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In Polen wird jetzt die Demokratie verteidigt. Präsident Joe Biden bei Soldaten der 82. Luftlande-Division im Karpatenvorland.
© Evelyn Hockstein/REUTERS

US-Präsident Biden in Polen: Eine Reise für die Geschichtsbücher

Polen hofft auf einen historischen Moment wie bei den Auftritten Kennedys und Reagans in Berlin. Und auf die Zusage, dauerhaft mehr US-Soldaten zu stationieren.

Polen ist im Amerika-Rausch. Die historischen Vorbilder, an denen die Medien den zweitägigen Besuch Joe Bidens messen, sind, erstens, John F. Kennedys Auftritt im eingeschlossenen Westteil Berlins 1963, zwei Jahre nach dem Mauerbau, mit dem als Schutzversprechen verstandenen Satz „Ich bin ein Berliner.“

Und, zweitens, Ronald Reagans Rede am Brandenburger Tor 1987 mit der prophetischen Forderung: „Mister Gorbatschow, tear down this wall!“ Zwei Jahre später fiel die Mauer.

Am Samstag wird Biden im Innenhof des Warschauer Stadtschlosses eine historische Rede halten. Unter freiem Himmel wie die berühmten Vorgänger, stimmen Polens Zeitungen und TV-Sender die Bürger unter Berufung auf das Weiße Haus ein.

Die Grenze zwischen Ost und West habe sich im Vergleich zum Kalten Krieg um 600 Kilometer nach Osten verschoben, „aber die Herausforderung ist die gleiche“, schreibt „Rzeczpospolita“.

Pathos, Beistand, Beschwörung von Freiheit und Demokratie

An Pathos, Freiheitswille und Beistandszusagen werde es in Bidens Rede nicht fehlen. Sie soll von der „geeinten Front, die die freie Welt zur Unterstützung des ukrainischen Volks bildet“, handeln, von der Entschlossenheit, „Russland für die brutale Kriegsführung zur Verantwortung zu ziehen“, und der „Verteidigung einer Zukunft, die ihre Wurzeln in demokratischen Prinzipien hat“.

Einen Moment für die Geschichtsbücher erwartet Polen von Bidens Rede in Warschau am Samstag, ähnlich John F. Kennedy 1963 in Berlin: "Ich bin ein Berliner."
Einen Moment für die Geschichtsbücher erwartet Polen von Bidens Rede in Warschau am Samstag, ähnlich John F. Kennedy 1963 in Berlin: "Ich bin ein Berliner."
© picture alliance/Heinz-Jürgen Göttert/d

Polen sieht sich als Zentrum der tätigen Ukrainehilfe. Kein anderes Land hat mehr Flüchtlinge aufgenommen. Durch keinen anderen Nachbarstaat werden mehr Waffen für den ukrainischen Widerstand geschleust – auf öffentlich nicht bekannten Wegen, um russische Angriffe nicht zu provozieren.

Nach dieser Lesart steht der Besuch in Polen für den wahren Gehalt der Europareise des US-Präsidenten. Die ersten beiden Tage in Brüssel bei den ineinander übergehenden Gipfeln von Nato, G7 und EU waren der institutionell unumgängliche, aber abstrakte Teil.

Man beriet über das weitere Vorgehen, erklärte den Einsatz von Atomwaffen oder chemischen Kampfstoffen durch Russland zu einer „roten Linie“, auf die noch härtere Sanktionen folgen. Und Biden versprach, Europa mehr Flüssiggas als Ersatz für russisches Erdgas zu liefern und 100.000 Kriegsflüchtlinge aufzunehmen.

In Polen kommt Biden dem Krieg zum Anfassen nah

In Polen kommt Biden dem Krieg in der Ukraine und seinen Folgen zum Anfassen nahe. Am Freitagnachmittag besuchte er mit Polens Präsident Andrzej Duda ein Aufnahmezentrum für Kriegsflüchtlinge in Rzeszow, einer Großstadt mit 183.000 Einwohnern, Universität und einem Airport für Flugzeuge der Größe der „Air Force One“ 90 Kilometer vor der Grenze zur Ukraine.

Polen hat bisher 2,2 Millionen Flüchtlinge aufgenommen, annähernd zehn Mal so viele wie Deutschland, das jedoch mehr als doppelt so viele Einwohner hat und die sechsfache Wirtschaftskraft.

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Doch bevor Biden und Duda die Hilfsbereitschaft loben können, muss das Programm geändert werden. Die polnische Präsidentenmaschine hat technische Probleme, muss notlanden und nach Warschau zurückkehren. Dann fliegt Duda mit einem Ersatzflugzeug erneut Richtung Rzeszow. So wird Bidens Besuch bei US-Truppen vorgezogen.

Erst danach geht es zu den Flüchtlingen und ihren polnischen Helfern. Bürger, die Ukrainer in ihren Privatwohnungen beherbergen, und zivilgesellschaftliche Initiativen tragen die Hauptlast der Hilfe.

Lob der Flüchtlingshilfe, mit Vertretern von Regierung und Opposition

Am Samstag wird Biden ein weiteres Mal diese großzügige Unterstützung hervorheben. In Begleitung Dudas und des Oberbürgermeisters von Warschau, Rafal Trzaskowski, der Präsidentschaftskandidat der Opposition gegen Duda war, will der US-Präsident im Nationalstadion Flüchtlinge treffen.

Die stehen dort für die Zuteilung einer „Pesel“ an: der in Polen üblichen persönlichen Identifikationsnummer, die ihnen den gleichen Zugang zu medizinischer Versorgung, Sozialleistungen und Plätzen für ihren Nachwuchs in Kindergärten und Schulen gibt, wie polnischen Bürgern.

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Ein Termin zwischen Bidens Ankunft in Rzeszow und der Rede in Warschau liegt dem Gast wie den Gastgebern besonders am Herzen. Der Besuch bei US-Truppen im Gastland darf bei keiner Präsidentenreise fehlen.

Polen möchte, dass davon ein Signal ausgeht. Die 82. US-Luftlandedivision im östlichen Karpatenvorland gehört zu den Einheiten, mit denen die Nato den Schutz der Ostflanke vom Baltikum im Norden bis Rumänien im Südosten in den Wochen seit Beginn des Kriegs verstärkt hat: auf nun 40.000 Mann. Ein Viertel davon entfällt auf Polen.

Hoffnung auf zwei US-Divisionen als dauerhafte Militärpräsenz

In Warschau hofft man, dass diese Verstärkung von Dauer ist und weiter ausgebaut wird. Beim Gipfel in Madrid im Juni solle das Bündnis die freiwillige Selbstbeschränkung aufheben, die es sich bei Abschluss der Nato-Russland-Grundakte 1997 auferlegte, fordert der Leiter des Büros für nationale Sicherheit, Pawel Soloch. Es gehört zu Dudas Präsidialamt.

Damals erklärte die Nato, um Russland im Geiste der erhofften neuen Partnerschaft entgegenzukommen, sie plane keine größeren Truppenkontingente in den östlichen Mitgliedsländern dauerhaft zu stationieren. Sie werde dort auch keine größere Infrastruktur wie zum Beispiel regionale Hauptquartiere aufbauen – freilich unter der Bedingung, dass sich die Sicherheitslage nicht ändere.

Die habe sich nun aber fundamental gewandelt, sagt Soloch. Russland habe der Absichtserklärung mit dem Angriff auf die Ukraine die Grundlage entzogen.

Ähnlich argumentiert die Opposition. „Dies ist ein guter Moment, um das amerikanische Kontingent in Polen auf 30.000 Soldaten zu erhöhen, die Luftabwehr auszubauen und ständige Militärbasen sowie Magazine für schwere Waffen einzurichten“, sagt Tomasz Siemoniak, Verteidigungsminister bis zum Wahlsieg der nationalpopulistischen PiS 2015.

„Das entspricht dem traditionellen polnischen Wunsch nach zwei Divisionen.“ Die seien die Obergrenze im Stationierungsvertrag mit den USA.

Das Verhältnis der Präsidenten ist belastet, Duda hofierte Trump

Der Krieg hat die politischen Konfliktlinien dramatisch verändert. Das lässt sich am Umgang von Biden und Duda ablesen. Ihr Verhältnis ist belastet. Duda pflegte gute Beziehungen zu Vorgänger Donald Trump.

Biden warnte die PiS vor ernsten Konsequenzen, wenn sie Ungarns Premier Viktor Orbán nacheifere und Stützpfeiler der Demokratie, wie freie Medien und die Unabhängigkeit der Justiz, zerstöre. Und nun will Biden ausgerechnet in einer Rede in Warschau eine Zukunft beschwören, die ihre Wurzeln in den Prinzipien der Demokratie habe?

Plötzlich Verbündete: Zu Polens Präsidenten Andrzej Duda hat Joe Biden ein gespanntes Verhältnis. Der hofierte vorher Donald Trump.
Plötzlich Verbündete: Zu Polens Präsidenten Andrzej Duda hat Joe Biden ein gespanntes Verhältnis. Der hofierte vorher Donald Trump.
© Evelyn Hockstein/REUTERS

Das Weiße Haus erklärt den engen Schulterschluss Bidens mit Duda mit drei Faktoren. Polens Gastfreundschaft für Kriegsflüchtlinge und Unterstützung bei der Waffenhilfe für die Ukraine sei wichtig.

Und Präsident Duda habe sich bei zwei zentralen Konflikten gegen die PiS gestellt. Mit seinem Veto habe er verhindert, dass die PiS dem Oppositionssender „tvn 24“ die Sendelizenz entzieht. Mehrheitseigner ist der US-Konzern Discovery. Und Duda hat die Auflösung der umstrittenen Disziplinarkammer für Richter zugesagt.

Grenzen der Solidarität der USA mit Polen

Parallel setzt Biden der Solidarität mit Polen Grenzen. Auf Warschaus Forderung, die Nato müsse Befriedungstruppen in die Ukraine schicken, falls Russland chemische Kampfstoffe einsetze, geht er nicht ein.

Zuvor hatte er es abgelehnt, Polen bei der Lieferung von MiG- Kampfflugzeugen an die Ukraine zu helfen. Die ukrainische Luftwaffe ist auf diesen Maschinen geschult. Polen stellt kontinuierlich auf US-Jets um und kann die MiG’s abgeben. Doch als Putin mit Angriffen auf solche Waffenhilfe drohte, wollte Warschau das Risiko nicht eingehen und schlug vor, die Maschinen auf den US-Stützpunkt Ramstein in Deutschland zu überführen. Von dort könnten sie in die Ukraine fliegen.

Nach polnischem Kalkül werde Putin es nicht wagen, einen US-Stützpunkt in Deutschland anzugreifen. Biden lehnte ab. Er will keinen direkten Konflikt mit russischen Streitkräften riskieren. Denn daraus könne ein Weltkrieg werden.

Da stoßen auch die polnischen Sehnsüchte nach Pathos, Freiheitsbeschwörung und Waffenbrüderschaft mit den USA an ihre praktischen Grenzen.

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