Interview mit Richter am Internationalen Strafgerichtshof: „Es gibt keinen Krieg ohne Kriegsverbrechen“
Der deutsche Richter Hans-Peter Kaul am Internationalen Strafgerichtshof über die Konflikte in Afrika und Syrien, Gewalt gegen Frauen und Kinder und die Zukunft des ICC.
Die ganze Welt blickt auf Syrien, vor den Kameras der globalen Medienwelt werden Zivilisten massakriert, scheint ein Staat auseinanderzubrechen. Kann, wird der Internationale Strafgerichtshof ICC die Schuldigen anklagen?
Das haben jetzt schon viele, besonders in New York, gefordert. Aber im Sicherheitsrat, der die Situation in Syrien unserer Chefanklägerin für Ermittlungen überweisen könnte, gibt es unter den Veto-Mächten auch hierzu bisher keine Einigkeit. Und noch zwei Bemerkungen: absoluten Vorrang muss ein Waffenstillstand haben – solange gekämpft wird, wird auch gemordet, gefoltert, verstümmelt, werden offenbar schwerste Verbrechen begangen. Zweitens: bitte keine Syrien-Überweisung an den ICC als Ersatz dafür, dass der Sicherheitsrat sich auf kein wirklich gemeinsames Vorgehen, also auf nichts anderes einigen kann. Ermittlungen in Bezug auf einen andauernden bewaffneten Konflikt, bei dem womöglich beide Konfliktparteien die Arbeit der Ermittler entschieden ablehnen, wären wie bei der Darfur-Situation erneut unglaublich schwierig.
Seit zehn Jahren ist der Internationale Strafgerichtshof, global bekannt unter dem Kürzel ICC, jetzt tätig, Verfahren gegen Angeklagte aus acht afrikanischen Ländern wurden eröffnet, ein erstes Urteil ist gesprochen. Kritiker sehen Erwartungen an ein „Weltgericht“ enttäuscht. Könnte der ICC so etwas überhaupt sein?
Leider nur in einem Ausmaß, mit dem man nicht zufrieden sein kann. Der ICC wurde von Anfang an als universelles Gericht konzipiert, für alle Kontinente und alle Staaten. Zwar sind derzeit 121 Staaten aus allen Erdteilen Mitglied und die Tendenz ist steigend. Aber das ist nicht gut genug: die UN haben 193 Mitglieder, es fehlen China, USA, Russland, Indien. Arabische und asiatische Staaten sind unterrepräsentiert – da ist noch viel zu tun. Ich finde es allerdings ermutigend, dass das Kürzel ICC in nur zehn Jahren zu einem weltweit anerkannten Symbol, zu einer Art Leuchtturm dafür geworden ist, dass niemand, auch kein Staatsoberhaupt oder General, über dem Gesetz steht, dass Völkerverbrechen nicht straflos bleiben dürfen, ganz gleich welchen Rang oder welche Nationalität die Täter haben. Das ist die normsetzende Botschaft unseres „Weltgerichtes“ und die sollte man nicht unterschätzen. Außerdem kann man sich vorstellen, wie wenig diese Botschaft insbesondere solchen Machthabern gefällt, die weiterhin brutale, bewaffnete Gewalt als mögliches Mittel für ihre Ziele einkalkulieren …
Wenn Sie die Muster der Gewalt betrachten, um die es bisher geht – marodierende Milizen, Bürgerkriege und Warlords – haben Gesellschaften, in denen solche Taten entstehen, etwas gemein?
Ich bin Richter, kein Sozialwissenschaftler, und sage daher, in aller Vorsicht, nur so viel: Derzeit sieht man häufig, dass die betroffenen Staaten kein funktionierendes, unabhängiges Rechtswesen haben. Sie sind schwach, manchmal failed states, sie werden von brutalen, korrupten Machthabern aller Art dominiert, und sie weisen ganz erhebliche Demokratiedefizite auf. Ihnen fehlen wachsame Medien, sie haben keinen Begriff von einer mündigen Zivilgesellschaft. Das alles addiert ergibt die Symptome großer Tragödien, wie sie sich zum Beispiel in der Demokratischen Republik Kongo ereignen, ein an sich durch seine Bevölkerung und seine Ressourcen enorm reiches Land, das prosperieren, florieren könnte.
Diese Szenarien spielen sich in einer exotischen, tropischen Ferne ab, sie haben mit uns im Westen scheinbar nichts zu tun …
Als Deutsche sollten wir immerhin auch daran denken, dass vor gar nicht so langer Zeit Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und massenhafte Kriegsverbrechen von Deutschen, in deutschem Namen begangen wurden. Und als Europäer sollten wir im Sinn haben, dass in den 1990er Jahren erneut ähnliche Kernverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, in Europa, nur 1500 Kilometer von Berlin entfernt, begangen wurden, wenn auch unter anderen Bedingungen als in den derzeit acht betroffenen afrikanischen Staaten.
Was folgt daraus?
Vor allem, das ist jedenfalls meine Überzeugung, dass diejenigen, die heute in Frieden, Freiheit, Rechtssicherheit, in demokratischen Gesellschaften frei von Furcht leben dürfen, sich vehement für den Schutz elementarster Menschenrechte, auch international für mehr internationale Gerechtigkeit engagieren müssen. Hierfür gibt es viele Möglichkeiten, ein sehr bedeutsamer, zentraler Weg ist auch der Kampf gegen die Straflosigkeit schwerster Verbrechen.
Gibt es typische Alarmsignale, auf die die Weltgemeinschaft besser achten muss?
Das berührt komplexe Fragen, denen ich aber nicht ausweichen möchte. Aus meiner Sicht ist vor allem dann höchster Alarm angezeigt, wenn, erstens, bei Machthabern skrupellose Bereitschaft erkennbar ist, Gewalt aller Art einschließlich militärischer Gewalt einzusetzen; wenn, zweitens, ein Klima von Zynismus, Stumpfheit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Recht, dazu Duckmäuser- und Mitläufertum statt Zivilcourage vorherrscht. Drittens: Wenn die an der Macht befindliche Clique Beute, Reichtum und Vorteile aller Art wittert und unter sich verteilt. Kommen dazu noch nationale Überheblichkeit, ethnische Vorurteile und Intoleranz, dann ist allerhöchste Gefahr im Verzug. Wird dieser Geist einmal aus der Flasche gelassen, dann explodiert der Cocktail, dann sind Aggressionen und schwerste Verbrechen aller Art absehbar.
Wege zu einer zivilisierten Weltgesellschaft
Sehen Sie eine Korrelation zwischen dem Fehlen von Verboten der Gewalt gegen Frauen und Kinder und dem Eskalieren kollektiver Gewalt – ist das das Feld, auf dem Prävention in erster Linie ansetzen sollte?
Prävention im Strafrecht ist ein schwieriges Thema, national wie auch international. Im Grunde genommen müssen wir ein System von voll internalisierten rechtlichen und moralischen Normen anstreben, welche Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schwerste Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression – des Angriffskrieges gegen andere Staaten – in modernen Gesellschaften ächten, auf fundamentale Ablehnung stoßen lassen. Das sollte auch durch Erziehung von Kindesbeinen an geschehen. Wenn ich jedoch die tägliche Gewalt, ja Gewaltverherrlichung im Fernsehen oder anderswo anschaue, dann weiß ich, wie weit wir von diesem Ziel entfernt sind.
Aber es rückt näher?
Ja, jetzt kommt ausnahmsweise eine eher gute Nachricht: Nicht nur im Römischen Statut, dem Gründungsvertrag unseres Gerichtshofes, mit seinen vielen Strafverboten von Gewalt gegen Frauen und Kinder, sondern auch international sehe ich ein weltweit wachsendes Bewusstsein dafür, dass Frauen und Kinder besser geschützt werden müssen. Zugleich gehen die größten Risiken für gewaltsame Eskalationen nach meiner Erfahrung weiterhin von fragwürdigen, ja aggressiven Einsätzen bewaffneter Gewalt aus. Es gibt nicht einen einzigen Krieg ohne Kriegsverbrechen – und es ist ein besonderer Skandal, dass Frauen, Kinder und die Zivilbevölkerung regelmäßig die größten Opfer erleiden.
Nationale und „ethnische“ Egoismen führen wieder und wieder zum Aufflammen enthemmter Gewalt. Können Sie sich Wege zu einer zivilisierten Weltgesellschaft vorstellen?
Ja, ich bin, bei allem Realismus, ein fortschrittsgläubiger Mensch. Ich bin zum Beispiel überzeugt, dass die Deutschen die nationalsozialistischen Verbrechen niemals mehr verdrängen und vergessen werden, dass potenziell ähnlich gefährliche Entwicklungen weitestgehend gebannt sind – es ist mein ganz starker, innerer Wunsch, dass ich mich insoweit nicht irre. Es gibt viele attraktive Gesellschaftsmodelle, über die man nachdenken kann, von Kants Postulat des „Ewigen Friedens“ bis zu Jürgen Habermas’ postnationaler Konstellation und anderen.
Ist der ICC ein Meilenstein auf dem Weg zu solchen Utopien?
So schwach und unvollkommen der Internationale Strafgerichtshof heute noch sein mag, er war vor 20 Jahren selbst noch ein Traum, ja eine Utopie. Sicher, Fortschritte sind schwierig, Rückschläge möglich. Aber es gibt keine wirkliche Alternative. Wer die weiterhin starken Tendenzen zu sogenannter Realpolitik, zu Machtpolitik im traditionellen Sinn, mit ihren erheblichen Risiken für die Menschen, eindämmen will, der muss sich für die Herrschaft des Rechtes, für Frieden und Gewaltfreiheit einsetzen. Die Redeweise, wonach alle Anstrengung in diesem Sinn „nur ein Tropfen auf den heißen Stein“ ist, weil sich angeblich sowieso nichts ändere in der Welt, ist schlicht unreif und zynisch. Wer verantwortungsvoll denkt und handelt, darf das nicht akzeptieren.
In Ihrer Arbeit als Richter befassen Sie sich jetzt seit neun Jahren mit schwersten Verbrechen. Wie schützt man sich selber, wenn man mit derart viel Leid und Unrecht konfrontiert wird?
Diese Frage habe ich mir am Anfang der Arbeit gestellt. Ja, es kann schon sehr schwierig sein, besonders wenn ich mit Fotos oder Video-Aufnahmen von Opfern konfrontiert bin, oder mit persönlichen Schilderungen von schrecklichen Erfahrungen. Im Kenia-Verfahren musste ich zum Beispiel Videos anschauen, die dokumentierten, dass Anfang 2008 über 30 Opfer, meist Frauen und Kinder in einer brennenden Kirche umkamen; wer zu fliehen versuchte, wurde verstümmelt oder totgeschlagen. Jeder von uns muss da seinen eigenen Weg finden, wie er diese Eindrücke verarbeitet. Zum Beispiel Gespräche mit Kollegen, der Ehefrau oder Freunden oder einfach Nachdenken beim Spaziergang am Strand der Nordsee. Schon die Richter in Nürnberg 1945 und 1946 mussten ja mit schrecklichen Bildern und unmenschlichem Leid fertig werden. Es kommt noch etwas hinzu, was vielleicht merkwürdig klingt: Man kann als Ausgleich für das Schreckliche tatsächlich eine Art innerer Beruhigung empfinden, wann immer man sich vor Augen führt, dass die eigene Arbeit direkt zu ein bisschen mehr Gerechtigkeit beiträgt.
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