Anschläge und neue Gefechte in Syrien: Die Rückkehr des Krieges
Anschläge des IS, heftige Gefechte um Idlib, Erdogans Einmarsch-Drohungen: Beginnt in Syrien eine neue gewaltsame Phase des Konflikts?
Baschar al Assad gibt sich zuversichtlich. Syriens Machthaber will die internationale Gemeinschaft davon überzeugen, dass der Krieg in seinem Land vorbei ist. Seine Regierung bereitet nach eigenen Angaben die Rückkehr von Millionen Flüchtlingen vor und knüpft neue Kontakte zu anderen arabischen Staaten.
Tatsächlich kontrolliert Assad nach jahrelangen Kämpfen wieder rund zwei Drittel des syrischen Staatsgebietes. Doch jetzt flammt der Konflikt wieder auf. Am Dienstag starben 14 Soldaten beim schwersten Anschlag seit langem in Damaskus. In der Provinz Idlib – dem letzten Rückzugsgebiet der Regimegegner – töteten Assads Truppen mindestens 13 Menschen.
In Syriens Hauptstadt sprengten Unbekannte einen Armeebus mit zwei ferngezündeten Bomben in die Luft. Der Verdacht richtet sich gegen die Extremisten des „Islamischen Staates“ (IS), die vor vier Jahren den bisher letzten schweren Angriff in Damaskus verübten. Damals gab es 30 Tote.
Tausende Dschihadisten des IS sind in den Untergrund gegangen
Nach der militärischen Niederlage des IS gegen eine US-geführte internationale Streitmacht 2019 tauchten Tausende Dschihadisten in der syrischen Wüste unter. Seit einiger Zeit machen sie wieder verstärkt mit Anschlägen in Syrien und im Irak von sich reden. Die UN warnten vor wenigen Monaten, der IS versuche, in beiden Ländern wieder Fuß zu fassen. Assads Armee und ihr Partner Russland greifen seit Tagen die Verstecke der Islamisten an.
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Syriens Regime und Moskau verstärken zugleich ihre Attacken auf das nordwestliche Idlib an der Grenze zur Türkei. Assads Regierung und die syrische Opposition verhandeln zwar seit einigen Tagen wieder unter Vermittlung der UN in Genf über eine neue Verfassung für das Land, doch die Gespräche können die Gewalt nicht stoppen.
Einem Bombardement der Armee fielen auch Kinder zum Opfer
Die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu meldete am Dienstag aus Idlib, syrische Truppen und verbündete iranische Milizionäre hätten einen Marktplatz in der Kleinstadt Ariha mit Artillerie angegriffen. Das UN-Kinderhilfswerk Unicef erklärte, unter den Opfern seien vier Schulkinder – drei Jungen und ein Mädchen – sowie ihr Lehrer, die auf dem Weg zur Schule waren.
Assad hat angekündigt, die Aufständischen aus Idlib zu vertreiben und die Provinz wieder dem Regierungsgebiet einzuverleiben. Der Präsident zieht zudem Truppen bei Tel Rifat nordöstlich von Idlib zusammen, um einen erwarteten Einmarsch der türkischen Armee abzuwehren.
Nach Medienberichten sind syrische Panzerverbände in die Gegend verlegt worden. Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte vorige Woche mit einer neuen Intervention in Tel Rifat gedroht. Der Einmarsch sei „unvermeidlich“, meldete der Staatssender TRT. Kritiker werfen Erdogan vor, er wolle mit dem neuen Feldzug von innenpolitischen Problemen wie der Wirtschaftskrise ablenken.
Erdogan will gegen die Kurdenmiliz YPG vorgehen
Der Staatschef hatte in den vergangenen Jahren seine Armee vier Mal nach Nord-Syrien geschickt; meistens ging es dabei um den Kampf gegen die Kurdenmiliz YPG, die von Ankara als Terrororganisation verfolgt wird. Heute halten türkische Streitkräfte mit verbündeten Milizen mehrere Gebietsstreifen in Syriens besetzt, die Region um Tel Rifat gehört jedoch nicht dazu.
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Die Einnahme dieser Stadt durch die Türkei wäre eine schwere Niederlage für die YPG. Zudem könnte Ankara damit seinen Einfluss im Gebiet nördlich der Wirtschaftsmetropole Aleppo ausbauen.
Für einen Einmarsch in der Region Tel Rifat braucht Erdogan allerdings die Erlaubnis von Russland, das in diesem Teil Syriens die Lufthoheit hat. Ob Moskau grünes Licht gibt, ist ungewiss. Kremlchef Wladimir Putin und Assad forderten erst kürzlich wieder den Abzug ausländischen Truppen, womit auch die türkische Armee gemeint war. Dennoch arbeitet Putin mit Erdogan in Syrien zusammen, um die Abwendung der Türkei vom Westen zu beschleunigen.
Das mögliche Wiederaufleben des Krieges trifft ein Volk, das ohnehin leidet. 80 Prozent der Syrer:innen leben unter der Armutsgrenze, die Wirtschaft liegt am Boden, weite Teile des Landes sind verwüstet. Viele Familien wissen nicht, wie sie über die Runden kommen sollen. Vor allem im Norden herrscht große Not. Die wird jetzt noch durch die Pandemie und den Klimawandel verschärft.
Rekordtemperaturen, ausbleibende Niederschläge und Dürre machen den Menschen zu schaffen. Der Wassernotstand hat den Angaben der Hilfsorganisationen Care und Save the Children zufolge dramatische Folgen. So kommt es zu Ernteausfällen, die Menschen verlieren ihr Einkommen, die Gefahr von Krankheiten und Unterernährung steigt.
Das Coronavirus hat leichtes Spiel
Unter derartigen Bedingungen hat das Coronavirus leichtes Spiel. Laut Ärzte ohne Grenzen breitet sich Covid-19 vor allem in Nordsyrien rasant aus. Die bestätigten Corona-Fälle hätten sich zwischen August und September von 39.000 auf 73.000 fast verdoppelt. Das ohnehin vor dem Kollaps stehende Gesundheitssystem ist dieser Herausforderung nicht gewachsen. Nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen mangelt es an dringend benötigtem Sauerstoff, Beatmungsgeräten und Klinikbetten. Syrien steht ein wohl ein besonders harter Winter bevor.