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Seit mehr als sieben Jahren herrscht Krieg in Syrien.
© Sergei Grits/AP/dpa

Assads Offensive in Idlib: Die letzte große Schlacht im Syrienkrieg

Den Rebellen ist in Syrien nur die Provinz Idlib als Rückzugsgebiet geblieben. Assads Regime will die Region jetzt zurückerobern – und plant schon für die Nachkriegszeit.

Spätestens seit vor einigen Tagen Tausende Flugblätter aus Hubschraubern auf sie herab flatterten, wissen die Menschen in der nordsyrischen Provinz Idlib, was ihnen bevorsteht. „Der Krieg neigt sich seinem Ende zu“, war auf den Zetteln zu lesen, wie Aktivisten berichten.

Und: Nun sei die Zeit der Versöhnung gekommen. Doch gemeint ist das Gegenteil. Die syrische Regierung ließ die Bewohner von Idlib mit der Luftpost wissen, dass eine Großoffensive der Armee bevorsteht. Truppen wurden zusammengezogen und erste Luftangriffe geflogen, die Großoffensive somit vorbereitet.

Im seit 2011 tobenden Konflikt beginnt damit wohl die letzte große Schlacht. Das heißt, die Menschen müssen mit Dauerbombardements, Attacken auf Einrichtungen wie Schulen oder Kliniken und einer Hunger-Blockade rechnen. Der verbliebene Zufluchtsort der Gegner von Baschar al Assad soll aufhören zu existieren, die Bastion des Widerstands ausgelöscht werden.

Aber das Regime und seine Verbündeten sind bereits einen Schritt weiter: Russland denkt über den Wiederaufbau des zerstörten Landes nach – und will den Westen zur Kasse bitten.

Idlibs Bedeutung

Den Regierungseinheiten ist es mit massiver militärischer Unterstützung durch Iran und Russland in den vergangenen Monaten gelungen, viele der verloren gegangenen Gebiete wieder zurückzuerobern. Aleppo, Homs, Ost-Gouta, Daraa – nach und nach hat die Opposition ihre Hochburgen verloren. Jetzt soll das ländlich geprägte Idlib an der Reihe sein, das letzte große Gebiet, in dem Regime-Gegner noch das Sagen haben.

Alle Feinde an einem Ort versammelt – dafür hat Assad selbst gesorgt. Seit dem Fall von Aleppo sind die Besiegten immer wieder vor die Wahl gestellt worden: Entweder ihr bleibt und schwört der Rebellion ab. Oder ihr werdet zwangsweise nach Idlib abtransportiert. So landeten abertausende Familien unfreiwillig im Norden des Landes.

Aber Assad hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass dies kein Dauerzustand sein wird, den er hinnehmen könnte. Mehrfach erklärte der Diktator, er werde das „Terrorproblem“ in ganz Syrien lösen. Dass Idlib eigentlich eine sogenannte Deeskalationszone ist, also dort die Waffen ruhen sollen, kümmert den Herrscher wenig.

Gouta, Daraa und Homs sind ebenfalls Regionen, in denen formal eine Feuerpause gilt. Dennoch schreckte Assad nicht davor zurück, so gnadenlos wie erfolgreich auf die militärische Karte zu setzen. In Idlib dürfte sich das wiederholen. Mit allen schlimmen Konsequenzen.

Assads Gegner

Idlib ist ein Symbol des Widerstands. Mehr als zwei Millionen Menschen leben dort heute. Die Hälfte von ihnen stammt aus anderen Teilen des Landes. Die Menschen haben in der Provinz Zuflucht gefunden oder wurden dorthin vertrieben. Die meisten von ihnen kommen ohne humanitäre Hilfe nicht über die Runden. Neben einfachen Familien, die zu Opfern des Herrschers wurden, sind das Aktivisten, Lehrer und Ärzte – also meist Zivilisten.

Aber Idlib gilt ebenfalls als Terrornest und Bastion militanter Islamisten. Zu Recht. Tausende Extremisten haben sich dort versammelt. So wird die Provinz weitgehend von der Dschihadistentruppe Hayat Tahrir al Scham (HTS) dominiert, ein Milizenbündnis unter Führung früherer Al-Qaida-Kämpfer. Doch nach wie vor kommt es zu Gefechten mit anderen extremistischen Gruppen. Die Rivalitäten sind sehr ausgeprägt.

Dennoch wird der Vormarsch in Idlib für Assads Einheiten alles andere als ein militärischer Spaziergang. Vielmehr rechnen Beobachter mit erheblichen Verlusten auf beiden Seiten. Vom Leid der Zivilisten ganz abgesehen. Auf die nimmt keine Kriegspartei Rücksicht.

Die Not der Vertriebenen

Beobachter sind sich einig: Die Schlacht um Idlib wird wohl nochmals sehr viele Menschen zur Flucht zwingen. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass zwischen 250.000 und 700.000 Menschen ihre Heimat verlieren könnten. Dies wäre eine der größten kriegsbedingt verursachten Flüchtlingswellen.

Es gibt noch dramatischere Schätzungen. Demnach könnten mehr als zwei Millionen Einwohner gezwungen sein, ihre Häuser zu verlassen und sich Richtung Türkei aufzumachen. Nur: Keiner will die Syrer haben. Schon gar nicht ohnehin schon völlig überforderte Nachbarstaaten wie der Libanon. Und die Grenze zur Türkei ist längst dicht. Das Land schultert bereits mit 3,5 Millionen Flüchtlingen eine Hauptlast.

Auch in Europa ist keine Regierung mehr willens, Schutzsuchende aufzunehmen. Assad will gleichfalls nichts von jenen wissen, die gegen ihn rebellieren oder mit dem Aufstand sympathisieren. General Jamil Hassan, berüchtigter Geheimdienstchef der syrischen Luftwaffe, soll vor Kurzem gesagt haben: Ein Syrien mit zehn Millionen regierungstreuen Menschen ist besser als ein Syrien mit 30 Millionen Terroristen. Nach Versöhnung klingt das nicht.

Erdogans Interessen

Der Großangriff auf Idlib dürfte sich nicht zuletzt wegen der Rolle der Türkei schwieriger gestalten als Offensiven in anderen Teilen Syriens. Ankara hat in Idlib zwölf Beobachtungsposten aufgebaut und rund 1000 Soldaten stationiert. Pro-türkische Milizen und ein Teil der Bevölkerung hoffen, dass Recep Tayyip Erdogans Soldaten sie gegen Assad, die Russen und die Iraner beschützen werden. Die UN rufen Ankara auf, im Ernstfall trotz der geschlossenen Grenze die Tore für Flüchtende zu öffnen. Doch die Regierung hat offenbar andere Pläne.

Präsident Erdogan deutete in den vergangenen Tagen an, dass türkische Truppen weitere Gebiete im südlichen Nachbarland unter ihre Kontrolle bringen könnten, um Syrern eine Zuflucht zu bieten. Seit 2016 hat Ankara dies bereits in zwei anderen Gegenden Nordsyriens vorexerziert: in Afrin, einer Nachbargegend von Idlib, und im weiter östlich gelegenen Jarablus.

Dort sind nach türkischen Regierungsangaben inzwischen mehrere hunderttausend Syrer angesiedelt worden, die vor dem Krieg in die Türkei geflohen waren. Das sichert Einfluss und ärgert den Despoten in Damaskus. Die einstigen Freunde Erdogan und Assad gelten inzwischen als Intimfeinde.

Russlands Interessen

Neue türkische Vorstöße in Syrien würden allerdings bei Russland auf heftige Kritik stoßen. Und inmitten der Krise in den Beziehungen zu den USA dürfte Erdogan kein Interesse an einem Krach mit Moskau haben. Ankara ist nach eigenen Angaben mit Moskau im Gespräch, um eine Lösung für Idlib zu finden.

Medienberichten zufolge versucht die Türkei bisher vergeblich, die Terrortruppe HTS aufzulösen, um den Großangriff auf Idlib zu verhindern oder zumindest mehr Zeit zu gewinnen. Russland soll den Türken dazu eine Frist bis September gesetzt haben. Länger warten will der Kreml nicht.

Terroristen der Gruppe Hayat Tahrir al Scham bereiten sich auf den Angriff vor.
Terroristen der Gruppe Hayat Tahrir al Scham bereiten sich auf den Angriff vor.
© Omar Haj Kadour/AFP

Denn unter den Kämpfern in Idlib befinden sich Dschihadisten aus dem Kaukasus und Tschetschenien. Ihre Rückkehr in die Heimat soll unbedingt verhindert werden. Sollte sich die Türkei nicht an der Offensive gegen die Rebellen in Idlib beteiligen wollen, will Damaskus möglicherweise kurdische Kämpfer um Hilfe bitten – ein Albtraum für die Türken.

Während Ankara auf Zeit spielt, drückt Moskau aufs Tempo. Russlands Regierung ist daran gelegen, den Krieg so schnell wie möglich mit Assads Sieg zu beenden und die Rückkehr von Flüchtlingen einzuleiten, um sich als Nahost-Ordnungsmacht zu profilieren.

Berichten zufolge will Wladimir Putin die Wiederansiedlung von zwei Millionen Menschen bis zum Jahresende organisieren. Gleichzeitig soll dieser Prozess dem Assad-Regime neue Legitimität verleihen. Im September sind mehrere internationale Syrien-Konferenzen geplant.

Milliarden für den Wiederaufbau

Die Flüchtlinge spielen für Putin und Assad bei der Vorbereitung auf die Zeit nach den militärischen Auseinandersetzungen eine Schlüsselrolle. Moskau weiß, dass dieses Problem für den Westen seit der Massenankunft von Syrern in Deutschland und anderen westeuropäischen Staaten vor drei Jahren der wichtigste Aspekt des Konflikts ist.

In einem Brief an den US-Generalstab schlug das russische Militär deshalb im Juli die Bildung gemeinsamer Ausschüsse in Jordanien und Libanon vor, die sich um die Flüchtlingsrückkehr kümmern sollten. In diesem Kontext wies Moskau auf die Notwendigkeit internationaler finanzieller Hilfe hin, weil Syriens Regierung nicht genug Geld habe, um landesweit annehmbare Lebensbedingungen zu schaffen. Bisher lehnen westliche Staaten eine Beteiligung am Wiederaufbau ab, solange Assad im Präsidentenpalast bleibt.

Amerika und Europa weisen dem Staatschef die Hauptverantwortung für den Krieg zu, in dem grob geschätzt eine halbe Million Menschen getötet und zwölf Millionen Syrer vertrieben wurden. Ein Krieg, durch den Russland wie Iran großen Einfluss in Nahost gewonnen haben. Dennoch versucht Moskau, den Westen mit ins Boot zu holen.

Die UN und Experten gehen von Kosten für den Wiederaufbau Syriens in Höhe von 250 Milliarden Dollar aus. Wenn es nach Russland geht, soll der Westen einen großen Teil dieser Summe aufbringen. Das wird Putin wohl auch bei seinem Treffen mit Angela Merkel am heutigen Samstag zum Thema machen. Im Grunde wolle Moskau, dass „EU und USA für die Zerstörungen bezahlen, die Putin und Assad in Syrien angerichtet haben“, kommentiert Zaher Sahloul, ein syrisch-amerikanischer Aktivist und Kritiker der syrischen Regierung.

Syriens Zukunft

Militärisch läuft es darauf hinaus. Die Opposition – Islamisten wie gemäßigtere Kräfte – haben dem Regime und seinen Verbündeten nichts mehr entgegenzusetzen. Ihre Niederlage war im Grunde vorgezeichnet, als der Krieg im Herbst 2015 eine entscheidende Wendung nahm.

Damals griff Russland zugunsten seines Schützlings Assad ins Kampfgeschehen ein. Seitdem sind die syrischen Streitkräfte wieder auf dem Vormarsch. Es besteht auch kein ernsthafter Zweifel, dass die Aufständischen in Idlib bald am Ende sein werden. Wer als Kämpfer die Schlacht übersteht, wird wohl in den Untergrund gehen und sich auf Guerillataktiken verlegen. Die Macht Assads dürfte das nicht sonderlich gefährden.

Was bleibt sind die Verheerungen. Weite Teile des Landes liegen in Trümmern. Noch hat das Regime kein sichtbares Interesse gezeigt, von sich aus mit dem Wiederaufbau zu beginnen. Viele Regionen sind nach wie vor Notstandsgebiete. Die Zahl derer, die in ihre Heimatdörfer zurückkehren, ist noch recht überschaubar.

Doch der Schaden geht weit über das Materielle hinaus. Viele Menschen fürchten die Willkür des Regimes, haben Todesangst vor Repressalien. Sie wissen, wozu die Herrschenden fähig sind, und dass es keinen Wandel geben wird. Nach mehr als sieben Jahren Krieg heißt das: Syrien wird wohl zur Tagesordnung übergehen. Trotz allen Leids, trotz aller Not.

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