Flüchtlingsansturm an polnischer Grenze: Europa wurde überrascht – dabei war die Krise abzusehen
Für Flüchtlinge aus dem Irak und anderen Staaten ist Europa längst ein Sehnsuchtsort. Belarus’ Machthaber macht sich diese Hoffnung skrupellos zu Nutzen.
Einige Reisebüros im Irak hatten in den vergangenen Monaten verlockende Touren im Angebot. Legal und bequem konnten Kunden bis an die Tore der EU reisen. Tausende kratzten ihre Ersparnisse zusammen, liehen sich Geld bei Freunden und Verwandten und tauchten wenig später an der Grenze zwischen Belarus und Polen auf.
Die Iraker sind die größte Gruppe unter den Flüchtlingen in Belarus. Allein aus dem Kurdengebiet im Norden sind nach Angaben der Regionalregierung in den vergangenen Wochen fast 8000 Menschen nach Minsk geflogen.
Mehr als 550 Rückkehrwillige haben sich nun nach Angaben der irakischen Zentralregierung gemeldet – sie haben den Versuch aufgegeben, über die stark gesicherte Grenze auf EU-Gebiet zu kommen. Rund 200 von ihnen sollen an diesem Donnerstag ins Flugzeug steigen.
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Europa wurde von dem Ansturm auf die polnische Grenze überrascht – dabei war die Krise seit Monaten abzusehen. Schon im Frühjahr erleichterte Belarus die Visavergabe an Iraker und erhöhte die Zahl der Flüge aus dem Nahen Osten nach Minsk. Der Irak stellte zwar auf Bitten der EU seine Direktverbindungen nach Belarus im Sommer ein.
Doch Reiseveranstalter, Schleuser und ihre Kunden fanden andere Wege, zum Beispiel über Dubai oder Istanbul. Die Flüchtlinge aus dem Irak bekamen von den belarussischen Behörden Touristenvisa. Interessenten bezahlten laut Medienberichten bis zu 15.000 Euro. Die Nachricht von den angeblich sicheren und bequemen, wenn auch teuren Reisen verbreitete sich über die sozialen Medien.
Die meisten Flüchtlinge kommen aus dem Nordirak
Der Nordirak wurde so zu einem Hauptherkunftsgebiet der Flüchtlinge, die in Belarus ankamen. Das hat Gründe. Wie die Menschen in anderen Teilen Iraks verlieren die Kurden immer mehr die Hoffnung auf ein besseres Leben in ihrer Heimat. Korruption, Vetternwirtschaft und Gewalt verhindern, dass der Irak mit seinem Ölreichtum den Lebensstandard seiner Bürger verbessern kann.
Zudem fürchten viele Iraker um Leib und Leben. Die Internetplattform „Rudaw“ meldete, die meisten kurdisch-irakischen Migranten in Belarus stammten aus Gegenden, in denen der „Islamische Staat“ wieder auf dem Vormarsch sei und in denen sich die türkische Armee Gefechte mit der kurdischen Terrororganisation PKK liefere.
Den Irak verlassen wollen viele, aber irakische Kurden können sich ein teures Ticket nach Europa eher leisten als ihre Mitbürger in anderen Landesteilen: Das Pro-Kopf-Einkommen im kurdischen Teil des Landes liegt bei etwa 6000 Euro im Jahr – andere Regionen kommen nur auf rund 3500 Euro.
Deshalb begann auch ohne Direktflüge eine Ausreisewelle Richtung Belarus. Sie endete erst, als die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) vor kurzem auf Drängen der EU beschlossen, keine Iraker, Syrer, Jemeniten und Afghanen mehr über ihre Staatsgebiete nach Belarus fliegen zu lassen.
Im Nahen Osten bleiben die Krisen ungelöst
Die irakische Regierung verbot den Konsulaten von Belarus in Bagdad und im nordirakischen Erbil die Visavergabe.
Damit ist die Reise für Flüchtlinge aus dem Nahen Osten nach Belarus nicht unmöglich, allerdings viel schwieriger geworden. Zwar können sie noch indirekte Flüge nehmen, etwa über Russland. Nur sind die dortigen Visa-Bedingungen strenger als die für Belarus.
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Doch selbst wenn sich das Tor nach Europa für ausreisewillige Iraker vorerst geschlossen hat, sind Beobachter sicher: Es ist nur eine Frage der Zeit ist, bis die nächste Krise ausbricht. Die EU trage eine Mitschuld daran, weil sie es nicht geschafft habe, eine gemeinsame Linie für den geordneten Zuzug von Menschen aus anderen Weltregionen zu finden, schreibt der auf Migrationsfragen spezialisierte Journalist Andrew Connelly in der Zeitschrift „Foreign Policy“.
Außerdem wird sich an den schlimmen Verhältnissen im Irak und anderswo im Nahen Osten auf absehbare Zeit nichts ändern. Not, Armut, Konflikte und die Klimakrise zwingen viele Menschen, sich auf den Weg Richtung Europa zu machen. So wird die Lage im Libanon von Tag zu Tag dramatischer.
Armut, Hunger, Korruption und die Klimakrise
Die Wirtschaft dort liegt am Boden. Immer weniger Libanes:innen finden einen Job, immer mehr wissen nicht, wie sie über die Runden kommen sollen. Erst jüngst warnten die UN, das Land drohe als Staat zu scheitern. Der Libanon sei am Rande des Zusammenbruchs – auch weil die politische Führung nicht zu Reformen bereit sei. Wer es schafft, verlässt das Land.
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Ähnlich verheerend sieht es in Syrien aus. Massenflucht gehört schon lange zum Alltag. Nach mehr als zehn Jahren Krieg gibt es heute weniger Kämpfe, aber von Frieden und Stabilität unter Diktator Baschar al Assad kann keine Rede sein. Vielmehr leben mehr als 80 Prozent der Syrer:innen in Armut.
Eine Hungerkrise hat das Land erfasst – verschärft durch Extremwetter. Millionen Frauen, Kinder und Männer leiden unter einer rekordverdächtigen Dürre. Wegen ausbleibender Niederschläge mangelt es an Trinkwasser, Felder können nicht bestellt werden. Das macht viel zu Flüchtlingen.
Auch im Jemen kennt das Elend kaum noch Grenzen. Seit Jahren steckt das Armenhaus der arabischen Welt in einem Konflikt fest, den Mächte wie Saudi-Arabien und der Iran dort austragen. Mehr als 20 der 30 Millionen Jemenit:innen sind auf Hilfe angewiesen, Kinder sind zu Hunderttausenden lebensbedrohlich unterernährt.
Hinzu kommen Krankheiten wie Cholera oder Covid-19. Und wieder auflebende Gefechte, die die Menschen ihrer Heimat berauben. Für sie ist Europa längst ein Sehnsuchtsort, der ein halbwegs normales Leben verheißt. Belarus’ Machthaber Alexander Lukaschenko macht sich diese Hoffnung skrupellos zu Nutzen.