Seenotrettung im Mittelmeer: „Wer aus Libyen kommt, ist schwer traumatisiert“
Was berichten Flüchtlinge über Libyen? Stefanie Hofstetter von Ärzte ohne Grenzen über brutale Gewalttaten, verängstigte Menschen und psychologische Hilfe.
Stefanie Hofstetter hat für Ärzte ohne Grenzen vier Monate lang das medizinische Team auf dem Rettungsschiff „Ocean Viking“ geleitet.
Frau Hofstetter, Sie haben auf dem Rettungsschiff „Ocean Viking“ monatelang die medizinische Hilfe organisiert. Was benötigen die Flüchtlinge, die aus dem Mittelmeer geholt werden, am meisten?
Zunächst brauchen die Menschen trockene Kleidung, Lebensmittel und etwas zum Trinken. Viele sind nach Tagen auf See dehydriert und hungrig. Und sie brauchen vor allem Ruhe.
In welchem Zustand sind die Geretteten?
Wenn die Flüchtlinge zu uns aufs Schiff kommen, lautet ihre erste Frage oft: Seid ihr auch wirklich nicht von der libyschen Küstenwache? Oder: Bringt ihr uns womöglich zurück nach Libyen? Dabei wissen sie in der Regel, dass sie sich an Bord eines Rettungsschiffs befinden. Doch die Menschen sind einfach extrem verunsichert und ängstlich. Das liegt zuweilen auch an mangelnden Sprachkenntnissen. Auf der „Ocean Viking“ gibt es zwar Mitarbeiter, die Englisch, Französisch und Arabisch sprechen. Aber einige der Geretteten beherrschen keine dieser Sprachen. Die müssen sich zunächst untereinander verständigen. Dann wird rasch klar: Sie haben jetzt nichts mehr zu befürchten.
Die Menschen sind schwer traumatisiert?
Ja. Deshalb gehört psychologische Unterstützung auch zu den Erste-Hilfe-Maßnahmen. Die Menschen berichten immer wieder von schlimmen Erfahrungen, die sie entweder auf dem Weg nach Libyen oder in dem nordafrikanischen Land selbst machen. Die gefährliche Fahrt übers Mittelmeer hat ebenfalls häufig ein Trauma zur Folge. Daher ist es so wichtig, den Menschen klar zu machen, dass sie jetzt in Sicherheit sind.
Was haben die Flüchtlinge durchgemacht?
Fast alle berichten über exzessive Gewalt, die sie in Libyen erfahren haben: Schläge mit Gewehrläufen und Stöcken, das Übergießen mit kochendem Wasser oder geschmolzenem Plastik, Vergewaltigungen von Frauen, sexuelle Misshandlungen von Männern. Oft brechen die Menschen zusammen, wenn sie ihre Erlebnisse schildern. Bisher war offenkundig keine Zeit, diese schlimmen Erfahrungen aufzuarbeiten.
Ist die Angst vor neuer Gewalt der Hauptbeweggrund für die Flüchtlinge, die Fahrt übers Meer zu wagen?
Auf jeden Fall. Die Menschen wollen Libyen unbedingt verlassen. Und der einzige Weg ist per Boot Richtung Europa. Denn die Landesgrenzen sind dicht. Wer dunkle Hautfarbe hat, wird in den größeren Städten sofort aufgegriffen und verschleppt. Die einen werden zu Zwangsarbeit gezwungen, die anderen landen in Internierungslagern. Und in denen herrschen schreckliche Zustände.
Das heißt?
Von den Festgehaltenen wird zum Beispiel Geld verlangt, damit sie wieder freikommen. Doch Geld haben die meisten Flüchtlinge nicht. Ihr Ziel ist es ja gerade, einen Job zu finden, um die Familien in ihrer Heimat zu unterstützen. Nur: Das interessiert die kriminellen Banden überhaupt nicht. Im Gegenteil. Die Gefangenen werden gezwungen, mit Angehörigen zu telefonieren, damit sie Geld überweisen – und während der Telefonate werden die Inhaftierten misshandelt, um der Forderung Nachdruck zu verleihen. Das sind keine Einzelschicksale! Fast jeder hat Grausames erlebt. Kein Wunder, dass sie Libyen verlassen wollen. Und sie versuchen es nicht nur einmal, sondern zwei Mal, drei Mal, vier Mal. Hauptsache weg.
Ist das der Grund, warum Rettungscrews sich weigern, die Flüchtlinge nach Libyen zurückzubringen?
Definitiv. Ich halte es für grundfalsch, die Menschen dorthin zurückzubringen.