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März 2020: Flüchtlinge bei Edrine in der Nähe der türkisch-griechischen Grenze hoffen auf einen Weg in die EU.
© imago images/ZUMA Wire

Europa-Bericht von Amnesty International: Menschenrechtler werfen EU „Antimigrationspolitik“ vor

Menschenrechte von Flüchtlingen werden auch in Europa missachtet. Das dürfte sich durch die Corona-Pandemie noch verschärfen.

Im Umgang mit Flüchtlingen verletzten auch viele europäische Länder immer häufiger die Menschenrechte. Das geht aus dem Europa-Bericht der Amnesty International hervor, den der Generalsekretär der deutschen Sektion, Markus N. Beeko, gemeinsam mit weiteren Expertinnen und Experten vorstellte. Wer sich gegen diese Praxis wehre oder sich an Rettungsaktionen beteilige, werde eingeschüchtert, schikaniert oder als Schleuser diskreditiert, kritisiert die Menschenrechtsorganisation.

Beeko sagte am Mittwoch in Berlin bei einer Video-Konferenz, er fürchte im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie eine besondere Diskriminierung von Geflüchteten auch in Deutschland. Nach einzelnen Corona-Infektionen in Sammelunterkünften könnten Flüchtlingen generelle Ausgangssperren auferlegt werden, während sich das Leben für den Rest der Bevölkerung nach und nach normalisiere. Das wäre aus Sicht von Beeko inakzeptabel.

Abschiebeflüge in Corona-Zeiten?

Franziska Vilmar, Expertin für Asylpolitik bei Amnesty International in Deutschland, nannte Beispiele dafür, dass sich die „Abschottungspolitik gegenüber Schutzsuchenden“ in Zeiten von Corona noch verschärft habe: Das Resettlement-Programm des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR für die dauerhafte Aufnahme schutzbedürftiger Flüchtlinge sei ausgesetzt worden. Aus Libyen werde derzeit niemand mehr übernommen, die Häfen in Malta und Italien für die aus den libyschen Haftlagern Geflohenen seien erneut geschlossen. Auch die regelmäßige Aufnahme einer kleinen Anzahl syrischer Flüchtlinge aus der Türkei finde nicht mehr statt.

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„Zugleich wird trotz aller Widrigkeiten während der Pandemie zum Teil noch versucht abzuschieben“, kritisierte Vilmar. Sie spielte damit auf Berichte an, wonach eine 25-jährige Frau aus Togo mit einem eigens gecharterten Abschiebeflug aus Deutschland in ihr Heimatland zurück sollte - die umstrittene Maßnahme wurde inzwischen von der Bundespolizei verschoben.

„Schutz von Grenzen über Schutz von Menschenrechten“

Amnesty wirft der EU in dem Bericht für das Jahr 2019 vor, sie habe die Kontrolle der Zuwanderung immer mehr in Länder ausgelagert, in denen Asylsuchenden und Migranten Menschenrechtsverletzungen drohten. „Dadurch waren Zehntausende Menschen nach wie vor bewaffneten Konflikten, Gewalt und Folter ausgesetzt und sahen unter trostlosen Bedingungen einer ungewissen Zukunft entgegen“, heißt es. „In ganz Europa gab es Zeichen, die auf eine Erosion der Grundwerte hindeuteten, angefangen bei der Migrationspolitik, die den Schutz von Grenzen über den Schutz von Menschenleben stellte.“

Amnesty International auf der Berliner Freiwilligenbörse im April 2018 im Roten Rathaus.
Amnesty International auf der Berliner Freiwilligenbörse im April 2018 im Roten Rathaus.
© Kitty Kleist-Heinrich

Nach Schätzung der Organisation kamen 2019 etwa 120.000 Migranten und Asylsuchende auf irregulärem Weg nach Europa.

Im Bericht ist die Rede von einer „Antimigrationspolitik“ - Deutschland dabei eingeschlossen. Als Beispiele dafür nennt die Menschenrechtsorganisation neben der Bundesrepublik mit Griechenland, Österreich und Finnland weitere EU-Staaten, die die Rechte von Asylsuchenden eingeschränkt und stärker auf Inhaftierungen und Abschiebungen zurückgegriffen hätten.

Auch die massive Überbelegung der Flüchtlingscamps auf den griechischen Inseln wird im Bericht erwähnt. Asyl-Expertin Vilmar begrüßte zwar, dass Deutschland - neben Luxemburg das bisher einzige Land - eine kleine Zahl von minderjährigen Schutzsuchenden aus dem völlig überfüllten Camp Moria auf der Insel Lesbos aufnehmen werde. „Doch letztlich sind diese ohnehin menschenunwürdigen Lager aufzulösen“, sagte sie.

Geplant ist, dass - voraussichtlich am Samstag - die ersten 58 geflüchteten Minderjährigen von den griechischen Inseln nach Deutschland ausgeflogen werden sollen.

EU-Staaten setzen Zusammenarbeit mit Libyen fort

Besonders heftig kritisiert Amnesty die Zusammenarbeit der EU und mehrerer Mitgliedsstaaten mit Libyen. Unter unzumutbaren Bedingungen würden dort Migranten und Asylsuchende festgehalten, viele von ihnen in dem Bürgerkriegsland sogar getötet. „Trotz anhaltender Berichte über systematische Menschenrechtsverletzungen in den libyschen Internierungslagern“ würden EU-Staaten die Kooperation mit dem nordafrikanischen Land fortsetzen, um Migranten von einer Flucht über das Mittelmeer abzuhalten.

Beispielsweise habe die italienische Regierung ihr Migrationsabkommen mit Libyen im November um weitere drei Jahre verlängert. Parallel zur Zusammenarbeit mit Libyen habe die Regierung in Rom ihre Politik der „geschlossenen Häfen“ fortgesetzt und Schiffen von Nichtregierungsorganisationen, die Menschen aus Seenot gerettet hatten, das Einlaufen verweigert.

Malta-Abkommen nur „erster kleiner Schritt“

Aktuell wurde diese Praxis vor dem Hintergrund der Coronakrise noch einmal bekräftigt - und das vom CSU-Politiker Horst Seehofer geführte Bundesinnenministerium forderte einen Stopp der zivilen Seenotrettung. Das sogenannte Malta-Abkommen zwischen Deutschland, Italien, Malta und Frankreich sei nur „ein erster kleiner Schritt in die richtige Richtung“, gewährleiste zeitlich befristet „ein Minimum an Koordination“, was das Anlanden und die Verteilung der geretteten Menschen betreffe, heißt es im Amnesty-Bericht.

Im östlichen Mittelmeer - neuer Schwerpunkt der Flüchtlingsrouten - werde die Migrationspolitik der EU weiterhin vom EU-Türkei-Abkommen aus dem Jahr 2016 bestimmt - und dies trotz anhaltender scharfer Kritik von Menschenrechtsorganisationen. Laut Amnesty hat die Türkei von Mai bis September - vor Beginn der türkischen Militäroffensive im Nordosten Syriens - Hunderte syrische Flüchtlinge in ihr Heimatland abgeschoben und dies als „freiwillige Rückkehr“ ausgegeben.

Odyssee für Zehntausende auf der Balkan-Route

Als kaum weniger problematisch wertet Amnesty International die Entwicklungen auf der Balkan-Route - genutzt im vergangenen Jahr von mehr als 30.000 Flüchtlingen, die Push-Backs in Griechenland oder auch Bulgarien entgehen konnten.

Für viele Geflüchtete wird diese Route laut Bericht zu einer Odyssee: „Mehr als 10.000 Personen strandeten in elenden Lagern in Bosnien-Herzegowina und Serbien, weil die kroatische Polizei sie hartnäckig und systematisch mit rechtswidrigen Kollektivausweisungen und Gewalt an der Weiterreise hinderte.“ Trotz erdrückender Beweise für die an der kroatischen Grenze verübten Menschenrechtsverletzungen habe die EU-Kommission im Oktober empfohlen, Kroatien vollständig in den Schengenraum aufzunehmen.

Dass die Coronakrise zum Anlass für Angriffe auf Menschenrechte und Rechtsstaat genommen wird, ist laut Amnesty International aktuell unter anderem in Ungarn zu beobachten. „Die Orbán-Regierung nutzte die Pandemie als Vorwand, um sich unbegrenzte Macht zu verschaffen“, sagte die Europa-Expertin Janine Uhlmannsiek. Neben Asylsuchenden und Migranten gilt in dem Land besonders die Minderheit der Sinti und Roma als besonders gefährdet. Der Ungarn-Chef von Amnesty, Dávid Vig, beklagte, Hassverbrechen gegen die Minderheit hätten „beunruhigende Ausmaße angenommen“, sie würden von der Polizei in vielen Fällen nicht ausführlich untersucht.

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