Social Distancing in der Coronakrise: Wenn die Bedrohung schon im Hausflur lauern könnte
Kicken mit Kumpels? Auf ein Stück Kuchen ins Stockwerk drüber? Freunde, Nachbarn, sie alle stehen vor denselben Fragen. Und ganz eigenen Nöten.
Ich bin im Homeoffice. Irgendwo in Zehlendorf, Hochparterre in einem Mietshaus in einer kleinen Seitenstraße. Folgt man ihr nach vorne ist es wie in der Großstadt, Supermärkte, Kneipen, Restaurants, Busse auf einer großen Straße, auch die S-Bahn ist nicht weit. Folgt man der Straße nach hinten, ist es wie im Dorf, mit der kleinen Grundschule, der Kirche, dem Friedhof, dem Fußballplatz und Wald in der Nähe.
Das Zuhause ist in normalen Zeiten ein Rückzugsort, ein Hort der Geborgenheit und Sicherheit. Jetzt wirkt es so, als habe jemand eingebrochen, wäre in die Privatsphäre eingedrungen, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Die Bedrohung ist so nah, sie ist global und könnte doch schon im Hauseingang stehen. Eine Bedrohung, die jeden Streit banal und existenziell zugleich erscheinen lässt.
Wo gestern noch ein Witz möglich war, lauert heute der bittere Ernst des Lebens.
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Es geht ums „Abflachen“, ums „Zeit gewinnen“
Darf sich Sohn eins mit anderen verabreden und wenn ja, mit wie vielen? Prompt blinkt es in der Eltern-Whatsapp-Fußballgruppe des örtlichen Klubs auf, der ja eigentlich wie alle anderen Vereine des Berliner Fußball-Verbands den Betrieb eingestellt hat: „Wer hat Lust nachher zu kicken, wir treffen uns …“
Die Ehefrau des Homeoffice-Mannes verdreht deshalb die Augen. Sie hatte sowieso gerade die noch immer steiler werdende Infizierungskurve gegoogelt. Und gelernt, aus zig Nachrichtensendungen oder der Tageszeitung, dass es jetzt ums „Abflachen“ geht, ums „Zeit gewinnen“, damit uns nicht das passiert, was in Italien passiert.
Verzicht auf soziale Kontakte, sagt die Ehefrau, sei jetzt eine Art Gesellschaftsvertrag, an den man sich zu halten habe.
Unterricht mit Facetime? Der Sohn lacht höhnisch
Sohn eins, zehn Jahre, der sehr gerne zu seinen Fußball-Kumpels gegangen wäre, mault, Sohn zwei spielt schon wieder sehr existenziell Fifa an der Playstation mit großem Freundeskontakt – natürlich remote.
Mitten im Spiel ruft er virtuell einem Freund zu, der selbst zu Hause hockt: „Mein Lehrer hat gesagt, wenn die Schule zu ist, machen wir trotzdem Unterricht wie zu Schulzeiten – mit Facetime …“ Dann lacht er höhnisch: „Funktioniert eh nicht …“
Im Nachrichtenticker läuft die Meldung, dass Berlins Polizei die angeordnete Schließung von Kneipen und Bars jetzt überwacht.
Das Handy klingelt, ein Freund. Man tauscht sich aus. Ob es nicht doch möglich wäre, im Garten zu sitzen mit eineinhalb Meter Abstand und „auf die ganze Scheiße ein paar Gläser Wein zu trinken“? Mal überlegen.
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Quarantäne! Das mit dem Wein hat sich erledigt
Der Freund sagt dann, dass der älteste Sohn jetzt gerade versuche, aus Madrid nach Hause zu kommen. War auf einer spanischen Insel. Er überlegt, ob er ihn vom Flughafen abholen soll.
Madrid? Ist das nicht schon seit Samstag Risikogebiet?
Das heißt eigentlich, der Sohn müsste direkt in Quarantäne. Der Freund sagt: „Scheiße!“
Wie kommt der dann überhaupt irgendwohin, fragt er. Bus gehe ja wohl nicht, Taxi auch nicht, Führerschein habe er noch nicht.
Das mit dem Wein hat sich jedenfalls erledigt.
Der Freund hatte noch erzählt, dass er gestern seine demente Mutter im Pflegeheim besucht habe. Mit schlechtem Gewissen. Wegen des Kontakts. Es gab deshalb Streit zu Hause. „Ich werde ja wohl noch …“, hat er gebrüllt.
Der Krebs hat gestreut. Und er schämt sich
Ein Nachbar im Haus musste seinen 80-jährigen Vater ins Krankenhaus begleiten, zur Besprechung der Ergebnisse einer Lungenspiegelung. Er habe ihn nur auf Abstand begrüßt, das war schon komisch genug; später aber, als sie wieder vor dem Krankenhaustor standen und klar war, dass ein uralter Prostatakrebs wieder gestreut hat im Körper des Vaters, habe er sich so sehr geschämt, dass er den Vater nicht schon morgens körperlich wie sonst begrüßt habe. Er hat ihn dann lange gedrückt und umarmt.
Das Leben, es lief jetzt in Zeitlupe ab.
Die Sonne scheint an diesem Sonntag, die Berliner Polizei twittert, man möge doch bitte nicht anrufen, wenn man eine Kneipe oder ein Restaurant sehe, in der noch Menschen sitzen würden.
Im Eiscafé ist die Schlange so lang wie immer
Im Homeoffice findet sich immer auch ein Grund, die Arbeit zu unterbrechen. Im Eiscafé um die Ecke ist die Schlange so lang wie immer, wenn das Wetter schön ist. Beim Italiener scheinen auch mindestens so viele Gäste zu sitzen wie an einem verregneten Tag, und am Schlachtensee und der Krummen Lanke treffen auch noch genügend Autos wie eh und je ein, so dass kein Durchkommen ist.
Lauscht man den Gesprächen am See – gibt es nur das eine Thema. Schaut man genau hin zu den Spazierenden, entdeckt man ein betontes, wenn auch unsicheres Ausweichen und auf Abstand gehen.
Im Supermarkt am Samstag hat eine Frau in Seelenruhe den eigenen Einkaufswagen gewischt und desinfiziert, bevor sie sich ins Getümmel gestürzt hat.
Vor dem Haus kommt die Nachbarin mit ihrem Mann vom Spaziergang, sie ist Grundschullehrerin. Sie sagt: „Ich kann dir erst Montag sagen, wie es bei uns in der Schule wirklich gelaufen ist.“ Sie will damit sagen, dass sie es jetzt, am Sonntag, noch nicht wahrhaben will, was laut Plan zu geschehen hat.
„Denken die, wir sind immun?“
Die Nachbarin erzählt, dass es in ihrer Schule die klare Anweisung gebe, den Unterricht am Montag sechs Stunden durchzuziehen. Mit Hofpausen und allem drum und dran. Sie versteht es nicht. Andere Schulen hätten das anders geregelt, klar kommuniziert, dass die Schüler oder Eltern nur kommen sollten, um persönliche Dinge oder Lernpläne abzuholen; sie habe selbst schon letzte Woche alles Unterrichtsmaterial und die Aufgabenhefte verteilt und mit nach Hause nehmen lassen.
Auf jeden Fall hätten sie selbst auch nach der Schulschließung am Dienstag Anwesenheitspflicht, sie von 8 bis 13 Uhr, weil „wir ja dann die Kinder von Polizisten oder Feuerwehrleuten betreuen“. Und übrigens auch die Kinder der Lehrer, die ja wiederum in der Schule sein müssen.
Sie seufzt: „Denken die, wie sind immun?“
Sohn zwei, 15 Jahre, hat die Playstation ausgemacht, um sich ein Eis zu holen. Die Nachbarin fragt, wie es an seiner Schule denn so sei? „Wir machen am Montag Unterricht, hat der Lehrer gesagt.“
Die Freundin landete in Tegel. Niemand sprach sie an
Der Mann der Nachbarin arbeitet in einen großen Hotel, jeden Tag mit zigfachem Besucherkontakt. Der Nachbarin macht „das schon Sorgen“, denn auch ihre Eltern wohnen ja hier im Haus, wenn auch nicht in der gleichen Wohnung. Er lacht. Sie fragt: „Werden die eigentlich auch die Hotels schließen?“
Man redet über dies und das, sie kennt, wie der Freund, auch jemanden, der aus Madrid zurückreiste. Eine Freundin sei gerade von einer Hochzeit wiedergekommen. Von wegen Quarantäne, sagt die Nachbarin. In Tegel sei gar nichts passiert, niemand habe etwas gesagt, keiner habe sie angesprochen. Ist dann nach Hause gefahren die Freundin, sie werden sich so schnell nicht sehen, sagt die Nachbarin.
Im Stockwerk über uns hat die andere Nachbarin Kuchen gebacken, „komm rein, wenigstens auf Abstand und auf ein Stück“. Es gibt auch Kaffee. Der Mann ist Kinderarzt in einer großen Klinik. Morgen wird er wieder sehr früh aufstehen, früher, als er müsste, um im täglichen Krisenstab mit dabei zu sein. Es treffen sich dann Vertreter aller Stationen und besprechen die Lage.
Ein Küsschen zur Begrüßung – und Diskussionen
Seit eineinhalb Wochen machen sie das so. Sie haben Isolierräume eingerichtet, verschiedene Zimmer, die wiederum durch andere Eingänge als die offiziellen zu erreichen sind; die Verdachtsfälle müssen nicht gemeinsam in einem Zelt mit Heizpilz warten, sondern werden einzeln durch Räume geschleust oder geparkt. Noch ginge das, aber „wenn der Ansturm größer wird, dann müssen die Leute am besten im Freien warten“.
Wenn der Ansturm größer wird, wenn es wirklich schlimm wird, dann muss auch er, wie andere Ärzte, überall dort einspringen, wo es nötig ist.
Macht sie sich Sorgen um ihn? „Nö“, sagt die Nachbarin, gibt aber zu, dass sie sich vielleicht eher zu wenig sorge. Gestern habe sie zum Beispiel die sieben Freunde, mit denen sie verabredet waren, auch umarmt und mit Küsschen begrüßt. Darüber gab es eine Diskussion. Sie habe es eingesehen. Das mache sie jetzt nicht mehr. Da reiße sie sich jetzt zusammen. Es fällt ihr so schwer, wie andere es nicht lassen können, die eigenen Finger im Gesicht zu haben.
Keine Gewissheit. Nur Entwicklungen
Der Mann erzählt, dass auch er wie in anderen Krankenhäusern bereits Operationen oder einfache Eingriffe abgesagt habe, um Kapazitäten vorzuhalten.
Der Nachbar wechselt auf seiner Station zwischen der vollen Sicherheitsmontur, die er bei potenziellen Verdachtsfällen überstreift, und dem einfachen Mundschutz für normale Patienten. Er sagt, dass er nicht ängstlich sei, „schon gar nicht, was mich angeht“. Er sagt aber auch, dass es auf gar keinen Fall passieren dürfe, dass sich Ärzte selbst infizieren.
Auf der Kinder-Intensivstation sind täglich mindestens zwei Betten mit Säuglingen besetzt, die ohne Coronaeinfluss an Lungenentzündung leiden. Er geht davon aus, dass nach wie vor Kinder nicht besonders betroffen sein werden. Das sei beruhigend. Andererseits habe ihm sein Chef gerade eine Studie aus Wuhan, China, in die Hand gedrückt, die er erst überflogen habe: Dort habe es auch schwere Krankheitsverläufe bei Kindern gegeben. Kinder, die gestorben seien.
Es gibt in diesen Tagen keine Gewissheit mehr, es gibt nur Entwicklungen.
Sie ist Tierärztin, selbst das Tierfutter wird knapp
Seine Frau, die Nachbarin, ist selbstständige Tierärztin. Ihre Praxis wird wohl auch im Falle eines Ausnahmezustandes geöffnet bleiben, weil die Tierversorgung systemrelevant ist. In Österreich wurde das so entschieden, in Deutschland steht eine solche Entscheidung noch aus.
Die Nachbarin sagt, sie mache sich auch keine Sorgen ums Finanzielle, zur Not habe sie ja auch ihren Mann, aber in der Tat seien in den letzten Tagen immer weniger Leute mit ihren Haustieren gekommen. Sie krault den Kopf ihres eigenen Hundes, ein Zwergdackel. Sie sagt, dass Tierfutter merkwürdigerweise auch knapp geworden sei. Vermutlich werde auch hier, nun ja, gehamstert.
Ihre Kollegin in der Praxis, mit zwei Kindern und einem Mann, der auch im Homeoffice arbeitet, ist dagegen aufgeregter. Das sei Mentalitätssache. Sie habe einfach schneller Angst – Angst vor der großen Wirtschaftskrise. Der Dackel bellt.
Eine Lesung in NRW: Er brauchte das Geld
Im Erdgeschoss lebt ein fleißiger, freischaffender Künstler. Er verdient sein Geld mit Lesungen im ganzen Land. Anfang Februar, sagt er, habe es ihm irgendwie gedämmert, dass da was auf ihn zu rollen könnte, auf seine freie Existenz, die er so liebt. Aber es sei nur ein kurzer Gedanken gewesen, den er weggescheucht habe wie eine lästige Fliege.
Dann sei er noch zu zwei Veranstaltungen aufgebrochen, wie immer mit der Bahn, nach NRW, wo er die „Konferenz der Tiere“ gelesen habe und nach Bayern für „Aus dem Leben eines Taugenichts“.
Im Rückblick nennt es der Nachbar ohne jeden Pathos in der Stimme „meine Reisen ins Epizentrum“. Naiv vielleicht, mindestens fahrlässig, irgendwie die Dinge zu locker nehmend, wie es seine Art ist, sei er gewesen. Er brauche das Geld.
Nach dem Besuch im Epizentrum hagelte es Absagen, aus Hamburg etwa, selbst hier in Zehlendorf, wo er aus „Reisen mit Tucholsky“ gelesen hätte, und wo er hätte zu Fuß hinlaufen können, wurde alles storniert.
Jetzt hätte er Proben, auch mit Musikern, die ihn begleiten. Er fragt: „Wie soll man proben, wenn man nicht weiß, ob es wirklich stattfindet?“
Die einzige Versicherung, die er hat: Seine Hoffnung
Ausfallhonorar? „Nein“, sagt er, dafür seien diese Events zu klein. Und die größeren? Er zögert, er schweigt. Die größeren sollen noch kommen im Frühling und im Sommer. Aber die einzige Versicherung, die er dafür hat, ist: Seine Hoffnung. Und das Gerücht, dass womöglich die Künstlersozialkasse Auffanghilfe auch für Künstler wie ihn leistet.
Doch der Schutzschirm, den die Regierung nun aufgespannt hat, und den Bundesfinanzminister Olaf Scholz von der SPD sehr stolz bei Anne Will erläuterte, um Unternehmen und Selbstständige nicht im Nichts stehen zu lassen, hat Löcher. Rund fünf Millionen sogenannte Solo-Selbständige müssen vermutlich selbst sehen, wie sie über die Runden kommen. Zu ihnen gehört der Nachbar. Die FDP fordert, Freiberuflern auch Bares auszuzahlen. Der Nachbar ahnt, dass er schon bald nicht mehr wissen wird, ob er die Miete zahlen kann.
Keine Polizei werde ihn aufhalten können
Dann sagt er noch, dass eines für ihn jetzt schon ganz sicher sei. Niemand werde ihm verbieten, nach draußen zu gehen, um seine geliebten Spaziergänge an die Krumme Lanke zu machen. Der Nachbar ist auch eine Art Wildschweinflüsterer. Jedenfalls werde keine Ausgangssperre und auch keine Polizei ihn aufhalten können. „Niemals.“
Auf dem gleichen Stockwerk nebenan lebt noch eine Familie mit zwei Kindern. Der Mann arbeitet in einer eher prekären Branche, über die er nicht reden will, die Frau als selbstständige Businesstrainerin und Unternehmenscoach. Für März und April war ihr Auftragskalender voll mit vielen Veranstaltungen in ganz Deutschland. Sie war stolz darauf, dass ihr Geschäftsmodell so gut funktionierte und ihre Angebote so gut ankamen; sie hat hart daran gearbeitet, sich dieses Netzwerk aufzubauen, das sie nun zu tragen schien.
Sie versucht ein Lächeln. Dann kommt die Panik
In zwei Monaten, sagt sie, hätte sie schon einen wichtigen Teil des gesamten Jahreseinkommens einfahren können. Jetzt ist der Sommerurlaub bereits storniert.
Das Virus befiel immer mehr Menschen in Deutschland, und die Nachbarin begann auf dem großen Jahreskalender, der über dem Küchentisch hängt, eine Veranstaltung und einen Workshop nach dem anderen durchzustreichen.
„Mama“, sagte die jüngere Tochter immerhin sehr freudig, „dann musst du ja gar nicht so viel weg!“
„Nein“, sagte die Nachbarin, versuchte zu lächeln und merkte, wie sie erzählt, dass die Panik sich langsam, aber sehr sicher in ihr ausbreitete.