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Corona schränkt die natürliche Entwicklung von Pubertierenden ein, sagt der Psychiater Jakob Hein.
© imago/photothek

Psychiater Jakob Hein über die Pandemie: Corona schränkt natürliche Entwicklung Pubertierender massiv ein

Viele schimpfen auf die Jugend, der Psychiater und Schriftsteller Jakob Hein bittet um Verständnis für sie, denn Pubertät sei „ein Riesenprozess“.

Jakob Hein ist Schriftsteller und Psychiater, hat zwei Kinder und lebt in Berlin. Mit Kurt Krömer hat er den Podcast „Zwei Männer – drei Welten“ auf RBB gemacht, sein eigener Podcast heißt „Verrückt“. Wir haben mit ihm am Telefon gesprochen.                                                   

Es wird gerade viel geschimpft auf Jugendliche, weil sie angeblich nur im Kopf haben, Corona-Partys zu feiern…

Man muss da wirklich sehr aufpassen mit seinem Urteil. Kurz gesagt: Natürlich ist das jetzt gar nicht gut, wenn die sowas machen, aber ausführlich betrachtet, müssen wir vor allem erstmal verstehen, was bei Pubertierenden abläuft.

Was genau?

Pubertät heißt simpel ausgedrückt: Am Anfang steht ein Kind, am Ende ein Erwachsener. Das ist ja wie ein Wunder, das wir gar nicht sehen wollen, weil es nerven kann und ja auch wie selbstverständlich hingenommen wird. Doch dieser erwachsene Mensch am Ende hat wenig zu tun mit dem Kind, das er war. Und das genau passiert also, ein Riesenprozess, der alles auf den Kopf stellt, Körper wie Seele.

Es gibt also einen Grundkonflikt, den wir gar nicht ausräumen können?

Genau. Das Kind definiert sich zunächst aus seinen Eltern heraus, später, als Erwachsener definiert er sich aus sich selbst heraus. Dazwischen ist die Pubertät. Manche sind schon ganz doll erwachsen, um dann wieder schnell auch ein Kind zu sein. Diese Bedürfnisse ringen miteinander und lösen sich ab. Es geht aber in dieser Entwicklung darum, Autonomie zu gewinnen, diese Autonomie ist dann, wenn Sie so wollen, der Grundkonflikt, den wir Eltern oder Erwachsene nicht sehen oder nicht verstehen wollen. Und das gibt dann eben Streit.

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Könnte man zugespitzt sagen, Mädchen und Jungen sind aufgrund der Pandemie und den sozialen Beschränkungen in ihrer natürlichen Entwicklung eingeschränkt?

Ja, massiv eingeschränkt.

Was macht das im Alltag?

Unser Pandemie-Alltag ist gebaut auf Restriktion, Eltern sind die, die diese Restriktionen zu Hause vertreten und umsetzen müssen. Das widerspricht ganz stark der Entwicklungssituation der Jugendlichen. Denn sie lehnen sich automatisch gegen Autoritäten auf, wollen und müssen eigene Wege gehen, wollen Distanz haben, eigene Erfahrungen mit ihrer Gruppe und ihren Freunden machen, interessieren sich nur für sich und ihre Freunde. Kurzum: Zu Hause bleiben ist jetzt zwar richtig, nicht dass Sie mich falsch verstehen, aber es ist das genaue Gegenteil von dem, was die Jungs und Mädchen in diesem Alter gerade interessiert.

Jakob Hein, hier 2018 auf der Leipziger Buchmesse.
Jakob Hein, hier 2018 auf der Leipziger Buchmesse.
© Manfred Segerer/imago

Es ist aber zumutbar.

Ja, natürlich. Keine Frage. Für einen beschränkten Zeitraum ist das alles auch kein Problem. Aber wenn wir deren Verhalten beeinflussen wollen, dann müssen wir überhaupt erst einmal ein Verständnis entwickeln und nicht mit Kritik und pauschaler Beschimpfung reagieren.

Was wäre ein sinnvolles Gespräch?

Erst einmal Verständnis zeigen, dann mögliche Regeln gemeinsam besprechen. Beispielsweise sagen, das kommende Wochenende ist mal ein Versuch, unsere Regeln einzuhalten. Deals eingehen: Ich nerve dich nicht so oft wie sonst wegen der Internetzeit, du darfst dich aber nur mit einem, maximal zwei Freunden treffen, nur draußen, sonst gar nicht, auf Abstand, vielleicht zum kicken oder so, keine gemeinsamen Videos auf dem Handy. Es gibt keinen idealen Weg, wir müssen mutig sein, die Dinge auszuprobieren, müssen uns trauen, offen und ehrlich mit den Kindern zu sprechen, ihnen unsere Haltung erklären.

Was sollten wir vermeiden?

Zum Beispiel sollten wir auf keinen Fall, ich weiß, ich mache mir jetzt keine Freunde bei den Eltern, Schule eins zu eins simulieren. Das funktioniert gar nicht. Schule als Institution funktioniert doch auch aufgrund des sozialen Miteinanders, weil es da im besten Fall viele Freunde gibt, Gleichgesinnte eben. Das ist ja auch der Grund, warum jetzt schon viele Kinder und Jugendliche sagen, sie vermissen die Schule.

Keine Schule zu Hause?

Doch, doch. Jetzt nicht bewusst falsch verstehen, aber nochmal (lacht): Wenn ich mir jetzt ne‘ Jacke anziehe und den Mathelehrer mime oder dem Kind hundert Klebe-Zettel schreibe, um ihm schön straff seinen Stundenplan zu organisieren, dann muss sich doch jeder fragen, für wen mache ich das jetzt: Für mich selbst, weil ich die Angst habe, dass das Kind irgendwie den Anschluss verliert; oder wirklich für das Kind?

Schule ist nun mal auch Stress, oder?

Kurt Krömer (rechts) und Jakob Hein hatten einen gemeinsamen Podcast im RBB
Kurt Krömer (rechts) und Jakob Hein hatten einen gemeinsamen Podcast im RBB
© Saupe/rbb

Müssen wir deshalb jetzt den Leistungsstress auch noch erhöhen in einer Zeit, in der sich alle, auch die Kinder und Jugendlichen, Sorgen machen? Das ist nicht sinnvoll, weil es genügend Ängste gibt, die wir lieber gemeinsam angehen als zusätzlich Druck zu machen. Füreinander da sein sollten wir jetzt nur in einem empathischen, zugewandten, verständnisvollen Sinne.

Kein Streit?

Doch. Das bleibt nicht aus. Aber mit dem Verständnis für die Position des anderen. Konflikte austragen, aber möglichst ohne den anderen niederzumachen. Und ja, wenn es mal lauter wird, kann man sich hinterher auch entschuldigen.

Schule müssen die Kinder dann bald doppelt nachholen.

Genau. Da kommt später sehr viel auf sie zu. Wir können diesen Stoff jetzt nicht mit Gewalt zu Hause schaffen. Hier müssen wir alle nachdenken, und gerade wir Eltern haben eine absolute Schutzfunktion, denn die Kinder und Jugendlichen nehmen auch unsere Sorgen, unsere Haltung und Laune, die Ängste, sehr genau wahr. Wir müssen ihnen schon auch sagen: Alles wird gut, wir bekommen das hin, wir schützen euch!

Das ist nicht immer die Wahrheit.

Es ist unsere Pflicht, nach bestem Wissen und Gewissen, trotz allem, den Kindern gegenüber eine optimistische, zugewandte Haltung einzunehmen.

Wird sich die Gesellschaft verändern?

Das weiß ich nicht. Ich habe einfach die Hoffnung, dass diese Krise vielleicht auch endlich ein radikales Umdenken bei der Klimakrise bewirkt. Diese Solidarität, das Miteinander, das jetzt wächst, sollten wir in die Zukunft retten und nutzen.

Haben Sie als Arzt jetzt mehr zu tun?

Der Bedarf an Hilfe ist schon sehr groß. Das kann ich jetzt aber nur von denen sagen, die wir sowieso schon betreuen. Neue Patienten wird es jetzt eher nicht geben, die kommen aber ganz gewiss dann nach der Krise. Viele Menschen funktionieren jetzt einfach, das ist auch ein Schutz. Aber natürlich lässt sich das nicht so lange durchhalten.

Pubertierende suchen Distanz, Autonomie und sich selbst...
Pubertierende suchen Distanz, Autonomie und sich selbst...
© Getty Images

Was passiert mit den ohnehin Suchtgefährdeten?

Das ist wirklich ein Problem. Ein Online-Süchtiger, der jetzt in sein Zimmer gezwungen wird, das ist wie ein Alkoholiker, der in einen Schnapsladen eingeschlossen wird.

Gibt es Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen?

Das hängt wirklich alles von der Prägung ab, und diese soziale Prägung hält ja doch noch stark an. Es ist schon so, dass Jungs länger am Computer spielen und Mädchen tatsächlich mehr in sozialen Netzwerken hängen. Aber wenn sie wirklich gefährdet sind, dann ist das für alle eine harte Nummer jetzt.

Und im normalen Alltag, wo sind die Unterschiede?

Generell gehen alle verschieden mit solchen Situationen um, die Introvertierten werden sich weiter zurückziehen und vielleicht Nägel abknabbern. Die anderen werden vielleicht schneller laut und wütend. Wenn wir Eltern mit Kindern wie Jugendlichen, Mädchen wie Jungen, cool und nett, einfach zugewandt umgehen, werden die uns das auch spiegeln. Wir bekommen nämlich genau auch das zurück. Und dann können wir uns freuen.

Und wenn ich jetzt 16 Jahre alt bin und verliebt?

Das ist Horror. Hier müssen die Eltern wirklich miteinander reden und schauen, dass die sich treffen können. Liebende kann man nicht voneinander trennen. Das Gute am Verliebtsein ist ja, dass Liebende ohnehin auf soziale Distanz zum Rest der Welt gehen wollen.

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