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Roma-Slum am Rande der nordungarischen Industriestadt Ozd.
© imago stock&people/Est & Ost

Sinti und Roma in der Coronakrise: Es drohen Rassismus, Pogrome, Hungersnot

Die Coronakrise trifft Minderheiten besonders hart. Werden Sinti und Roma zu Sündenböcken? In Bulgarien wurden die ersten Siedlungen abgeriegelt.

Es ist nur ein Gerücht, aber es entfacht eine verheerende Wirkung: Angeblich haben Roma-Migranten, die aus Deutschland und anderen Teilen Westeuropas nach Bulgarien zurückreisten, das Coronavirus in den Balkanstaat eingeschleppt. Die ersten beiden Bulgaren, die sich infizierten und später sogar starben, sollen sich, wie es heißt, nur deshalb angesteckt haben, weil Roma entgegen den Empfehlungen der bulgarischen Regierung sorglos gehandelt und so ihre Landsleute in Gefahr gebracht hätten. Von „mangelnder Disziplin“ der Roma ist die Rede.

Soweit die Legende. In der Praxis haben nun in Bulgarien Politiker der extremen Rechten die Regierung aufgefordert, als „nationale Maßnahme“ Kontrollstellen an allen von Roma bewohnten Stadtvierteln einzurichten. Wie der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma berichtet, sind in der Folge von nationalen und lokalen Behörden bereits mehrere Roma-Stadtviertel abgeriegelt worden.

Herbert Heuß, wissenschaftlicher Leiter des Zentralrats, kritisiert: „Damit werden Roma grundrechtswidrig von jeder medizinischen Versorgung ausgeschlossen, die Versorgung mit Lebensmitteln und allen anderen Gütern des täglichen Bedarfs wird abgeschnitten.“ Und dies bei ohnehin desolaten Wohnverhältnissen in den Siedlungen. Oft fehlt der Zugang zu Trinkwasser.

Romani Rose warnt vor neuen Pogromen

Der Vorsitzende des Zentralrats, Romani Rose, warnt - auch an die Adresse der EU und der Regierungen betroffener Länder: „Roma dürfen nicht erneut als Sündenböcke von Nationalisten und Rassisten missbraucht werden.“ Er sieht in der Krise „die Gefahr von neuen Pogromen gegen Roma“.

Einer der Wortführer der Forderungen zur Abriegelung der Roma-Siedlungen in Bulgarien ist der für seine rassistischen Tiraden bekannte Europaabgeordnete Angel Dschambaski von der nationalen Bewegung Imro.

Nach Informationen des Zentralrats der Sinti und Roma sind die Behörden in drei bulgarischen Städten dem Appell des Rechtsextremisten bereits gefolgt und haben Roma-Wohngettos abgeriegelt, in denen insgesamt mehr als 50.000 Menschen leben - in Nowa Sagora, der Rosenöl-Stadt Kasanlak und Sliwen. Laut einem Bericht des Portals „Euractiv“ sehen sich beispielweise in Sliwen die rund 25.000 Roma aus dem Viertel Nadeschda einer regelrechten Blockade gegenüber: Jeder, der das Viertel verlassen wolle, werde von der Polizei kontrolliert. Für die Roma-Siedlungen in der Region um die Hauptstadt Sofia drohen vergleichbare Regelungen.

Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma.
Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma.
© imago/Metodi Popow

„Euractiv“ berichtet weiter, das Innenministerium in Sofia habe die sogenannten Roma-Vermittler aufgefordert, eine Notfall-Aufklärungskampagne über das Coronavirus zu starten. Innenminister Mladen Marinow drohte demnach, die eingesetzten Vermittler sollten endlich ihre Arbeit erfolgreich erledigen, ansonsten würden die Roma-Viertel von der Außenwelt abgeschnitten.

Eine verschärfte Stimmungsmache gegen Sinti und Roma in der Coronakrise gibt es in fast allen Ländern Mittel- und Osteuropas - von Rumänien über Ungarn bis zur Slowakei, aber auch in den Westbalkan-Staaten wie Nordmazedonien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Kosovo und Albanien. In den österreichischen Städten Linz und St. Pölten machten Kommunalpolitiker der rechtspopulistischen FPÖ vor dem Hintergrund der Ausbreitung des Coronavirus Sicherheitsbedenken gegen Roma-Lager geltend. Auch in Rumänien wurden bereits Forderungen von rechtsradikalen Kommunalpolitikern laut, Roma-Siedlungen abzuriegeln.

Viele Roma in extrem prekärer Situation

Dass nationalistische Politiker die Coronakrise nutzen, um Sinti und Roma auszugrenzen, ist allerdings nur ein Teil der aktuellen Probleme, wie Herbert Heuß vom Zentralrat weiter erläutert. Ausgangssperren und Reisebeschränkungen haben nach seinen Worten dazu geführt, dass viele Roma inzwischen praktisch ohne Einkommen sind, sich in einer „extrem prekären Situation“ befänden.

Viele Roma sind schon jetzt arbeitslos. Andere können ihre bisherigen Jobs als Flaschen- oder Schrottsammler - also als prekäre Selbstständige - unter den Bedingungen von Ausgangssperren im Moment nicht ausüben, vermutlich wochen- oder sogar monatelang. Weitere haben die Aussicht auf Verdienstmöglichkeiten als Erntehelfer zum Beispiel in Deutschland verloren - Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hatte am Mittwoch verfügt, dass die Einreise von Helfern beispielsweise beim Spargelstechen oder bei der Erdbeerernte bis auf weiteres untersagt ist. Unter den Erntehelfern sind in den vergangenen Jahren auch viele Roma gewesen.

In den Siedlungen ist man auf einen Ausbruch des Coronavirus praktisch in keiner Weise vorbereitet. Oft leben Hunderte und Tausende dicht an dicht zusammen, manchmal zehn und mehr Menschen in einem Raum zusammen. Eigentlich von den Behörden untersagte Kontakte lassen sich so kaum vermeiden. „Was passiert, wenn das Virus in diesen Siedlungen ausbricht?“, fragt sich Stephan Müller, externer Mitarbeiter des Zentralrats. „Das wird eine Katastrophe.“

Soziale Wohlfahrt deckt nicht den Lebensunterhalt

Die meisten osteuropäischen Länder haben nur eine begrenzte soziale Wohlfahrt - sie reiche nicht aus, um den Lebensunterhalt zu sichern, analysiert Zentralrats-Experte Müller. Er fragt sich: „Wie werden die Menschen überleben?“ Müller zum Tagesspiegel: „Der Rassismus gegenüber Roma, der Antiziganismus ist weit verbreitet. Aufgrund der katastrophalen Lebensbedingungen vieler Roma und ihren durch Korruption und Rassismus begrenzten Zugang zum Gesundheitswesen, besteht die Gefahr, dass viele Roma sich anstecken können und keine Behandlung erhalten.“ Der Zentralrats-Vertreter erwartet: „Rassisten werden nicht zögern, Roma zum Sündenbock für die Krise machen, was weitreichende Folgen haben kann.“ 

Der Zentralrat fordert umfassende Nothilfe: Tankwagen mit Trinkwasser, Lebensmittel- und Hygienepakete, Gesundheitsversorgung, dies alles in einer gemeinsamen Kraftanstrengung von Regierungen, EU, örtlichen Behörden und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Romani Rose appelliert, diese „humanitäre Hilfe für alle betroffenen Menschen ohne Versorgung“ sei umgehend sicherzustellen. Geschehe das nicht, droht aus Sicht seiner Organisation zehntausenden von Roma in Europa demnächst eine Hungersnot. Vielleicht sogar hunderttausenden.

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