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Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag.
© dpa

Hans-Peter Kaul in seinem letzten Interview: "Deutschland hat sich von der amerikanischen Bevormundung gelöst"

Der Wahlberliner Hans-Peter Kaul war der erste deutsche Richter am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Er spricht über Wladimir Putin, die neue Chefanklägerin und über "irrsinnige Argumentation" auch im Auswärtigen Amt.

Hans-Peter Kaul gehörte zu den Initiatoren des Weltstrafgerichts. Der Wahl-Berliner war der einzige deutsche Richter in Den Haag. Vor zwei Wochen starb er, in den Wochen zuvor sprach er mit dem Tagesspiegel. Ein politisches Vermächtnis.

Der internationale Strafgerichtshof (IStGH) existiert jetzt seit fast zwölf Jahren. Was hat er Ihrer Meinung nach in dieser Zeit erreicht?

Die Bilanz ist gemischt, aber es bleibt als ganz großes Positivum, dass es 1998 in Rom gelungen ist, das erste Weltstrafgericht in der Geschichte der Menschheit zu etablieren. Der Strafgerichtshof ist wie ein Leuchtturm, der jeden Tag das Signal aussendet, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression sind verboten. Wer auch immer, welcher politische und militärische Führer dies missachtet, riskiert theoretisch, vor dem Strafgerichtshof zu landen. Dafür steht das Kürzel IStGH heute.

Der Strafgerichtshof sollte abschreckend und vorbeugend wirken. Aber wir haben die Fälle Syrien, Südsudan und viele weitere blutige Konflikte. Bleibt der Gerichtshof hinter den Erwartungen zurück?
Die abschreckende Wirkung von Strafgerichten, auch nationalen, auf die Bevölkerung ist sehr schwer zu messen.

"Das Gericht ist unvollständig"

Dann lassen Sie es mich anders ausdrücken. Kritiker bemängeln, das Gericht sei bisher zu zahm geblieben und stelle für die Verbrecher dieser Welt keine wirkliche Gefahr dar. Haben sie recht?
Das Gericht ist unvollständig und strukturell schwach. Jedes Strafrechtssystem hat drei Elemente: Erstens das materielle Strafrecht, die Taten. Zweitens das Gericht und die Richter. Und drittens das Vollzugssystem, die Polizei und die Staatsanwaltschaft. Beim Strafgerichtshof ist dieses dritte Element schwach ausgebildet. Man hat ihm keine wirklichen Zwangsmittel geben wollen und stattdessen die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, mit dem Gericht zu kooperieren. Tatsächlich nehmen die Staaten diese Verpflichtung aber nur selektiv wahr, das heißt, sie handeln, wenn es ihren Interessen entspricht. Sie überstellen auch mit internationalem Haftbefehl Gesuchte nicht, obwohl sie das müssten, wie der Fall des Präsidenten Omar al Baschir im Sudan gezeigt hat. Selbst Vertragsstaaten wie Nigeria, Kenia oder Malawi, wo sich Baschir zwischenzeitlich aufgehalten hatte, haben ihn nicht nach Den Haag ausgeliefert. Das ist eine strukturelle Schwäche des Gerichts, mit der wir notgedrungen leben müssen.

Haben Sie die Hoffnung, dass hier eines Tages nachgebessert wird?
Hoffnung ja, aber keine konkreten Hinweise, dass das in naher Zukunft geschehen könnte.

Hans-Peter Kaul.
Hans-Peter Kaul.
© picture alliance / Sueddeutsche

Hat das Gericht trotz dieses „Geburtsfehlers“ überhaupt einen Sinn?
Auf jeden Fall. Wir haben heute 122 Mitgliedstaaten und arbeiten Stück für Stück weiter. Das Gericht ist mit Verbrechen in der Demokratischen Republik Kongo befasst, in Uganda, der Zentralafrikanischen Republik, Sudan, Libyen, Elfenbeinküste, um nur einige zu nennen. Ein gutes halbes Dutzend weiterer sogenannter „Situationen“ steht unter Beobachtung der Anklagebehörde, das ist eine Vorstufe zu eventuellen Ermittlungen, zum Beispiel in Afghanistan, Georgien, Honduras oder auf den Komoren.

Aber das Gericht ist nicht in Syrien oder der Ukraine tätig, zwei sehr aktuellen Fällen.
Syrien ist kein Mitgliedstaat, das heißt, hier könnten wir nur etwas unternehmen, wenn wir vom UN-Sicherheitsrat dazu aufgefordert würden. Davor möchte ich allerdings eindringlich warnen. Die internationale Gemeinschaft und alle Militärs dieser Welt trauen sich nicht nach Syrien rein, auch die Amerikaner mit ihrem riesigen Militärapparat nicht, aber Ermittlerteams des Strafgerichtshofs sollen in einen heißen Bürgerkrieg? Das wäre eine „mission impossible“ und eine zynische Art, den schwarzen Peter nach Den Haag zu schieben. Zum Glück ist jede Initiative in der Richtung bisher von den Russen oder Chinesen gestoppt worden im Sicherheitsrat. Natürlich werden in Syrien Riesenverbrechen begangen – aber bitte keine Überweisung nach Den Haag, nur weil dem Sicherheitsrat sonst nichts einfällt.

Was ist mit der Ukraine?
Auch die Ukraine ist kein Mitgliedstaat, hat aber für eine begrenzte Zeitspanne vom vergangenen November bis Februar die Zuständigkeit des Gerichts anerkannt. Da finden im Moment Vorermittlungen statt. Was am Ende rauskommt, lässt sich derzeit schwer beurteilen. Da ist noch nicht viel passiert.

"Von anti-afrikanisch kann keine Rede sein"

Die meisten Fälle verfolgt der Strafgerichtshof in Afrika. Deshalb sprechen manche von Siegerjustiz, andere sogar von Rassismus. Wie stehen Sie dazu?
Das Argument ist so wohlfeil und wird immerzu nachgeplappert. Meistens übrigens von Leuten, die dem Strafgerichtshof übel wollen. Der Präsident Sudans, Omar al Baschir, zum Beispiel hat seinen ganzen Propagandaapparat darauf getrimmt, zu verbreiten, der Strafgerichtshof sei, je nach Bedarf, eine anti-afrikanische oder anti-arabische Organisation. Dadurch wird das Argument nicht richtiger, das übrigens auch in Deutschland manche Journalisten und Publizisten ungeprüft übernehmen. Fakt ist: Die meisten Überweisungen kommen von afrikanischen Staaten selbst. Und obwohl hier doch angeblich Siegerjustiz betrieben wird, hat sich bisher kein einziger afrikanischer Staat vom Strafgerichtshof wegbewegt. Außerdem gibt es vier afrikanische Richter und eine afrikanische Chefanklägerin. Von anti-afrikanisch kann also keine Rede sein.

Aber es stimmt doch, dass derzeit ausschließlich afrikanische Fälle behandelt werden?
Das ist eine Momentaufnahme. Wenn es heute noch mal ein Jugoslawien geben würde, dann würden auch diese Fälle zu uns überwiesen.

Das heißt, eines Tages werden auch Westler vor dem Gericht stehen?
Ja, daran habe ich keinen Zweifel. Wenn sich irgendwo in Europa zum Beispiel ein neuer Slobodan Milosevic, der ehemalige Präsident Serbiens, aufbauen sollte, wofür es derzeit zum Glück keine Anzeichen gibt, dann kommt er nach Den Haag.

Die USA stehen dem Gerichtshof skeptisch gegenüber

Die Niederlande haben dem Internationalen Strafgerichtshof einen Teil des Gefängnisses in Scheveningen zur Verfügung gestellt.
Die Niederlande haben dem Internationalen Strafgerichtshof einen Teil des Gefängnisses in Scheveningen zur Verfügung gestellt.
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Die USA stehen dem Gerichtshof seit der entscheidenden Konferenz von Rom 1998 skeptisch gegenüber, haben ihn mal aktiv bekämpft – wie unter dem damaligen Präsidenten George W. Bush – oder pflegen eine freundliche Distanz – wie unter dem aktuellen Präsidenten Barack Obama. Sie haben aber immer klargemacht, dass Den Haag ein „Gericht für Andere“ sei, Amerikaner dort nie verurteilt werden würden. Gilt das immer noch?
Absolut. Für sie darf kein amerikanischer Staatsbürger anderswo verfolgt und bestraft werden als in den USA. Die Wahrheit ist, die Amerikaner missachten den Grundsatz: Gleichheit vor dem Recht, gleiches Recht für alle. Etwa die Hälfte der amerikanischen Bundesstaaten hat sogar ein Gesetz, das seinen Richtern verbietet, Völkerrecht anzuwenden. Das ist eine lächerliche Position. Zahlreiche Gouverneure und Regierungen sind auch noch stolz darauf und brüsten sich damit, für ihre Bürger nur amerikanisches Recht anzuwenden.

Ist damit völlig ausgeschlossen, dass auch US-Bürger, selbst wenn sie schlimme Verbrechen begangen haben, vom internationalen Strafgerichtshof abgeurteilt werden?
Nein, ist es nicht. Wenn die Amerikaner eines Tages auf dem Gebiet eines Vertragsstaates wüten, wie sie es im Irak getan haben, dann riskieren sie ein Verfahren in Den Haag, wenn sie nicht selbst ermitteln. Den Irakkrieg halte ich im Übrigen für ein Verbrechen der Aggression. Ich habe mich im Auswärtigen Amt sehr dafür eingesetzt, dass Deutschland diesen Irak- Irrsinn nicht mitmacht. Ein Krieg, der auf nichts als Lügen gebaut war.

Wäre es denkbar, dass die für den Irakkrieg Verantwortlichen aus den USA eines Tages abgeurteilt werden?
Das ist ausgeschlossen, weil der Irak auch nicht Mitgliedsstaat war. Aber bei künftigen Fällen wäre es denkbar. Je mehr Länder dem Strafgerichtshof beitreten und je mehr den Zusatz zum Verbrechen der Aggression ratifizieren, desto höher natürlich die Wahrscheinlichkeit. Deshalb war es ja so wichtig, gegen den Willen der Amerikaner das Territorialprinzip nach Artikel 12, Absatz 2 damals ins Römische Statut zu bringen. Es genügt nun, wenn der Staat, in dem die Verbrechen passiert sind, Mitglied des IStGH ist. Das heißt, der Angeklagte kann auch aus einem Nichtvertragsstaat, etwa den USA, kommen. Wir als Deutsche – und ich persönlich – haben damals sehr für diesen Passus gekämpft. Ohne ihn wäre das Gericht wirklich ein zahnloser Tiger.

"China wird dem Gerichtshof vor den USA beitreten"

Die Obama-Regierung hat sich im Unterschied zum Vorgänger deutlich freundlicher über den Gerichtshof geäußert. Halten Sie einen Beitritt in näherer Zukunft für möglich?
Dafür sehe ich eigentlich keine Chance. Dazu wären zwei Drittel der Stimmen im Senat nötig. Das sind 67. Obama kriegt für die Gesundheitsreform kaum 51 Stimmen zusammen. Beobachter in Washington schätzen, dass es sechs bis acht Senatoren gibt, die mit ja votieren würden. Nein, darauf brauchen wir erst mal nicht zu hoffen. Aber wir können darauf hoffen, dass sich stetig mehr Staaten dem Gericht unterwerfen. Wir haben 122 heute, in zehn, zwanzig Jahren können es 130 oder sogar 135 sein.

Die USA haben immer wieder Stimmung gegen weitere Beitritte gemacht.
Wenn die Bush-Administration in den Jahren 2003 bis 2005 nicht diese massive Einschüchterungskampagne gegen beitrittswillige Staaten gefahren hätte, dann gäbe es heute wahrscheinlich 130 oder 140 Mitgliedstaaten, und wir wären sehr viel weiter. So sind es die besagten 122, zumal die Entwicklung im Moment stockt. Hinter den Kulissen wird versucht, weitere Staaten zu gewinnen, Länder wie Marokko oder Togo, Jamaika oder Haiti. Aber der Prozess ist mühsam. Trotzdem bin ich überzeugt, dass wir langsam, aber sicher, Schritt für Schritt immer mehr Mitglieder gewinnen und die internationale Strafgerichtsbarkeit Steinchen für Steinchen weiterbauen werden.

Es gibt außer Amerika noch andere große Staaten, die bisher fern geblieben sind. Indien, Pakistan, aber auch China und Russland, um nur einige zu nennen. Sehen Sie da irgendeine Bewegung?
Meine Prognose ist, dass China eines Tages vorangehen und vor Amerika beitreten wird. Dafür gibt es eine Reihe Hinweise: Erstens haben mehrere chinesische Universitäten mit staatlicher Billigung internationales Strafrecht in ihr Curriculum aufgenommen. Außerdem hat mich die chinesische Regierung bereits 2003 nach Peking eingeladen, ins offizielle Gästehaus der Regierung übrigens. Damals wurde mir signalisiert, dass die Chinesen interessierte Beobachter seien und sich als Freunde des Gerichts betrachteten. Man verfolge zehn bis fünfzehn Jahre lang eine Politik des „wait-and- see“. Wenn das Gericht dann ordentlich arbeite und keine politisch motivierten Strafverfolgungen unternehme, könne man sich überlegen, beizutreten. Diese Äußerung ist seither mehrfach von chinesischer Seite wiederholt worden.

"Putin, Putin, Putin, Putin"

Was ist mit Russland? Angesichts der Auseinandersetzung um die Ukraine ist doch kaum vorstellbar, dass Moskau sich in absehbarer Zeit internationaler Strafgerichtsbarkeit unterwirft.
Russland hat das Statut von Rom 1998 unterzeichnet, ist aber bis heute nicht beigetreten. Der Rechtsausschuss der Duma war dafür, doch mit dem Präsidenten Wladimir Putin sehe ich wenig Chancen – und das nicht nur wegen der Ukraine. Wenn ich Russen nach den Aussichten frage, sagen sie seit einigen Jahren: Putin, Putin, Putin, Putin. Solange er dran ist, wird sich nichts ändern.

Welche Signale erhalten Sie aus Indien und Pakistan? Indien hat den Gerichtshof ja immer wieder als Angriff auf seine Souveränität betrachtet.
Beide Staaten stehen dem Gerichtshof fern; da sehe ich in absehbarer Zeit wenig Spielraum.

"Chefanklägerin Fatou Bensouda hat gute Nerven"

Zurück zum Gericht selbst: Sie haben den früheren Chefankläger Luis Moreno-Ocampo einmal mit den Worten kritisiert, er führe sein Büro wie ein „argentinischer Großgrundbesitzer“. Inzwischen hat Fatou Bensouda aus Gambia den Posten übernommen. Hat sich die Lage damit gebessert?
Auf jeden Fall. Bei Fatou Bensouda ist ein Übergang zu weniger Öffentlichkeitsarbeit, aber zu größerer Professionalität feststellbar. Außerdem hat sie die nötige Festigkeit und Härte für den Job, der nebenbei bemerkt der schwierigste am ganzen Strafgerichtshof ist. Dafür braucht man gute Nerven. Man muss eine Art von Übermensch sein. Bensouda ist kein Übermensch, aber sie erfüllt alle Anforderungen ziemlich gut. Und sie ist vor allen Dingen für die innere Arbeitsatmosphäre heilsam, weil sie ein ausgleichendes, zuhörendes Temperament hat.

Hans-Peter Kaul.
Hans-Peter Kaul.
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Wie gut funktioniert die Zusammenarbeit zwischen den Richtern?
Die funktioniert, da sehe ich keine großen Probleme. Es hat sich in den Jahren allmählich eine Art von Korpsgeist entwickelt, der sehr wichtig ist für den Umgang miteinander.

Kommen wir zur Rolle Deutschlands. Wir galten als die stärksten Befürworter und Förderer von Den Haag, zumindest bei der Konferenz in Rom und in den Jahren danach. Wie ist die Situation heute? Fühlen Sie sich von Berlin ausreichend unterstützt?
Auch hier: gemischte Bilanz. Aufgrund unserer Geschichte haben wir als Deutsche eine besondere Nähe zur Idee internationaler Strafgerichtsbarkeit. Aber im Auswärtigen Amt kommen immer wieder die Realpolitiker zum Vorschein und äußern sich kritisch über Den Haag. Etwa bei Darfur. Wie kann man denn das Oberhaupt eines Staates, in dem wir dazu einen Botschafter haben, mit einem internationalen Haftbefehl belegen, fragen sie. Und diese irrsinnige Argumentation, der Gerichtshof verfolge nur arme kleine Afrikaner haben sich auch einige deutsche Diplomaten zu eigen gemacht

Wie sieht es mit der finanziellen Unterstützung aus?

17. Juli 1998: Der damalige UN-Generalsekretär feiert mit mehr als 100 Delegationen aus aller Welt die Verabschiedung des Römischen Statuts, dem Gründungsdokument für den Internationalen Strafgerichtshof.
17. Juli 1998: Der damalige UN-Generalsekretär feiert mit mehr als 100 Delegationen aus aller Welt die Verabschiedung des Römischen Statuts, dem Gründungsdokument für den Internationalen Strafgerichtshof.
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Wie sieht es mit der finanziellen Unterstützung aus?
Genauso. Bei den Haushaltsverhandlungen 2011 hat Berlin sich plötzlich für Nullwachstum, also für reale Kürzungen stark gemacht – und das bei gleichzeitig steigender Arbeitsbelastung in Den Haag. Das hat die Funktionsfähigkeit des Gerichts erheblich beeinträchtigt. Bei diesen Verhandlungen haben sich deutsche Diplomaten von den Briten instrumentalisieren lassen, für die den Frontmann gegeben und sogar Unterhändler des Gerichts beschimpft. Mit solchen Aktionen kann man sein Ansehen als Gerichtshofs-Unterstützer verspielen. Das Ganze war unserem Ruf absolut nicht zuträglich.

Sie sind für Berlin nicht immer bequem gewesen mit Ihren Positionen. Haben manche im Auswärtigen Amt vielleicht auch gedacht, da kommt wieder die Nervensäge Kaul?
Bestimmt. Aber das hat mich nicht weiter beeinträchtigt.

"Deutschland hat sich von der amerikanischen Bevormundung gelöst"

In Rom hat sich Deutschland offen gegen die USA gestellt. Wie bewerten Sie dieses Ereignis im Nachhinein?
Die Verhandlungen über das Rom-Statut waren die ersten bedeutenden Verhandlungen, bei denen Deutschland sich von der amerikanischen Bevormundung gelöst hat. Zum ersten Mal hat die deutsche Außenpolitik international souverän gehandelt. Insofern ist Rom auch ein entscheidender Schritt zur späteren ablehnenden Haltung im Irakkrieg. Und diese Entwicklung setzt sich fort. Nicht so sehr, weil sich Berlin von Washington absetzen will, sondern weil die USA so viele Fehler machen, vom Irakkrieg über Guantanamo bis zu den Spionen jetzt. Die Bereitschaft, ungeprüft amerikanische Positionen zu übernehmen, hat seither spürbar nachgelassen. Rom war der Beginn davon.

Wie haben Sie die Konflikte mit den USA persönlich empfunden?
Ich habe nichts gegen Amerika, habe in meiner Laufbahn viele Jahre in Washington und New York zugebracht, die zu den schönsten meiner Berufszeit gehören. Ich habe auch kein gebrochenes Verhältnis zu den USA, obwohl ich dem ehemaligen UN-Botschafter John Bolton nie die Hand schütteln würde, auch anderen Vertrauten von Bush, wie Donald Rumsfeld, Dick Cheney und Paul Wolfowitz nicht. Aber die Art, wie die Amerikaner als einzig verbliebene Supermacht internationale Verhandlungen dominierten, hat mir nicht gepasst. Ich konnte inhaltlich ihren Standpunkt nicht teilen, denn wir wollten, um dem Strafrecht internationale Geltung zu verschaffen, ein Gericht mit weitreichender Jurisdiktion und keine Feigenblattveranstaltung. Dafür habe ich in Rom gekämpft und dabei übrigens auch meine Karriere riskiert.

Inwiefern?
Der damalige US-Botschafter in Deutschland, der feine John Kornblum, hat auf der Höhe der Verhandlungen im Kanzleramt vorgesprochen. Außenminister Klaus Kinkel solle seinen verrückten Delegationsleiter aus Rom abziehen, hat er sinngemäß gesagt, und nach Sri Lanka oder Afrika entsenden. Er ruiniere die deutsch-amerikanischen Beziehungen. Daran hatte ich kein Interesse, aber ich wollte auch nicht gegen unsere Überzeugungen handeln.

Sie wurden nicht abgezogen …
Zum Glück hatte ich Freunde im Kanzleramt und Außenminister Kinkel und Justizminister Edzard Schmidt-Jortzig teilten inhaltlich meine Auffassung.

Welches Verhältnis haben Sie heute zu den USA?
Heute bin ich in Amerika ein gern gesehener, hoch angesehener Gast, obwohl ich in Rom und danach die amerikanischen Bemühungen konterkariert habe. Daraus schließe ich: Durch kuschen und mitmachen gewinnt man keinen Respekt. Sondern, indem man im Rahmen seiner Möglichkeiten die eigenen Positionen konsequent vertritt und auch den Amerikanern Widerworte gibt. Das sollten sich mal verschiedene deutsche Politiker hinter die Ohren schreiben.

Hans-Peter Kaul.
Hans-Peter Kaul.
© picture alliance / Sueddeutsche

Was meinen Sie damit genau?
Ich meine damit zum Beispiel die geplante Freihandelszone mit den USA. Ich habe große Sorge, dass sie sich negativ auf Europa auswirkt. Hoffentlich wird die Regierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel deutsche Interessen auch entschlossen wahrnehmen und nicht einfach alles unterschreiben, was die Amerikaner wollen.

"Der Gerichtshof existiert und wird immer existieren"

Sie haben fast zwanzig Jahre für dieses Gericht gekämpft, was hat Sie angetrieben?
Die Erlebnisse der unglaublichen, ich betone das ausdrücklich, der unglaublichen faktischen und moralischen Katastrophe, die Deutschland über die Welt und über sich selbst gebracht hat.

Sind Sie Pazifist?
Ja. Ich bin im Laufe meines Lebens ein Pazifist geworden, der nur in absolut äußersten Notfällen den Einsatz bewaffneter militärischer Gewalt tolerieren kann. Denn sie führt fast automatisch zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Es gibt keinen Militäreinsatz ohne Verbrechen.

Glauben Sie, dass es eines Tages so etwas wie ein weltumspannendes Strafrecht geben wird?
Der Gerichtshof existiert und wird immer existieren. Er ist Teil der internationalen Realität, die Welt hat sich an ihn gewöhnt. Aber er wird auch immer Stückwerk bleiben. Das hängt mit der Materie zusammen, die er bearbeitet – politische Verbrechen. Diejenigen, die politische Verbrechen begehen, müssen den Strafgerichtshof verteufeln und begrenzen. Andere versuchen, ihn für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, wie im Fall Syriens oder Libyens, missbrauchen ihn als Spielball ihrer Interessen. Das heißt, der Strafgerichtshof braucht engagierte Kämpfer und Befürworter, er ist absolut kein Selbstläufer. Hier sehe ich eine wichtige Aufgabe für die deutsche Außenpolitik; als Deutsche haben wir für den Strafgerichtshof eine besondere Verantwortung.

Mörder und Präsidenten. Der IStGH ist kein Selbstläufer, sagte der Richter Hans-Peter Kaul. Ein Überblick.

Friederike Bauer

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