
- Zwischen Abschreckung und Eskalation: Wo verläuft die rote Linie für den Westen?
- Zinsen, Nachfrage, Preise: Wie sich der Ukraine-Krieg auf den Berliner Immobilienmarkt auswirkt
- Warum Atomwaffen für Putin eine Option sein könnten: „Seine Selbstdestruktivität schließt Suizid ein“
Zwei Gründe sprechen dafür, dass Scholz beim EU-Gipfel im Kreis der Staats- und Regierungschefs in der Flüchtlingsfrage erfolgreich eine Führungsrolle übernehmen wird. Da ist einmal die Tatsache, dass Deutschland absehbar einen nicht geringen Teil der Schutzsuchenden aus der Ukraine aufnehmen wird.
Mit den bislang mehr als 230.000 hierzulande offiziell registrierten Geflüchteten sind die Aufnahmekapazitäten der wirtschaftsstärksten EU-Nation noch nicht erschöpft. Und wenn Bund, Länder und Kommunen weiter aufnahmebereit und – wichtiger noch – logistisch fähig zur Unterbringung der Hunderttausenden sind, wird dies Scholz beim Gipfel noch einmal zusätzlich Autorität verschaffen.
Für ein Engagement des Kanzlers zu Gunsten einer Flüchtlingsverteilung innerhalb der EU spricht zweitens, dass Frankreich in diesem Punkt zögert. Die Regierungen in Paris und Berlin arbeiten zwar bei der Koordinierung der Hilfe für das überlastete Nicht-EU-Land Moldawien zusammen. Aber von einer direkten Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU ist in Paris bislang nicht die Rede.
Polen und Ungarn könnten sich später bei Asyldebatte erkenntlich zeigen
Dabei könnte gerade Baerbocks Vorschlag dazu beitragen, alte Gräben im langjährigen Streit um die EU-Asylpolitik zuzuschütten. Länder wie Polen und Ungarn würden schnell die Vorteile einer Luftbrücke zur Verteilung der Flüchtlinge zu spüren bekommen. Sie könnten bei der Aufnahme der Schutzsuchenden durch Länder wie Spanien, Italien und Griechenland entlastet werden.
Umgekehrt sind es genau diese Mittelmeeranrainer, die seit Jahren eine Lastenteilung in der Flüchtlingspolitik verlangen. Und seit Jahren blockieren Ungarn und Polen das. Falls Baerbocks Plan umgesetzt wird, wäre es nur fair, wenn sich Warschau und Budapest anschließend in der Debatte um die langfristige EU-Asylpolitik erkenntlich zeigen würden.